Mit der Ruhrbesetzung verschlimmert sich die politische und wirtschaftliche Krise in der Weimarer Republik enorm. Die SPD fürchtet um den so hart errungenen Achtstundentag, die Ortskrankenkasse der Stadt Leipzig hat schon im Januar ein millionenfaches Defizit auszugleichen. Zeit, die Kassenärzte einzubestellen …
Die wirtschaftliche Situation in Deutschland lässt die SPD um den Achtstundentag fürchten. Schon seit Anfang des Jahres wird dieser in vielen Artikeln vehement verteidigt. Die Angst geht um, man könnte diese Errungenschaft der Novemberrevolution demnächst wieder aufbohren und die Arbeitszeit auf 10 Stunden hochziehen.
„Das Unternehmertum, voran die Schwerindustrie, setzt alle Hebel zur Beseitigung des Achtstundentages in Bewegung. Die Verlängerung der Arbeitszeit soll Wunder bringen. Sie soll uns mit einem Male aus dem wirtschaftlichen Notstand erlösen, soll uns die Leistung der Reparationen ermöglichen, soll der deutschen Industrie wieder die führende Stellung erobern.“
Die LVZ fordert daher, dass, bevor der Achtstundentag abgeschafft wird, genauere Forschungen erstellt werden sollen, die zeigen, ob und wie sich eine Erhöhung der Arbeitszeit niederschlagen würde. „Entscheidend können nur einwandfreie Untersuchungen sein, die jeglicher Tendenz entbehren und aller Kritik standhalten.“
Die Aushebelung des Achstundentages würde auch die Situation am Arbeitsmarkt verändern – konkret wohl verschlechtern. Die LVZ warnt am 20. Januar auf Grundlage der aktuellen Zahlen: „Die Zahl der Arbeitslosen steigt von Tag zu Tag. Für Ungelernte, auch für die Jugendlichen beiderlei Geschlechts sind die Unterbringungsmöglichkeiten äußerst ungünstig, namentlich fehlt es an Dauerstellen.“
Konkret waren in Leipzig im Dezember 1922 13.111 arbeitslos. Besonders in der Baubranche war es trotz des milden Winters schwer, eine Anstellung zu bekommen. Darüber hinaus ist im Sattler und Lederwarengewerbe mit einem Anstieg der Arbeitslosen zu rechnen.
„Bei der Fachabteilung für die Holzindustrie warten 80 Möbeltischler und 100 sonstige Facharbeiter auf Einstellung.“ Auch im Schuhmachergewerbe ist die Lage „andauernd schlecht“. Zur Erinnerung: In Leipzig leben ca. 675.000 Menschen.
Die Berufsberatungsstelle der Stadt hat derweil an die rund 10.400 Schüler, die Ostern 1923 die Schule verlassen werden, einen Fragebogen verschickt. Der Fragebogen soll erfassen, was die jungen Leute zu werden gedenken.
So wollen ¾ der Knaben nur in sieben Berufsgruppen eine Profession erlangen, vorwiegend in der Metallverarbeitung und der Industrie der Maschinen, Instrumente und Apparate, Industrie der Nahrungs- und Genußmittel, die Industrie der Holz- und Schnitzstoffe und die Industrie der Nahrungs- und Genußmitel sowie auf das Bekleidungs- und Reinigungsgewerbe.
Nur jeder 7. will ins graphische Gewerbe, Zitat LVZ: „in Leipzig, der Stadt des Buchhandels. Die Mädchen wollen vorwiegend ins Handels- und Bankgewerbe, konkret als Kontoristin oder Verkäuferin arbeiten, danach ins Bekleidungs- und Reinigungsgewerbe, vor allem Schneiderin. Übrigens ist die fehlende Ahnung, was später einmal werden soll, offensichtlich keine Erfindung der Gegenwart. Jedes dritte Elternhaus hatte keine Idee, was ihr Kind mal werden soll“.
