100 Jahre vor unserer Zeit ist das Leben nicht weniger krisenreich, auch wenn Gefahr und Bedrohung real deutlich größer sind. Die Franzosen besetzen aus Frust über die zu wenigen Reparationsleistungen des Deutschen Reichs das Ruhrgebiet und nehmen sich, was sie wollen – auch viele Frauen.
Ein rechter Demagoge namens Adolf Hitler schart immer mehr Anhänger um sich und marschiert zumindest zwei Straßenecken lang einem Staatsstreich entgegen, die Reichswehr marschiert in Sachsen ein und die Hyperinflation lässt die deutsche Währung schneller verfallen als die Geldscheine gedruckt werden können. 1923 ist das „Katastrophenjahr“ der deutschen Geschichte und die LZ-Zeitreise wirft in mehreren Teilen einen Blick auf das Leben in Deutschland, aber vor allem in Leipzig in dieser Zeit.
Einführend gilt es einen Blick durch die Lupe auf diese massiv wachsende Stadt im Nordwesten Sachsens zu werfen. Nach Zusammenbruch und Revolution infolge des Ersten Weltkriegs ist Leipzig, wie so viele im Deutschen Reich, was man gemeinhin auch als Weimarer Republik kennt, eine Stadt der leeren Mägen. Wie der emeritierte Professor für Neuere Geschichte Ulrich von Hehl in der vierbändigen Leipziger Stadtgeschichte schreibt, waren die politischen Ereignisse, die sich im Reich vollzogen, den meisten Menschen herzlich egal, wenn doch die eigene Lebenssituation nur endlich besser werden würde.
„Die Stimmung war vor den Ereignissen da“, fasst es Hehl mit Blick auf die Novemberrevolution 1918 zusammen. Nur so ist es zu erklären, dass die rote Hochburg Leipzig in den Ereignissen der benannten Revolution 1918 keine Rolle spielt. Der Räterepublik-Befürworter Curt Geyer meinte sogar, man musste aktives Vorgehen erst mühsam wecken, weil sonst gar nichts passieren würde.
Immerhin die Bereitschaft für politische Aktionen vergrößert sich in den Jahren nach dem Ende des Weltkriegs, den man damals noch den großen Krieg nannte, in einem eher unkirchlichen, „säkularkulturprotestantischen“ Leipzig. 1920 brennt das Volkshaus während des Kapp-Putschs und auch das Jahr 1923 wird davon berichten.
Wenn anfangs von einer massiv wachsenden Stadt die Rede war, dann war das auch so gemeint. Die Einwohnerzahl steigt von 604.397 Einwohnern im Jahr 1919 auf 679.159 im Jahr 1925. Dabei spielen natürlich die Eingemeindungen von Großzschocher-Windorf, Leutzsch, Paunsdorf und Wahren eine Bedeutung.
Dennoch sollte man nicht vergessen, dass Leipzig ein viel kleineres Stadtgebiet als heute vorzuweisen hat, was zudem noch deutlich luftiger ist. So gibt es noch kein Zentralstadion, keine DHfK, kein Grünau, keine Franzosenallee und Eigenheime in Probstheida, kein Neuschleußig … Die Stadt ist im Wesentlichen der alte mittelalterliche Kern und die ihn umgebenden Vorstädte und deren industrialisierungsbedingte Expansionen. Sie hat 1923 also genauso viele Einwohner wie derzeit.
Was sie mit dem heutigen Leipzig ebenfalls gemein hat, ist die Wohnungsnot. Die Zahl der Wohnungslosen geht in die 10.000. So genau weiß man es nicht, weil es dafür keine exakten Angaben gibt. Das städtische Wohnungspflegeamt kalkuliert 1922 mit 24.000 Wohnungslosen, andere mit deutlich weniger.
„Unbestreitbar herrschte ein gravierender Wohnungsmangel, der die politische Diskussion zwischen Arbeitervertretern und Hausbesitzern lautstark beschäftigte und dem nicht von heute auf morgen abzuhelfen war“, so Hehl.
