Mit dem schönen Stichwort „Sensationsfund“ lud das Stadtarchiv am Freitag, 1. Oktober, die Presse ein zum Termin ins Haus auf der Alten Messe. Da und dort wurde schon spekuliert: Findet sich jetzt gar eine noch ältere Gründungsurkunde für Leipzig? Aber dem war natürlich nicht so. Manchmal sind Sensationen auch nur kleine Schnipsel in allen Bucheinbänden, die sich dann bei genauerem Hinschauen als Reste einer richtig alten Handschrift entpuppen, die wohl in den 820er Jahren im Kloster Fulda entstand. Richtig gelesen: 820er Jahre.
Gefunden im Einband eines Leipziger Leichenbuches mit den vom Leipziger Ratsleichengräber verzeichneten Toten der Jahre 1639 bis 1642. Und dass das Fragment überhaupt gefunden wurde, hat mit einem Pilotprojekt zu tun, das das Stadtarchiv 2020 mit der Universitätsbibliothek Leipzig gestartet hat. Dort kennt man sich mit alten Handschriften nämlich aus. An der Unibibliothek ist eines von sechs deutschen Handschriftenzentren angesiedelt.
Und Dr. Christoph Mackert ist Experte auf dem Gebiet der alten Handschriften und hat auch an der Uni-Bibliothek schon etliche solcher Funde machen können, als man dort begann, die alten Einbände der gesammelten Bücher genauer unter die Lupe zu nehmen. Denn – wie er so schön sagt – die komplett erhaltenen mittelalterlichen Handschriften sind selten. Aber Fragmente gibt es jede Menge. Eigentlich eine Katastrophe.
Denn dass diese Handschriften heute fast nur noch als Fragmente erhalten sind, hat mit der Auflösung der Klöster während der Reformation zu tun. Manchmal gelangten die Bestände zwar in Rats- und Universitätsbibliotheken. Oft wurden sie aber auch einfach verramscht und makuliert und weil sie aus haltbarem Pergament bestanden, waren die Buchbinder geradezu begeistert, denn aus diesem stabilen Pergament konnte man herrlich haltbare Buchumschläge machen. So kamen wertvolle alte Schriften in Fragmentform auch in die Einbände von Leipziger Ratsschriften.
Oberbürgermeister Burkhard Jung und Archivdirektor Dr. Michael Ruprecht haben das Pergament am Freitag erstmals der Öffentlichkeit präsentiert. In den Beständen des Stadtarchivs befinden sich zahlreiche Akten und Geschäftsbücher, deren Einbände aus wiederverwerteten mittelalterlichen Pergamenthandschriften gefertigt wurden. Um die wertvolle Ressource Pergament zu sparen, wurde sie früher häufig recycelt.
Auch das Wort „entwertet“ kommt Mackert über die Lippen. Und genau das ist ja damals passiert: Die wertvollen Klosterbibliotheken, in denen oft auch das Wissen der Antike aufbewahrt war, wurden auf einmal völlig wertlos. Der neue Buchdruck hatte das Handschriftenzeitalter beendet. Und so zerschnitten die Buchbinder mit Wonne die alten Pergamente und bastelten Bucheinbände daraus.
Woher stammt das Pergament-Fragment?
Aber das beantwortet die Frage noch nicht, wie ausgerechnet eine Handschrift aus dem alten Reichskloster Fulda nach Leipzig kam.
Oberbürgermeister Burkhard Jung zeigte sich am Freitag jedenfalls begeistert: „Nun ist das passiert, was ich insgeheim schon beim Umzug des Stadtarchivs vor zwei Jahren erwartet habe: ein Sensationsfund. Das zeigt, wie ungemein wichtig und fruchtbar es ist, die Quellen unseres Archivs für Wissenschaft und Forschung zugänglich zu machen.“
Die kleine Gruppe von Spezialwissenschaftlern konnte das Fragment erstaunlich schnell identifizieren. Es gehört zu einer Handschrift, die im zweiten Viertel des neunten Jahrhunderts in der Reichsabtei Fulda entstanden ist – und es ist nicht das Einzige in Leipzig.
Dr. Christoph Mackert dazu: „Dieser Fund zeigt auf ganz besondere Weise Querbeziehungen zwischen den Beständen des Stadtarchivs Leipzig und der Universitätsbibliothek, denn von derselben Handschrift haben sich in der UB weitere Fragmente erhalten, die 1927 als Schenkung des Leipziger Professors Eugen Mogk eingegangen waren. Bislang wussten wir nicht, woher Mogk diese bedeutenden Stücke hatte. Nun ist klar, dass sie wohl ebenfalls in Leipzig gefunden und abgelöst wurden. Dank des neu gefundenen Fragments wissen wir nun auch, wann die Handschrift aus Fulda nach Leipzig kam und dass sie dort für Einbandmaterial makuliert wurde. Alle Puzzleteile rücken plötzlich an ihren Platz.“
Nach eingehender Untersuchung durch Professor Tino Licht von der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg lässt sich nun eindeutig sagen, dass alle Leipziger Fragmente aus einer Handschrift stammen, die den Genesiskommentar des bedeutenden Klerikers und Universalgelehrten Hrabanus Maurus (gest. 856) überliefert. Dieser war Abt des Klosters, als die Handschrift in Fulda verfasst wurde.
