Leipzig bekommt im März wieder einen „Weltflughafen“ zu dessen Eröffnung sogar der Reichspräsident Friedrich Ebert kommt. Ein Überfall in der Weststraße landet vor Gericht derweil 31,5 Prozent der Kinder unterernährt sind und ein Brötchen schon 122 Mark kostet. Immerhin: Der Verband der weiblichen Bureauangestellten kann 25 Jahre Bestehen feiern.
Friedrich Ebert ist tatsächlich nach Leipzig gekommen, um die Messe zu besuchen und, wie die LNN berichten, „den Weltflughafen Leipzig-Mockau zu eröffnen“. Der Flughafen war schlicht geschmückt („Man ist einfacher geworden im verarmten Deutschland“), denn nur eine „leichte Postenkette der Schupo“ und die rote Fahne mit weißen Kreuzen, die den Junkers-Werken gehört, die den Flughafen unterhalten, zeigten an, dass an diesem Mittwoch ein „Weltflughafen“ eröffnet werden sollte.
Zahlreiche Flugzeuge landen an diesem Vormittag in Mockau, unter anderem eines mit dem sächsischen Ministerpräsidenten Buck, ein Presseflugzeug verfehlt die Landebahn und bleibt in der Erde stecken, ehe 11 Uhr der Reichspräsident ankommt, der, wie es so schön heißt, „von den Vertretern Sachsens und der Stadt bewillkommnet wird“.
Aber wieso wird der Flughafen eigentlich eröffnet? Immerhin passierte dies bereits 1913. Darauf verweist auch der Leipziger OBM Dr. Karl Rothe. Doch bei einer Explosion im Februar 1917 ist der einstige Bau völlig vom Erdboden verschwunden. „Mit einem Hoch auf das deutsche Vaterland schloß der Oberbürgermeister seine Ansprache, während alle Anwesenden entblößten Hauptes das Deutschlandlied anstimmten und zum Zeichen der Eröffnung des Hafens die deutsche Marineflagge gehißt wurde.“
Währenddessen freut sich Reichspräsident Ebert, dass trotz der Lage eine Reihe von Städten sich um den Ausbau des Luftschiffverkehrs kümmern. Die Stadt Leipzig ist „wegen ihrer geografischen Lage und als weltberühmte Messestadt geradezu dazu berufen, ein Mittelpunkt des internationalen Luftschifffahrtsverkehrs zu werden“.
328 Sonderzüge sind zur Messe in Leipzig angekommen, die mit 18.000 Ausstellern trotz der schweren Zeit einen neuen Rekord verbuchen konnte. Der Reichspräsident ward halb zwei noch zu einer Feier im Rathaus eingeladen und war am Abend im Palmengarten ebenfalls zu Gast als die Zentralstelle für Interessenten der Leipziger Mustermesse Gastgeber war. Der Abflug des Präsidenten wurde bereits am Mittwochabend im Apollo-Lichtspielhaus im Film gezeigt.
In der Nacht zum Montag ist es passiert. Am Mittwoch fand dann schon der Prozess zum Schuss von der Weststraße statt, als ein Belgier die Waffe gezogen hatte. Der Prozess ist, wie so vieles in dieser Zeit, überdeckt von der Frankophilie im Land. Ein Rechtsanwalt formulierte vor dem Schöffengericht.
„Wenn ein Deutscher in Brüssel diesen Schuß abgefeuert hätte, wäre er zu Mus geschlagen worden. Das Scheibenschießen, das der Angeklagte auf der Straße veranstaltet habe, würde ihm dann gerade so teuer wie eine Flasche Schwedenpunsch zu stehen kommen. Revolverschießendes Gesindel gehöre ins Gefängnis.“ Der Verteidiger des Belgiers beeilte sich dagegen zunächst klarzustellen, dass er sein Verteidigerhonorar einem wohltätigen Zweck überweisen werde, da er als „deutscher Rechtsanwalt keine materiellen Vorteile von einem Belgier genießen wolle.“
Danach spielt er den Schuss zu einer „harmlosen Revolverknallerei“ herunter. Das Gericht verurteilt den 32 Jahre alten Belgier schließlich zu zwei Monaten, zwei Wochen Gefängnis.
