Mit einer öffentlichen Vortragsreihe öffnet am morgigen Freitag, dem 12. Januar, eine Fotoausstellung im Leipziger Bundesverwaltungsgericht. Der Bundesverband der Dolmetscher und Übersetzer (BDÜ), Landesverband Bayern, präsentiert hier Fotos aus dem Nürnberger Prozess von 1945/46, der gegen die deutschen Hauptkriegsverbrecher verhandelte. Dabei liegt der Fokus auf der Arbeit von Dolmetschern und Übersetzern.
Vorab beantwortet Sascha Annisius dazu einige Hintergrundfragen. Er ist Regionalgruppenleiter für Leipzig im BDÜ, freiberuflicher Konferenzdolmetscher sowie Übersetzer für Englisch und Spanisch. Annisius hat die Ausstellung in Leipzig gemeinsam mit seiner Kollegin Mandy Borchardt organisiert. Borchardt arbeitet als freiberufliche Übersetzerin für Englisch und Spanisch sowie Vorsitzende des BDÜ-Landesverbands Ost.
Herr Annisius, wie viele Übersetzer/-innen und Dolmetscher/-innen waren überhaupt beim ersten Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher 1945/46 involviert?
Für die vier Arbeitssprachen gab es drei Teams mit je zwölf Dolmetscher/-innen. In einer Kabine saßen je drei Dolmetscher/-innen. Somit war beispielsweise in der englischen Kabine je eine Person für die Übertragung jeder anderen offiziellen Sprache ins Englische zuständig. Von den drei Dolmetschteams hatte jeweils eines frei. Die anderen beiden Teams arbeiteten abwechselnd: Eines war im Gerichtssaal tätig, während das andere das Geschehen von einem Nebenzimmer aus verfolgte. Die Dolmetscher/-innen übertrugen jeweils meist in ihre Muttersprache.
Vor welchen Herausforderungen stand das Dolmetscher- und Übersetzungspersonal?
Es mussten vier Rechtssysteme in vier Verhandlungssprachen aufeinander abgestimmt werden: Englisch, Russisch, Französisch und Deutsch. Eine der großen Herausforderungen war dabei der Faktor Zeit. Es galt, schnell und effektiv in vier Sprachen zu kommunizieren. Eine neu entwickelte Dolmetschanlage brachte die Lösung. Erstmals arbeiteten Dolmetscher/-innen mithilfe von Mikrofon und Kopfhörer simultan.
Darüber hinaus war und ist das Simultandolmetschen eine enorme geistige und intellektuelle Leistung, zu der beim Nürnberger Prozess auch noch die große psychische Belastung hinzukam. So kam es vor, dass eine junge Dolmetscherin, die kurz zuvor die Gräueltaten der Deutschen in ihrer Heimatstadt selbst erlebt hatte, um die Versetzung aus dem Kabinendienst bat, weil die detaillierte Schilderung der Untaten ihr die schrecklichen Erfahrungen allzu sehr ins Gedächtnis zurückrief.
Welche Bedeutung hatte der Nürnberger Prozess, wenn man ihn im Kontext der Geschichte professioneller Übersetzungs- und Dolmetscherarbeit ansieht?
Den Dolmetscher/-innen und Übersetzer/-innen kam eine tragende Rolle im Verfahren gegen die Hauptkriegsverbrecher des NS-Regimes zu. Spezielle Maschinen wurden konstruiert und nicht von ungefähr wurde das Verfahren zur Geburtsstunde des Simultandolmetschens. Diese Simultananlage wurde von IBM für die Kommunikation zwischen Richtern, Anklägern, Angeklagten, Verteidigern, Zeugen, Sachverständigen und Presseleuten speziell für den Prozess entwickelt. Ein Novum in der Geschichte des Dolmetschens, denn bis dahin war das Konsekutiv-, nicht aber das Simultandolmetschen bekannt.
Die unmittelbare Auswirkung für weitere Entwicklung des Dolmetschens zeigt sich darin, dass Oberst Léon Dostert (1904–1971) mit den zum Simultandolmetschen gewonnenen Erkenntnissen Nürnberg schon im Frühjahr 1946 verließ, um in New York nach dem erprobten Modell und mit erfahrenen Dolmetscher/-innen aus Nürnberg den Dolmetscherdienst der neu gegründeten UNO zu organisieren.
Könnte man sagen, dass es entscheidend dem Dolmetscher- und Übersetzungspersonal zu verdanken war, einen Prozess dieser Größenordnung in weniger als einem Jahr abzuschließen?