Die Bruchstücke überliefern wahrscheinlich Reste des autornahen Hausexemplars des Hrabanus-Kommentars, was sie umso kostbarer macht. Erkennen lässt sich das an der verwendeten Schriftart, die damals allein noch in Fulda verwendet wurde und sich von der im damaligen Frankenreich benutzten fränkischen Minuskel deutlich unterscheidet.
Über die Schrift wurde Fulda als Herkunftsort genauso eingekreist wie der Entstehungszeitraum. Und damit auch die Nähe zu Hrabanus Maurus, von dem dieser Text – ein Kommentar der Genesis – wohl stammt. Zumindest muss das Pergament zu seiner Zeit in seinem direkten Umfeld entstanden sein.
Wie aber kam das Pergament nach Leipzig?
Was aber noch nicht wirklich erklärt, wie das Pergament ausgerechnet nach Leipzig kam. Aber Mackert hat da so einen Verdacht. Denn darauf deuten ja auch die Jahreszahlen des Leichenbuches hin. Der Verdacht fällt auf den Dreißigjährigen Krieg. Denn im Dreißigjährigen Krieg, genauer: im Jahr 1631, wurde die Klosterbibliothek in Fulda geplündert.
Mackert vermutet, dass das Buch von einem der beteiligten Soldaten mitgenommen wurde – da die Hessen ja mit den Sachsen verbündet waren – und auf diese Weise mit nach Leipzig kam, in dessen Nähe ja 1632 die Schlacht bei Lützen stattfand.
Da stellt man sich einen Söldner vor, der stolz ein scheinbar wertvolles Buch mitschleppt. Kann das sein?
Aber Wikipedia hält noch einen anderen möglichen Weg bereit, denn da ist zu lesen: „Während des Dreißigjährigen Kriegs besetzten 1631 Truppen der benachbarten protestantischen Landgrafschaft Hessen-Kassel das Gebiet des Hochstifts Fulda. Landgraf Wilhelm V. erhielt Fulda als schwedisches Reichslehen von König Gustav II. Adolf übertragen und regierte das Stiftsgebiet als Fürst von Buchen. Fürstabt Johann Bernhard Schenk zu Schweinsberg musste fliehen und starb 1632 während der Schlacht bei Lützen.“
Das heißt: Das Buch könnte auch auf der anderen Seite der feindlichen Linien nach Leipzig gekommen sein, nicht mit den Hessen und Sachsen auf der Seite König Adolfs, sondern auf kaiserlicher Seite. Denn Johann Bernhard Schenk zu Schweinsberg begleitete nach seiner Vertreibung aus Fulda erst die kaiserlichen Truppen unter Tilly, dann auch die unter Wallenstein.
Und so kam er mit den kaiserlichen Truppen auch nach Lützen, wo ihn das Schicksal ereilte: „In der Schlacht bei Lützen wurde Johann Bernhard Schenk zu Schweinsberg, der die Schlacht am Rande des Schlachtfelds beobachtete, von einer verirrten Kugel tödlich getroffen“, heißt es auf Wikipedia.
Das klingt eigentlich logischer, dass ein Mann wie Schweinsberg die aus theologischer Sicht natürlich wertvolle Schrift des Hrabanus Maurus mit sich führte. Und dass man sich nach seinem Tod zwar um seinen Leichnam kümmerte. Aber wer wird sich um das Hab und Gut gekümmert haben, das er mit sich führte? Es klingt eigentlich logischer, dass die Handschrift auf diese Weise auf den Leipziger Markt kam. Und da sie niemand lesen konnte, freute sich ein Buchbinder über neuen Materialnachschub.
Dr. Michael Ruprecht, Direktor des Leipziger Stadtarchivs, jedenfalls freut sich, denn so ein altes Dokument war im Stadtarchiv bislang nicht nachgewiesen worden: „Die Geschichte unserer Stadt wird durch den Fund nicht älter, aber es ist doch etwas ganz Besonderes, diese Handschrift einer der bedeutenden Persönlichkeiten der Karolingerzeit in unserem Magazin zu wissen. In den kommenden Jahren soll die Verzeichnung und Auswertung der anderen Einbandfragmente in Kooperation mit dem Handschriftenzentrum erfolgen und wir dürfen sicherlich auf weitere spannende Funde hoffen.“
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