Streitfrage ist damals wie heute: Wer baut die neuen Wohnungen? Die linken Parteien forderten, dass die Stadt mehr kommunalen Wohnungsbau betreibt, damit Wohnen nicht profitorientiert ist. Eine Diskussion, die das Jahrhundert offensichtlich überdauert hat. Allerdings ist für uns schon klar, dass sich die linken Parteien im Leipzig der 20er Jahre in einer politisch gespaltenen Stadt, da auch die bürgerlichen Parteien stark waren, durchsetzen werden. Die Krochsiedlung an der Landsberger Straße oder der Rundling in Lößnig sind beredte Zeugnisse dieser Durchsetzungsfähigkeit.
Überhaupt ist der Parteienstreit zwischen SPD und KPD, die sich selbst bekanntermaßen eher ertrugen als miteinander arbeiteten, auf der einen Seite und der nationalliberalen Deutschen Volkspartei sowie der deutschnationalen Rechten, der DNVP zusammen mit der liberalen Deutschen Demokratischen Partei auf der anderen Seite ein dauerhafter Brennpunkt, der auch einen Oberbürgermeister verschleißen wird.
Karl Rothe hatte 1917 den in Leipzig noch heute mindestens dem Namen her gut bekannten Rudolf Dittrich abgelöst. Rothe bezeichnete die Inflationsjahre später als die schwierigsten, da eine geordnete Arbeit in der Verwaltung fast unmöglich gewesen wäre. Einen NSDAP-Ortsverband gibt es seit dem 22. November 1922, der seine Mitgliederzahl bis Februar 1923 auf 212 ausbauen wird.
Immerhin: Arbeit gibt es zumindest im August 1922 noch genug. Die Arbeitslosenzahlen sind niedrig. Was die Zeitgenossen nicht wissen: so niedrig werden sie in der Weimarer Zeit nie wieder sein. Und damit beginnt ein Problem des Jahres 1923 in Leipzig: Das wachsende Heer der Arbeitslosen ist leicht reizbar und von der KPD beeinflussbar, in Leipzig grassiert die Angst vor Unruhen, wie es sie 1921 in der Stadt schon einmal gegeben hat.
Ablenkung von den vielfältigen Krisen des Jahres 1923 können die Leipziger, die es sich leisten können, im Zoo oder in den zahlreichen Kinos finden. Laut dem Historiker Thomas Höpel ist die Kinodichte mit 34 Kinos so hoch wie in Berlin in Relation zur Einwohnerzahl. Gleich 17 werden in den 20er Jahren neu gegründet, 12 schließen aber auch in dieser Zeit. Wer ins Kino gehen will, hat im Viertel rund um den Bayerischen Bahnhof, was damals noch eng bebaut ist, genügend Auswahl.
Und auch der Sport bietet Zerstreuung, von 1921 bis 1923 stellt Leipzig sogar einen Deutschen Fußballmeister. Die Hochzeit des bürgerlichen VfB Leipzig ist allerdings mit Beginn des Ersten Weltkriegs vorbei. Nun dominiert der VfL Leipzig-Stötteritz die Fußballszenerie der Stadt. Nur: Beide Vereine werden nie gegeneinander spielen, denn der VfL gehört dem Arbeiter-Turn- und Sportbund an, der seine eigenen Meisterschaften auch im Fußball durchführt. Stötteritz siegt 1922 im Rahmen des Arbeiter-Turn- und Sportfestes vor 60.000 Zuschauern gegen den BV Kassel 06. 1923 dann gegen Alemannia 22 Berlin, jeweils in Leipzig-Lindenau.
Grundlage dieser Zeitreise sind die Meldungen der damals sozialdemokratischen LVZ und der bürgerlich-konservativen Leipziger Neuesten Nachrichten, hier und da finden sich in dieser Zeitreise auch Meldungen der sachsenweit rezipierten katholischen Sächsischen Volkszeitung. Mark Jones hat zudem mit dem Buch 1923: Ein deutsches Trauma eine sehr auf den Ruhrkampf kaprizierte Chronologie des Jahres vorgelegt, die hier und da eine Rolle spielen wird.
Zudem stehen als digitalisierte Bestände jedem Leipziger Bürger heutzutage die Protokolle der Sitzungen des Rats der Stadt zur Verfügung, auf die allerdings nur über die Zeitungsartikel eingegangen wird. Die Fotos kommen aus den Archiven von Pro Leipzig und vor allem des Stadtarchivs Leipzig.