Der 18. Januar ist ein besonderer Tag. Gründungstag des Deutschen Kaiserreichs 1871, Krönung des Königs in Preußen 1701. Die Tage des passiven Widerstands ermuntern den Redakteur der LNN auf diesen Tag und die Zeiten des Kaiserreichs zurückzublicken.
Was er zu sagen hat, ist erstaunlich. Er kritisiert nicht nur, dass der 18.01. im Kaiserreich schnell an „Leuchtkraft“ verlor, weil der 02.09. als Feiertag der Schlacht von Sedan pompöser begangen wurde (und gleichzeitig beschwert er sich, dass in Sedan am 02.09.1870 ja eigentlich gar nichts mehr los war), er stellt auch fest, dass „die Gründungsfeier des Deutschen Reichs“, also die Kaiserproklamation im Schloss von Versailles am 18.01.1871 für mehr Deutsche „als sich damals und später darüber geworden sind, ein befremdliches Gefühlselement angehaftet haben.“
Warum? „Weil sie sich – auf fremden Bogen vollzog.“ Wäre das deutsche Kaiserreich „Im Dom zu Aachen, über der Ruhestätte Karls des Großen, ausgerufen worden“ oder „über den Kaisergräbern des Speyerer Doms“ oder „wenn man vor der ultramontanen (pejorativ für die Zentrumspartei, kurz die katholische Kirche / Anm. d. Red.) Kirchenluft Angst hatte, auf dem Römer der alten Krönungsstadt Frankfurt am Main“, dann wäre der diese Feier tiefer „in die Seele des Volkes“ gedrungen.
In der Folge kritisiert der Redakteur, dass die Beweggründe, die zu dieser Krönung geführt haben, sicher nachvollziehbar waren, aber einen Fehler hatten: „mit einem guten Teile von Bismarcks überlegener Staatskunst tiefer im 18. Jahrhundert zu wurzeln, als ins 20. Jahrhundert vorauszuweisen. […] Ob das 18. Jahrhundert in seiner Art nicht wertvoller war als das 19., ist wohl noch eine offene Frage. Nur eben: wer zu viel achtzehntes Jahrhundert mitnahm auf die Reise durchs neunzehnte, der erleichtert uns damit nicht gerade den Eintritt ins Zwanzigste“.
Gemessen daran, dass die Leipziger Neuesten Nachrichten eine Zeitung rechts der politischen Mitte, also eigentlich aus konservativen, auch monarchistischen, Kreisen war, ist das eine bemerkenswerte Einschätzung. „Und die Gründungsfeier des Reiches ist insofern mit zu viel achtzehntem Jahrhundert belastet gewesen, als zu viel Fürsten dabei waren und zu wenig – Volk“.
So progressiv diese Gedanken zum Tage anmuten, so erschütternd sind die Ausführungen zu einer Betrügerin in derselben Ausgabe, die wiederum Einblick in die Not der Zeit geben.
„In Verbrechen und anderen Vergehen gegen Recht und Gesetz, die nicht unter Anwendung von Gewalt, Rohheit und Körperkraft begangen, sondern mehr mit geistigen ‚Fähigkeiten‘ ausgeführt werden, ist die Frau schon immer dem männlichen Verbrecher überlegen gewesen. Die (!) Frau ist in der Erfindung neuer Tricks geradezu Meisterin. Sie lügt mit einer Dreistigkeit, die dem männlichen Verbrecher schwerfällt.“
Woher diese Gefühle? Der Polizeibericht meldet folgendes über eine Frau, die im Norden der Stadt agierte. „Um den teuren Kaffee-Ersatz auf billige Weise zu erlangen, kam eine Barbiersehefrau auf einen raffinierten Gedanken, den sie auch zur Ausführung brachte. Sie kaufte sich zunächst ein Packen „Seeligs Kornkaffee“, das sie zu Hause vorsichtig öffnete, entleerte und mit Asche füllte und vorsichtig wieder zuklebte.
