Als Ende März 13 Arbeiter der Kruppwerke in Essen sterben, haben die deutsch-französischen Beziehungen einen neuen Tiefpunkt erreicht. Noten werden wie Pfeile zwischen beiden Ländern hin- und hergeschossen. Derweil sucht ein jeder nach Wegen aus der finanziellen Not. Während Mord, Raub und Kindesauslegung die Auswege des „kleinen Mannes“ zu sein scheinen, ersucht die evangelisch-lutherische Kirche in Sachsen nach einer Kirchensteuererhebung. Die LVZ, das Parteiorgan der Sozialdemokratie, ist erbost und knöpft sich Christen, Deutschnationale und deutschnationale Christen gleichermaßen vor. Deutschland und Leipzig im April 1923 …
„Blutige Zusammenstöße in Essen“ titelt die LVZ am 03.04.1923. Gemeint sind die Zusammenstöße zwischen Mitarbeitern der Kruppwerke und französischen Truppen, der seinen Anlass in einer unerwarteten Requirierung von zwei Fahrzeugen in den Essener Krupp-Werken hatte. Der französische Leutnant Durieux hatte dafür mit elf Soldaten den Firmenhof betreten.
Das Rumoren der Arbeiter aufgrund dieser Aktion steigerte sich zur geplanten Stürmung der Fahrzeughalle. Weil sich die Soldaten bedroht fühlten, fiel nicht nur ein Warnschuss. 13 Menschen starben. Die Reaktionen fielen in Deutschland erwartbar nationalistisch aus, die Franzosen sahen vor allem die Arbeiter und den Firmenchef Gustav Krupp als Schuldige an. Krupp wurde zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt und sieben Monate inhaftiert, bis die Reichsregierung unter Reichskanzler Gustav Stresemann die Politik des passiven Widerstands aufgab.
In Deutschland entfacht der Vorfall auch eine Debatte, ob nicht aktiver Widerstand – wie ihn die Rechtsparteien fordern – besser als passiver Widerstand sei.
Für die Leipziger Volkszeitung, Parteiorgan der Sozialdemokratie, geht es Anfang April zuvorderst gegen die Kirche und die politischen Feinde: Kommunisten und Deutschnationale. So heißt es über einen Pfarrer, der die Bismarckfeier der Deutschnationalen leitete: „Der schwarz-weiß-rote Geistliche stellte die Deutschnationalen als die armen, verfolgten Unschuldslämmer hin; sie, wie die Bürgerlichen überhaupt, hätten in Sachsen den Schnabel zu halten, wenn sie nicht verdroschen werden wollten. Das ist die Wahrheitsliebe eines Pastors.“
Die Situation stellt sich für die Sozialdemokratie hingegen anders dar. „In Wirklichkeit rüstet die ganze Reaktion zum Angriff auf die Republik, auf die letzten Volksrechte, und es ist eine Dreistigkeit, in dieser Situation es so hinzustellen, als ob die Deutschnationalen diejenigen seien, die jeden Augenblick überfallen werden könnten.“ Außerdem schwärmte Pfarrer Mühlhausen von einem „Volk in Waffen“. So schließt sich der Kreis zum aktiven Widerstand, den die Rechtsparteien forderten.
Zudem hat der „Freie Arbeitsausschuß der sächsischen evangelisch-lutherischen Landeskirche“ einen Antrag an die eigene Synode gestellt, wonach die Kirchensteuer um ein Prozent erhöht werden soll. Die Sozialdemokratie reagiert allergisch, verweist auf Artikel 136, Absatz 3 der „Verfassung des neuen Deutsches Reiches“ in dem es heißt: „Niemand ist verpflichtet, seine religiöse Ueberzeugung zu offenbaren. […]“.
Der Redakteur erklärt außerdem „Die Finanznot der Kirche treibt hier eine seiner seltsamsten Blüten. Im Jahre 4 der deutschen Republik, deren Verfassen besagt: ‚Es besteht keine Staatskirche‘, will klerikale Anmaßung den Volksstaat völlig zu ihrem Büttel machen.“ Den Sozialdemokraten geht es dabei keineswegs um die Steuererhöhung an sich. Das Problem ist eher etwas anderes.