Steigen wir also ein in ein komplexes, kompliziertes Jahr, dessen Ereignisse für Zeitgenossen und nachkommende Generationen im wahrsten Sinne des Wortes unfassbar waren und dessen Traumata kurz-, mittel- und langfristige Auswirkungen auf Deutschland haben werden. Die Inflationsangst, die den heutigen Einwohnern Deutschlands letztes Jahr, fast 100 Jahre nach der Hyperinflation, begegnete, hat Gefühle bei den Zeitgenossen ausgelöst, die diese ihr Lebtag nicht vergessen und an ihre Kinder weitergegeben haben.
Es scheint, als ob nirgendwo sonst in der Welt die Angst vor der Geldentwertung eine so große Rolle spielt wie in Deutschland. Dazu haben die Ereignisse des Jahres einen unverkennbaren psychologischen Effekt. Die internationalen Demütigungen durch die Besetzung des Rheinlands durch Franzosen und Belgier und die lange Zeit indifferente Haltung der Engländer enden 1940, nach dem vorläufigen Sieg der Wehrmacht gegen Frankreich.
Die darauf folgenden Emotionen beschreibt Nicholas Stargardt in seinem herausragenden Buch Der Deutsche Krieg, als er anhand von Tagebüchern die Reaktionen auf die darauf zielenden Meldungen der Wochenschau in den deutschen Kinos beschreibt. Adolf Hitler war nie populärer als nach dem Sieg gegen Frankreich 1940.
Gleichzeitig war die psychologische Bewältigung der Inflation noch nicht abgeschlossen, als 1929 die Weltwirtschaftskrise über die Deutschen hereinbrach. Zwei Finanzkrisen binnen sechs Jahren verkrafteten diese nicht. Die Enttäuschung, Wut und vor allem das Unverständnis über den Lauf der Welt brach sich Bahn in den Wahlergebnissen des Jahres 1932. Im Juli halten mit KPD und NSDAP zwei extremistische Parteien eine sogenannte negative Mehrheit im Reichstag. Die Mehrheit der Abgeordneten ist gegen die Republik.
All dies kann keiner 1922 vorhersehen als unsere Zeitreise beginnt. Das Jahr, was auch schon nicht leicht war, klingt aus und wir schleichen uns an die Ereignisse heran.
„Kein Weihnachten des Friedens“, das befindet die Leipziger Volkszeitung, damals noch das „Organ für die Interessen des gesamten werktätigen Volkes“ am 23. Dezember 1922. Dabei geht es dem Redakteur gar nicht um die Situation in der Weimarer Republik, auch wenn der Beginn des Leitartikels dies vermuten lässt.
„Zum fünfte Male läuten die Weihnachtsglocken, nachdem das vierjährige Völkermorden, die Götterdämmerung der Kulturmenschheit ihr Ende fand. Noch aber sitzen die Diplomaten in Lausanne beisammen, um die orientalischen Knoten endgültig zur Lösung zu bringen.“
Mit Lausanne ist damit zwar die Schweizer Stadt gemeint, die man allgemeinhin kennt, aber die Konferenz ist nicht zu verwechseln mit der Konferenz 1932, die den Durchbruch bei der Reparationsfrage bringen sollte. 1922 ging es um einen Friedensvertrag zwischen Griechenland und der Türkei, der trotz aller Hoffnungen von Lord Curzon, dem britischen Außenminister, nicht vor Weihnachten zustande kam.
Die Verhandlungen zogen sich bis zum 23. Juli 1923. Erst dann war der griechisch-türkische Krieg beendet. In diesem wollten die Griechen die Schwäche des mit Ende des Ersten Weltkriegs auseinandergebrochenen Osmanischen Reiches für Gebietsgewinne nutzen, wurden aber bei Ankara klar geschlagen. In Griechenland nennt man das Scheitern die „kleinasiatische Katastrophe“.