Der Nürnberger Prozess hätte ohne das Simultandolmetschen sicherlich einige Jahre länger gedauert, und wer weiß, ob er jemals zu Ende gegangen wäre. Denn kurz danach begann der Kalte Krieg, und von da an fanden die zwei Lager (Sowjetunion und USA) keine gemeinsame Sprache mehr – auch nicht mithilfe von Dolmetscher/-innen.
Wichtiger aber waren die Übersetzer/-innen, die Millionen von Dokumenten durchlesen und ins Englische/Russische/Französische übersetzen mussten, denn als die Alliierten wussten, dass es einen Prozess nach dem Sieg geben würde, musste man auch Archive anlegen, Dokumente und Beweismaterial sammeln.
Der Nürnberger Prozess gilt als „Dokumentenprozess“: Nur Dokumente, die in allen offiziellen Sprachen des Gerichts vorlagen, durften als Beweismittel im Prozess zugelassen werden. Die Übersetzer/-innen saßen zwar nicht im Sitzungssaal, aber ihre Arbeit bildete die Grundlage für den Prozess.
Wissen wir heute mehr über all diese Menschen – wer sie waren, wo sie herkamen, wie sie rekrutiert wurden und im besetzten Deutschland kurz nach dem Krieg lebten?
Ja, es gibt mehrere Biografien über diverse Dolmetscher/-innen (z.B. Wolfe Frank, Richard Sonnenfeld, Siegfried Ramler, Tatjana Stupnikova). Einer der Nachmittagsvorträge unserer Eröffnungsveranstaltung, der des Kurators Dr. Theodoros Radisoglou, wird sich nicht nur mit den Fotografien, sondern auch mit der Geschichte der Beteiligten beschäftigen.
Könnte da biografisch Ihrer Ansicht nach noch mehr erforscht werden?
Absolut! Schließlich wurde bis jetzt zumeist über die Ankläger, Richter und Angeklagte geschrieben. Dr. Radisoglou bereitet eine große Monografie über das Thema vor und die Ausstellung des BDÜ zeigt seit 2000 sehr deutlich, wie wichtig das Simultandolmetschen für den Prozess war.
Denn ohne Simultandolmetschen wäre der Prozess unmöglich gewesen und hätte wohl nie ein Ende gefunden. Es ließe sich aber mit Sicherheit über jede einzelne beteiligte Person und Frage dieses Interviews eine Dissertation schreiben.
Wie sah eigentlich das Geschlechterverhältnis beim Dolmetscher- und Übersetzungspersonal im Nürnberger Prozess aus?
Nicht ohne Stolz erzählte mir der Kurator der Ausstellung, dass von allen Prozessbeteiligten nur unter den Dolmetscher/-innen und Übersetzer/-innen ein ausgeglichenes Geschlechterverhältnis zwischen Männern und Frauen bestand. Ansonsten waren am gesamten Prozess kaum Frauen beteiligt.
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Hintergrund: Im ersten Nürnberger Prozess, dem weitere nachfolgen sollten, wurde unter Führung des Internationalen Militärgerichtshofs der Alliierten vom 20. November 1945 bis 1. Oktober 1946 über 21 persönlich anwesende Funktionäre, Politiker und Militärs aus der Führung des gestürzten NS-Regimes verhandelt. Die Vorwürfe unter anderem: Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie die Planung und Durchführung eines Angriffskriegs. Das Mammut-Verfahren, das als Meilenstein der Rechtsgeschichte gilt, endete mit zwölf Todesurteilen, sechs teils lebenslangen Haftstrafen und drei Freisprüchen.
Zur Ausstellung: Die Ausstellung „Dolmetscher und Übersetzer beim Nürnberger Prozess“ existiert seit dem Jahr 2000 und wird vom 12. Januar bis 22. Februar 2024 im Kuppelsaal des Bundesverwaltungsgerichts in Leipzig zu den regulären Öffnungszeiten (Montag bis Freitag, 08:00 Uhr bis 16:00 Uhr) zu sehen sein, der Eintritt ist frei.
Präsentiert werden 40 Bilder des US-Militärfotografen Ray D’Addario (1920–2011), die das Stadtarchiv Nürnberg zur Verfügung gestellt hat. Die Fotografien legen das Augenmerk auf die Arbeit von Übersetzer/-innen und Dolmetscher/-innen während des ersten Nürnberger Prozesses.
Vortragsreihe: Anlässlich der Eröffnung laden der BDÜ Landesverband Ost e.V. sowie das Institut für Translatologie und Angewandte Linguistik der Uni Leipzig für den 12. Januar ab 14:00 Uhr zu einer Vortragsreihe in den Audimax am Augustusplatz ein. Alle Interessierten sind herzlich willkommen.
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