„Dem Arbeitgeber muß kundgetan werden, wie jeder seiner Arbeiter und Angestellten es mit den Religionsgesellschaften hält! Gar mancher bereits Ausgetretene wird dies Geständnis scheuen und lieber wieder zu Kreuze kriechen. Und andere, die aus Gründen innerer Reinlichkeit vor dem Austritt stehen, werden den Schritt unterlassen; denn jeder Betrieb hat dann seine Liste schwarzer Schafe, die ‚Gottlosen‘ werden besonders vermerkt, und wenn ein deutscher Staatsbürger von seiner ‚vollen Glaubens- und Gewissensfreiheit‘ (Art. 135 der Verfassung) Gebrauch macht, kann der Arbeitgeber den Ketzer gehörig foltern. Scheingründe für die schlimmstenfalls verhängte Entlassen werden sich allemal finden.“
Einmal in Fahrt investiert die LVZ auch noch einen dritten Artikel in ihr Verhältnis zur Kirche. „In ihrer Finanznot ist die Kirchengemeinde Connewitz auf einen glorreichen Einfall gekommen. Sie fordert ihre Gläubigen auf, freiwillig die für 1022 erhobene Kirchensteuer jeden Monat noch einmal zu entrichten. Also den 12-fachen Betrag abzuführen, oder auf je 100.000 Mark Monatseinkommen 300 Mark monatliche Kirchensteuer zu zahlen.“ Auf die zukünftige Kirchensteuer kann das selbstredend nicht angerechnet werden. Die LVZ kommentiert lakonisch: „Das Standesamt, das die Austritte annimmt, liegt den Connewitzern sowieso viel näher als das Pfarramt, das die Gelder einnimmt. Hoffentlich kommt da keine Verwechslung vor.“
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Welche Not sich ob dieser finanziellen Schieflage für alle Schichten entwickelte, lassen zwei Meldungen erahnen. Zum einen steht die 23 Jahre alte landwirtschaftliche Arbeiterin Maria Z. vor Gericht, weil sie am 20. Dezember 1922 ihr sechs Monate alte Mädchen, warm angezogen und „in eine wollene Decke gehüllt“ hinter die Markuskirche in Leipzig-Reudnitz gelegt hat. Sie ist nun wegen Kindesauslegung angeklagt. Sie erklärte vor Gericht, dass sie mit dem Kind keine Stelle mehr bekommen konnte.
Der Vater des Kindes, ein Rumäne, sei verschwunden. Das Kind ist zum Glück gefunden und in Waisenhaus gebracht worden. Die 23-Jährige musste für sechs Monate ins Gefängnis. Ein anderes Kind hatte nicht soviel Glück. Am 1. April, also wenige Tage zuvor, ist im Grundstück Thomasgasse 4 der Leichnam eines neugeborenen Mädchens gefunden worden. Es war in weißes Seidenpapier gewickelt und in einem Pappkarton verpackt.
Der Dollar kostet am 20. April 25.750 Mark. Die LVZ kritisiert eifrig den nun eintretenden Wucher. „Das Pfund Auslandsschmalz kostete am Mittwoch 3.800 Mark; gestern wurde in der Markthalle für dieselbe Ware 1.000 Mark mehr für das Pfund verlangt.“
Und zu diesem Zeitpunkt beschäftigt die Öffentlichkeit noch immer der Vorfall bei Krupp in Essen. Die Franzosen in Form von Ministerpräsident Raimond Poincaré haben die deutschen Vorwürfe zurückgewiesen. Die deutsche Reichsregierung ist dennoch irgendwie froh. Es ist die erste Note seit der Ruhr-Besetzung, auf die die Franzosen geantwortet haben.
Der Nationalismus durchdringt nunmehr alle Lebensbereiche, selbst im Leipziger Ratskeller greift er um sich. Als eine Sängergesellschaft aus dem Ruhrgebiet dort Lieder zum Besten gibt, unter anderem auch „Deutschland, Deutschland über alles“, passierte Folgendes:
„Dabei standen die meisten Gäste auf. Unter denen, die sich nicht erhoben, befand sich auch ein Herr aus bürgerlichen Kreisen mit seiner Familie. Er wurde von den ‚besseren‘ Gästen des Ratskellers beschimpft, später gepackt, gestoßen, hinausgeworfen und blutig geschlagen.“ Der Ratskeller ist seit 1922 unter städtischer Regie. Ein Direktor sollte eigentlich auf die Behandlung der Gäste achten, schaute hier aber offensichtlich zu. Die Zeitung fragt: „Ist in den Ratskeller der deutschvölkische Geist eingezogen und droht auch anderen Gästen das Schicksal, Blut mißhandelt zu werden, wenn sie sich nicht dem Terror der Nationalisten fügen?“
„Zeitreise ins Jahr 1923 – das ‚Katastrophenjahr‘ der deutschen Geschichte: Die LVZ wütet gegen Nationalismus, Kirche, kirchlichen Nationalismus und die nationalistische Kirche“ erschien erstmals im am 24.11.2023 fertiggestellten ePaper LZ 119 der LEIPZIGER ZEITUNG.
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