Im deutschen Reichsrat, dem Äquivalent zum heutigen Bundesrat, ist man vor Weihnachten noch zu einer Einigung für den Staatshaushaltsentwurf 1923 gekommen. Die Etatsumme geht in die Billionen. Ministerialdirektor Sachs sagte, der Entwurf gebe nur ein sehr unvollkommenes und obendrein unzuverlässiges Bild der voraussichtlichen Finanzwirtschaft im kommenden Jahre.
Die LVZ meint: „Im Übrigen bietet der Etatvorschlag ein geradezu trostloses Bild und zeigt mit erschreckender Deutlichkeit das Chaos in der deutschen Finanzwirtschaft. Im Haushaltsentwurf müssen dabei stets die Kosten für die ‚Ausführungen des Friedensvertrags‘ eingestellt werden. Im ordentlichen Etat hat man dafür 64,5 Milliarden Reichsmark, im außerordentlichen Etat 121,9 Milliarden Reichsmark veranschlagt.
Unterm Strich beläuft sich der Anleihebedarf des Reichs für den gesamten Haushaltsentwurf auf 721,6 Milliarden“. Die LVZ konstatiert gemäß ihrer politischen Ausrichtung: „Und angesichts dieser trostlosen Finanzlage hat es die bürgerliche Mehrheit des Reichstags fertiggebracht, das Einkommenssteuergesetz noch zugunsten der Besitzenden abzuändern, anstatt die zahlungsfähigen Kreise schärfer heranzuziehen.“
Gleichzeitig muss sich die Reichswehr des Vorwurfs erwehren, sie hätte Waffen an die „deutschen Faschisten“ verschoben. Man hätte im Reichswehrministerium bereits eine „gründliche Untersuchung“ eingeleitet. „Alle Versuche, eine Verbindung zwischen den Faschisten und der Reichswehr herzustellen, würden mit der größten Schärfe zurückgewiesen“, heißt es ministeriumsseitig.
Fakt ist: Im Jahr 1923 darf sich die SA in München öffentlich mit Reichswehrwaffen zeigen. Mark Jones führt in seinem vorbenannten Buch dazu aus: „Am 1. Mai sahen die SA-Männer zeitweilig wie eine richtige Armee aus. Rund 2.000 Mitglieder versammelten sich in militärischer Formation auf dem Münchener Oberwiesenfeld. Jeder einzelne hatte ein modernes Infanteriegewehr und trug eine deutlich sichtbare Patronentasche.
Es gab separate Einheiten, bei denen jeder drei Handgranaten und eine Pistole unter dem Mantel versteckt hatte. Andere Einheiten waren mit schweren und leichten Maschinenpistolen bewaffnet.“ Außerdem stand ein 12-cm-Feldgeschütz auf dem Feld. Die Waffen hatten die SA-Leute für den Vormittag von der Reichswehr geborgt.
Der spätere Reichsminister und zweitwichtigste Mann im „Dritten Reich“ Hermann Göring kommandierte die 2.000 Männer, die allerdings nicht losschlugen. Es gab niemanden, der in Schussnähe war. Die Arbeiterdemonstrationen fanden woanders statt. Die SA durfte nur mit großem Abstand aufmarschieren.
Einen Einblick in die voranschreitende Geldentwertung gibt die Meldung, dass die SPD kurz vor Weihnachten eine Verdopplung der Alters- und Invalidenrente, der Witwenrente und der Waisenrente gefordert hat. Eine Rentenerhöhung um 100 Prozent also. Davon kann jeder Rentner 100 Jahre später nur träumen. Die Forderung nach Erhöhung kommt aber schon zwei Monaten später, nachdem die Sätze bereits mehr als verdoppelt worden waren.
Demnach stieg die Alters- und Invalidenrente von 7.200 auf 18.000R M – pro Monat. Die SPD hatte ursprünglich schon im Oktober eine Vervierfachung verlangt – „angesichts der geradezu verzweifelten Notlage der Alters- und Invalidenrentner, wie deren Angehörigen und Hinterbliebenen.“
Ein Blick auf Leipzig
„Mütterberatungsstellen sind in den neueinverleibten Vororten Großzschocher und Wahren eingerichtet worden.“ Und auch Kriegsbeschädigte und Kriegshinterbliebenen können sich freuen. Sie erhalten am Donnerstag, dem 28. und Freitag, dem 29.12.1922 Norweger Salzheringe (es kommen circa vier Stück auf ein Pfund) für 250 RM pro Pfund. Das scheint ein günstiger Preis zu sein und sagt damit alles über das Preisniveau am Jahresende 1922 aus.