So anders sind die Zeiten, dass die LNN detailliert über die Ergebnisse und Berufswünsche der diesjährigen Abiturienten der Thomasschule berichtet. Von den 32 Prüflingen haben alle bestanden, zwei mit I, zwei mit Ib, drei mit IIa und so weiter. Einer wollte Theologie studieren, vier Geschichte, Literaturgeschichte und Philosophie, einer Mathematik, einer Chemik, neun Jura, sechs Volkswirtschaft und Bankfach …
Am Montag, den 19. März feiert der Verband der weiblichen Bureauangestellten 25. Geburtstag. Zahlreiche Ehrengäste sind zum Festakt in den Kammermusiksälen des Zentraltheaters gekommen. Die Vorsitzende Rosa Westphal hielt die Rede und zeigte „wie es trotz aller Anfeindungen immer vorwärtsgegangen ist.“ Sie sagte: „Der alte Glaube, daß Frauen im Berufsleben seelisch und körperlich degenerieren, hat sich nicht bewahrheitet.“ Welch fortschrittliche Erkenntnis im Jahr 1923. Westphal gedachte aller Mitkämpferinnen, „von denen eine Anzahl infolge Verheiratung oder […] durch den Tod abberufen worden ist.“
Derweil versammelten sich Mitglieder diverser Verbände am Sonntag auf dem Augustusplatz, um gegen die Lebensmittelvernichtung durch Brauen und Brennen Stellung zu beziehen. „Es beteiligten sich zahlreiche Jugendliche an dieser Kundgebung, und an Plakaten, auf denen Bier als verpfuschtes Wasser, verunglücktes Brot bezeichnet und das Alkoholverbot gefordert wurde, war kein Mangel. Konkret wurde die Vergeudung von Gerste, Kartoffeln, Zucker und Eiern kritisiert. Ein Redner bezeichnete die Alkoholfrage als ‚den Hebel, mit dem Deutschland wieder emporgerichtet werden könnte‘.“ So ist das also.
Die Leipziger Straßenbahn kann nicht anders. Sie muss Personal entlassen. Aufgrund der Arbeitslosigkeit ist die Zahl der Arbeiterwochenkarten von 35.000 auf 9.000 zurückgegangen. Das bedeutet, dass die Bahnen viel seltener fahren müssen und nun 400 Straßenbahnern gekündigt wird. Mehrere hundert Straßenbahner seien schon freiwillig zurück in ihre alten Berufe gegangen.
Es gibt 20.000 Mark Finderlohn zu verdienen. Was man dafür finden muss? „Eine grau-schwarzmelierte Plüschdecke, 1 graugrünen Gummimantel, eine braune Ledermütze und mehrere andere Gegenstände“. Diese sind neulich aus einer Garage am Roßplatz entwendet worden.
Die Stadt Leipzig hat kein Geld. Wo soll es auch herkommen? Blöd nur, dass von den 81.200 Schulkindern in der Stadt nach den Untersuchungen der Schulärzte im Sommer 1922 (!) 31,5 Prozent unterernährt sind. Das macht rund 25.600 Kinder. Aber das Geld reicht nicht, um allen ein kostenloses Mittagessen in der Schule zu ermöglichen. Die Stadt hat weitere Nahrungsmittel vom Sächsischen Ausschuss für Kinderspeisung zugewiesen bekommen, auch von privater Seite floss Geld und natürlich hat auch der Rat der Stadt die Zuwendungen erhöht.
Dennoch können nur 16.810 und damit rund 9.000 Schüler weniger als nötig ein warmes Essen bekommen. Und dabei ist noch nicht mal einkalkuliert, dass die Zahl der unterernährten Kinder mit Sicherheit in den letzten acht, neun Monaten klar gestiegen sein dürfte.
Per 3. Februar kostete ein Brötchen 122 Mark, eine Mahlzeit „Milchtrank unter Verwendung von Dosenmilch“ 309,50 Mark, einmal Nudeln 110,50, einmal Reis 122, Grieß 87,50, Gräupchen 97, Erbsensuppe 113 Mark. Würde man die 9.000 Schüler mitaufnehmen, würde das täglich (!) 2.070.000 Mark kosten.
In den Leipzig Neuesten Nachrichten freut man sich, dass die Zahl der Schüler, die am Religionsunterricht teilnehmen, wieder gestiegen ist. Das Ersatzfach heißt übrigens „Moralunterricht“. Auch die Zahl der Konfirmandinnen und Konfirmanden spricht eine eindeutige Sprache. Die damals schon bekannte Alternative der Jugendweihe wollten 2.500 Kinder in Anspruch nehmen, während sich über 8.000 konfirmieren lassen wollten.
Erich Zeigner wird sächsischer Ministerpräsident. Sein Stellvertreter und sächsischer Innenminister wird Hermann Liebmann. Beider Namen sollten im Leipzig von heute aufgrund der nach ihnen benannten Straßen und des Erich-Zeigner-Hauses gut bekannt sein. Die LNN attackieren die neue, wie man heute sagen würde, rot-rote Regierung aus USPD und SPD sofort, behaupten, die Kommunisten würden im Ruhrgebiet deutsche Arbeiter hintergehen und mit den Franzosen paktieren. So will die LNN wissen, dass Hermann Liebmann seinen eigenen Genossen mit seiner „sehr unparlamentarischen Art seiner Ausdrucksweise“ auf die Nerven geht.
„Zeitreise ins Jahr 1923 – das ‚Katastrophenjahr‘ der deutschen Geschichte: Ein Weltflughafen für Leipzig und für das ‚verarmte Deutschland‘“ erschien erstmals im am 27.10.2023 fertiggestellten ePaper LZ 118 der LEIPZIGER ZEITUNG.
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