Als sich ihr Vorrat dem Ende neigte, ging die Frau in ein Geschäft und verlangte ein Päckchen „Seeligs Kornkaffee“. Dies legte sie in ihr Handkörbchen. Dann kaufte sie noch irgendeine Kleinigkeit, worauf sie fragte, was der Kaffee koste.“ Nachdem ihr dann der Preis gesagt worden war, gab sie dem Verkäufer das vermeintliche Päckchen zurück. Es war aber jenes mit Asche gefüllt. Das andere hatte sie eingesteckt. 14 Fälle sind seit Anfang Oktober nun bekanntgeworden.
Außerdem hat die Polizei zwei Männer ertappt, die aus einem Geschäft in der Brüderstraße Schokolade im Wert von 140.000 Mark gestohlen hatten.
Der Arbeitsmarkt leidet bereits unter dem wirtschaftlichen Druck des passiven Widerstands. Verschiedene Branchen arbeiten verkürzt, die Industrie herrscht „allgemeine Zurückhaltung bei der Einstellung von Arbeitskräften“
Die Ortskrankenkasse der Stadt Leipzig hat alle Kassenärzte zum Gespräch eingeladen. Thema? Na klar, die finanzielle Situation der Institution. Problem: Obwohl jeder Arbeiter 1922 42.000 Mark Beiträge zu entrichten hatte, reichte das Geld nicht, um alle Kosten zu decken. Das Defizit beträgt schätzungsweise 60 Millionen Mark.
Zur Erinnerung: Wir befinden uns noch im Januar. Ein Sprecher des Abends war der Vertrauensapotheker der Krankenasse, Herr Apotheker Saemann, der den Kassenärzten eine „oekonomischere Verordnungsweise“ empfiehl, wobei sich der Redakteur beeilte, klarzustellen, dass damit nicht gemeint ist, „daß nun in Zukunft die Krankenkassenärzte weniger oder minderwertige Heilmittel usw. verschreiben sollen“, es geht eher darum, „der Kasse unnütze und leicht vermeidbare Ausgaben zu sparen.“
Offenbar waren die Ärzte bis dato nicht ausreichend über die Preise für Arzneimittel informiert und sollen nun eine Preisliste erhalten. Eine Medizin, der zu der Zeit offenbar „trendet“ ist essigsaure Tonerde, die, im 100 Gramm-Fläschchen 125 Mark kostet. Allein 9 Millionen Mark hatte die Kasse 1922 für diese Medizin in der Flasche zu bezahlen. Dies ließe sich vermeiden, wenn die Ärzte eine andere Medizin mit derselben Wirkweise verschreiben würden.
Klare Entscheidungen trifft auch das Hotelgewerbe in Berlin. Der Verein „Berliner Hotels und verwandter Betriebe“ hat auf seiner Vollsitzung folgende Beschlüsse gefasst: „
- Es darf von jetzt ab an jeden Gast nur eine Hauptmahlzeit mit Fleisch abgegeben werden.
- Butter darf nicht extra zum Frühstück gegeben werden.
- Eier dürfen zum Frühstück ebenfalls nicht gegeben werden.
- Jede Schaustellung von Lebensmitteln in den Schaufenstern, in kalten Buffets usw. ist zu unterlassen.
- Französische und belgische Zeitungen werden von ab nicht mehr gehalten.
- Französische und belgische Banknoten und Werte werden nicht mehr von den Hotels in Zahlung genommen.
- Die französischen und belgischen Weine, Liköre und Lebensmittel werden von den Hotels weder gekauft noch verkauft.“
In Dresden hat ein Hotelier über dem Eingang den Satz „Franzosen sind in diesem Hause nicht erwünscht“ angebracht und seine Bedienung strengstens angewiesen, Franzosen nicht zu bedienen oder zu beherbergen.
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