Und auch über so manches Fehlverhalten: „Während der Krankheit ihrer Mutter, die für ein hiesiges Geschäft Heimarbeiten ausführt, kam ihre Tochter, eine 14-jährige Schülerin, auf den Gedanken, für sich aus diesem Geschäft zugeschnittene Damenhemden, wie sie ihre Mutter zur Bearbeitung erhielt, im angeblichen Auftrage dieser zu entnehmen, da sie keine Möglichkeit hatte, auf ehrliche Art in den Besitz solcher, zu ihrer Konfirmation nötigen Wäschestücke zu gelangen.
Als sie die Ware erhalten hatte, packte sie Reue und Angst und in diesem Zustande habe sie, wie sie behauptet, das Paket mit den zugeschnittenen drei Dutzend Hemden in einen Frauenabort im Wahrenhause Urn niedergelegt und sei nach Hause gegangen. Der Schaden beträgt 72.000 Mark (!). Die Hemden blieben zunächst verschwunden.“
Die Anzeigenseiten der LVZ geben einen klaren Blick auf die Lebensumstände der Zeit, auch wenn hier natürlich nur die Arbeiter angesprochen werden sollen: „Auf Teilzahlung Kleiderschränke, Bettstellen, Sofas, Ruhebetten N. Fuchs, Kurprinzstraße 13“ oder „Sie verkaufen Ihre Brillanten, Platin-, Gold-, Silberwaren, Zähne und Gebisse bei K. Berger Markt 10, Passage, Laden 1. Ein Besuch lohnt sich.“
Silvester ist nah. Für die Leipziger Neuesten Nachrichten, die politisch im bürgerlichen Spektrum der Stadt zu verorten ist, ist von einem „Jahr der Enttäuschungen“ die Rede. „Mit den landesüblichen, überschwänglichen Hoffnungen fing es an.“ Darauf folgt eine Rückschau auf die verschiedenen Konferenzen und die Hoffnung, wieder gleichberechtigt mit den anderen Staaten zu sein.
Wie muss sich diese Außenpolitik der anderen Staaten, vor allem Frankreichs, für Zeitgenossen angefühlt haben? Gerade heute, wo die alleinige Schuld Deutschlands am Ersten Weltkrieg von Historikern wie etwa Christopher Clark infrage gestellt worden ist und die Mitschuld der anderen Kriegsparteien nicht mehr außer Acht gelassen wird, lohnt diese Frage.
Vor dem Ersten Weltkrieg war das Deutsche Reich die zweitgrößte Industrienation der Welt, hatte nur die USA vor sich. Ein wirtschaftlich, sagen wir, kapitalistisch-industriell florierendes Land, in dem der Wohlstand in vielen Häusern Einzug gehalten hat, obgleich die sozialen Unterschiede unübersehbar waren. Doch in Deutschland hatte man Selbstbewusstsein – am Ende natürlich zu viel davon.
Vier Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs waren diese einst ach so selbstbewussten Deutschen weiterhin nur am Katzentisch der Diplomatie, gegängelt von – das wird das Jahr 1923 noch zeigen – rücksichtslosen Franzosen, insbesondere von deren Ministerpräsident Raymond Poincaré.
Bei den LNN ahnt man Schlimmes. „Im Laufe des Jahres wird es Kammerwahlen geben und Poincaré wird alles daran setzen, sich auf einem Raubzuge gegen das wehrlose Deutschland die Plattform zu zimmern, von der aus er, als unangreifbarer Sieger im Krieg nach dem Kriege, die Wahlen nach seinem Willen ‚machen‘ könnte“. Die Konfliktlinie zwischen links und rechts in Deutschland zieht der Redakteur auch schon, als er fordert, dass Deutschland alle Opfer bringen muss, um die Verpflichtungen zu erfüllen.
