Kirchenbauwerke gehören in Mitteldeutschland zu fast jedem Ort. Im Alltag sind sie bekannt als Wahrzeichen, Ortsmittelpunkt oder Orientierungsmarke, sie haben architektonisch, kunsthistorisch und regionalgeschichtlich vielfältige Bedeutung. Doch die Zukunft vieler Kirchen ist bedroht: Dutzende von ihnen haben ihre Funktion verloren, einige sind bereits spurlos aus dem Ortsbild verschwunden.
Zeit zur Erinnerung an verschwundene Kirchen – und was mit ihnen unwiderruflich verloren gegangen ist.
Langenstein ist ein kleiner Ort mit rund 1.800 Einwohnern, zwischen Blankenburg (Harz) und Halberstadt gelegen, deren Ortsteil Langenstein seit 2010 ist. Wie jedes Dorf, das in früheren Jahrhunderten auf sich hielt, hatte Langenstein seine eigene Kirche: St. Nikolai – auch Nikolaikirche genannt – hieß das Gotteshaus.
1888 wurde es mit einem Fest eingeweiht. Es gab einen Vorgängerbau, der war in die Jahre gekommen; die Kirchgemeinde hatte sich zum Neubau entschlossen. Viele Jahrzehnte war von nun an die kleine, stolze Kirche ein Wahrzeichen und geistliches Zentrum im Ort.
Kein Bauwerk übersteht die Zeit schadlos ohne Ausbesserungen und Instandhaltungen. So auch in Langenstein. Als der Zahn der Zeit am Kirchlein nagte, wollte die Kirchgemeinde gegensteuern.
Doch sie durfte nicht: Ihre Bitt-Anfragen in den 1970er Jahren nach Material zur Reparatur des Kirchendachs wurden DDR-staatlicherseits nicht bewilligt. Baumaterial aller Art war im selbsternannten „Arbeiter-und-Bauern-Staat“, wie so vieles andere ebenfalls, Mangelware – und nur auf Zuteilung und mit Genehmigung zu bekommen. Ab einem Umfang von 1.000 DDR-Mark musste eine Baugenehmigung beantragt werden.
Als die Materialbeschaffung schließlich gestattet wurde, wurde die Finanzierung versagt. In das undichte Dach drang weiterhin Regenwasser ein, und der Hausbock hatte das Holz in der Kirche geschädigt.
Die staatliche Bauaufsicht war es schließlich, die sich berufen fühlte, der Kirchgemeinde die Entscheidungs-Alternative aufzuzwingen, die tatsächlich keine war: vollständige Instandsetzung der Kirche – oder Totalabbruch. Ob die Bauaufsicht dies aus eigenem Antrieb tat oder dazu den Auftrag bekommen hatte, ist unklar. Klar war jedoch unter den damaligen Umständen, dass die vermeintliche Alternative in Wirklichkeit eine getarnte Abriss-Verfügung war.
Denn die Kirchgemeinde hatte weder für Variante A noch für Variante B das Geld. So war sie aufgrund dieser Umstände gezwungen, das reparaturbedürftige, doch erhaltenswerte und alles andere als abrissreife Gotteshaus am 11. August 1975 an die Gemeinde Langenstein zwangsweise zu verkaufen.
1977 – also 89 Jahre nach ihrer Erbauung – wurde es gegen den Willen der Kirchgemeinde gesprengt und dem Erdboden gleichgemacht. Bei einer Dorfkirche dieser Größenordnung eine nach bisheriger Quellenlage DDR-weit beispiellose Vorgehensweise. Womöglich wurde der Kirche zum Verhängnis, dass sie zu nahe am nun sozialistischen Rathaus stand …
Bitteres Ende dieser kläglichen, realsozialistischen Provinzposse im damaligen DDR-Bezirk Magdeburg (wo auf staatlichen Druck in der Bezirkshauptstadt seit 1951 zehn kriegsbeschädigte Kirchen und 1970 im benachbarten Halberstadt die Paulskirche gesprengt wurden): Den Verkaufspreis diktierte die Käuferin, die Gemeindeverwaltung Langenstein, der Kirchgemeinde. Es war auf den Pfennig genau die Summe der Kosten, die die Kommune für den Abriss verauslagt und der Kirchgemeinde in Rechnung gestellt hatte.
Das kleine Gotteshaus diente Generationen von Langensteinern regelmäßig zur Andacht sowie zu Ostern, Pfingsten und Weihnachten als Stätte festlicher Begegnung. Es war vertrauter, heimatlicher Treffpunkt für Taufe und Konfirmation, für Trauung, Silberne und Goldene Hochzeit und für den Heimgang Hunderter Bürger.
Es war Ort der Gemeinsamkeit für Andacht und Hoffnung, für Zuversicht und Freude, für Trauer und Leid. Und es war nicht zuletzt ein Wahrzeichen des Dorfes.
Doch falls damals jemand auf das Ende des protestantischen Glaubens in Langenstein spekuliert haben sollte, so irrte sich der: Das kirchliche Gemeindeleben ging weiter. Das einstige Wohn- und Musikzimmer des Pfarrhauses wurden zum Gemeinderaum, wo seitdem Gottesdienste stattfanden.
Ab 2001 durfte die Kirchgemeinde zu großen Gottesdiensten die örtliche römisch-katholische Franziskus-Kapelle mitnutzen.
Auch gab es die Idee, an die katholische Kapelle einen evangelischen Glockenturm anzufügen. Die Glocke aus dem Jahr 1694 war ein Geschenk der Altstadt-Gemeinde Magdeburg an Langensteins St.-Nicolai-Gemeinde.
Am 15. Dezember 2003 wurde der Glockenturm vom evangelischen Bischof Axel Noack und vom katholischen Pater Petrus von der Huysburg eingeweiht. Seitdem erklingt die altehrwürdige Glocke wieder regelmäßig.
Die Kapelle wurde jahrelang von beiden Kirchgemeinden simultan genutzt, und es gab auch ökumenische Gottesdienste.
Als sich die römisch-katholische Kirche aus Langenstein zurückzog, nutzte die evangelische Gemeinde das Angebot der Katholiken und erwarb die Kapelle im Jahr 2019. Seitdem ist sie das evangelische Gotteshaus des Ortes.
Der Altar und ein Teil der Kanzel der gesprengten Kirche fanden in der Dorfkirche Anderbeck ein neues Zuhause, das Taufbecken in einer Kirche in Stendal.
Koordinaten: 51° 51′ 10,2″ N, 10° 59′ 11,4″ O
Quellen und Links:
https://de.wikipedia.org/wiki/St._Nikolai_(Langenstein)
https://www.ev-kirche-halberstadt.de/hbs/kirchen/langenstein.php
Hinweis: Aus urheberrechtlichen Gründen muss dieser Beitrag ohne Foto der historischen Kirche auskommen. Solche Fotos finden sich unter https://www.kirchenkreis-halberstadt.de/kk/kirchen/Ehemalige-Kirche-St-Nikolai-in-Langenstein.php”
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