„Ob wir das mit dem Achtstundentag oder nur mit dem Neunstundentag fertigbringen, ist unsere Sache.“ Den Achtstundentag wird die Linke in Deutschland im Jahr 1923 erbittert verteidigen.
Die LNN haben sich vom Statistischen Amt Leipzig eine Teuerungstabelle erbeten. Kein Vergleich zum nervtötenden Tariferhöhungsgebahren der Jetzt-Zeit. Der Straßenbahntarif ist innerhalb des Jahres 1922 alleine zwölfmal erhöht worden. Eine einfache Fahrt kostete am 18. Februar 1922 2 Mark, mit Umsteigen 3 Mark. Am Ende des Jahres lagen die Preise bei 70 bzw. 80 Mark.
Außerdem wird in dem Artikel „Leipzig im Teuerungsjahr 1922“ auf die bisher unerreichte Anzahl an Streiks im Leipziger Wirtschaftsleben hingewiesen. Schmiede, Klempner, Arbeiter in Wagenfabriken, die Angestellten der Krankenkasse, die Straßenbahner streikten allesamt im Januar. Die Straßenbahner insgesamt drei Wochen.
„Der Betrieb konnte erst zwei Tage nach Beendigung des Streiks aufgenommen werden, da infolge Frost und Schnee die Schienen zugefroren waren.“ Kurz nachdem Straßenbahner begonnen hatten, streikten auch die Eisenbahner. „Die Zufuhr von Lebensmitteln wurde durch die Technische Nothilfe aufrechterhalten. Der Streik endete nach sechs Tagen. Am 1. Juli streikten dann noch die Kellner – für ganze sieben Wochen“.
Doch Zeit für Unterhaltung scheint noch zu sein. „Die Sensation Leipzigs, der im Königs-Pavillon, Proenadenstraße 8, zunächst dreimal vorgeführt wird. Heute Sonntag: Beginn 11 Uhr, morgen Montag: Beginn 11 Uhr und Nachmittag 2 ½ Uhr – infolge des zu erwartenden grossen Andranges ist rechtzeitiges Kommen dringend zu empfehlen. – Der offizielle Spielplan mit dem Hauptschlager: ‚Die Launen der Nelly Burks‘ beginnt heute 8 Uhr, währenddem erst am Neujahrstage um 4:30 Uhr begonnen werden kann. – zur ersten Vorstellung haben auch Jugendliche Zutritt“.
Am 7. Januar werden die Straßenbahnfahrpreise auf 80 bzw. 90 Mark erhöht …
Das Jahr in Leipzig beginnt mit einem Mord. „Am 4. Januar haben der Gymnasiast Horst Röhrig und sein Freund, der Schüler Gerhard Bucksch, geboren am 26.11.1906 in Breslau, die elterlichen Wohnungen in Leipzig verlassen, um eine Wanderung zu unternehmen. Röhrig ist am nächsten Tage nachmittags am Südende der Harth (bei Zwenkau) tot aufgefunden worden.
Wie die Leichenöffnung ergeben hat, ist er durch eine Schußverletzung des Gehirns ums Leben gekommen. Ob Absicht oder Fahrlässigkeit vorliegt, ist zurzeit nicht festzustellen. Im Verdacht der Täterschaft steht sein Begleiter Bucksch. Es wird gebeten, ihn festzunehmen und die Kriminalpolizei Leipzig sofort zu benachrichtigen.“ Ausgang unbekannt …
In der nächsten Ausgabe reisen wir weiter durch die Zeit …
„Zeitreise ins Jahr 1923 – das „Katastrophenjahr“ der deutschen Geschichte: Hyperinflation, Krisen und Krawalle“ erschien erstmals im am 30. April 2023 fertiggestellten ePaper LZ 112 der LEIPZIGER ZEITUNG.
Sie wollen zukünftig einmal im Monat unser neues ePaper erhalten? Hier können Sie es buchen.
Keine Kommentare bisher
1923 das „Katastrophenjahr“ – wurde es in Sachsen erst recht, und zwar durch den sogenannten Sachsenschlag (danach Thüringen). Die Spezialdemokraten hatten schon immer ein Näschen für Demokratie.
Haffner fetzt.
Mahlzeit