LeserclubSitte und Moral haben auch Ende des 19. Jahrhunderts Durchsetzungsprobleme. In Plagwitz werden auf abenteuerliche Art und Weise Briefmarken gestohlen, in Großzschocher schnappte ein ehemaliger Zuchthäusler elf Pfund Fleisch aus der Auslage und in Barthels Hof wird ein Comptoirist hinterrücks mit dem Hammer drangsaliert. Aber die Polizei hat schon eine Spur, weil Räuber auch schon damals dumm sind. Doch werden sie die beiden fassen?

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In Plagwitz wird zurzeit einiges gestohlen. Ein „hier wohnhaft gewesener Handarbeiter“ stahl eifrig Briefmarken aus dem Laden eines „hiesigen Geschäftsmannes“. Er ist dabei „in einer Art und Weise vorgegangen, die von Gaunern oft angewendet wird.“ Er hat den Ladeninhaber immer geschickt, Waren aus einem anderen Raum zu holen, um sich dann in dieser Zeit in den Regalen des Raumes, in dem er verblieb, zu bedienen. Cleveres Kerlchen. Und am Sonnabend Abend in der siebenten Stunde erwischte ein Schutzmann einen Fleischdieb. „Der Betreffende, ein hier seit kurzem wohnhafter, wegen Diebstahls wiederholt und zuletzt mit Zuchthaus vorbestrafter Handarbeiter aus Großzschocher“ wollte in der Fleischerei nicht so lange warten und schnappte „ein ca. 11 Pfund schweres Stück Fleisch vom Fenster des Ladens“. Dumm nur: Ein Schutzmann stand vor dem Fenster und verfolgte den Dieb. Der ließ das Fleisch fallen, um schneller voranzukommen. „In demselben Augenblick aber wurde er vom Schutzmann erfasst und nach der Wache gebracht.“ Fleischklau 2015? Unvorstellbar.

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So gefährlich war es mal am Schleußiger Weg. „Am Sonnabend Abend kam ein Kutschgeschirr auf der Fahrt von hier nach Leipzig in der Nähe des Kirchwehres vom Wege ab und geriet in den zugefrorenen Flutkanal. Das Eis brach durch und Kutsche und Pferd verschwanden im Wasser. Während es gelang, den Wagen aus den Fluten herauszubringen, ertrank das Pferd. Das Geschirr gehört einem Leipziger Schmiedemeister.“ Der Schleußiger Weg war damals nur im Trockenen eine gescheite Verbindung nach Leipzig und vor allem gab es die Brücken auf dem Höhenniveau wie wir es kennen, noch nicht. Was mit dem Geschirrführer geworden ist, ist nicht bekannt.

Das Dorf Schleußig um 1885. Nördlich die angelegte Könneritzstraße samt Nebenstraßen. Quelle: Stadtarchiv
Das Dorf Schleußig um 1885. Nördlich die angelegte Könneritzstraße samt Nebenstraßen. Quelle: Stadtarchiv

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Auftragsvergabe einmal anders. Der Gemeinderat zu Lindenau schreibt im Wochenblatt vom 28. Januar 1886 einen Auftrag aus. „Submission. Wir beabsichtigen einen Reparaturbau im Grundstück Schlossergasse Nr. 10 und sind die Maurer-, Zimmer-, Maler- und Dachdeckerarbeiten im Submissionswege, jedoch unter Vorbehalt der Wahl unter den Bewerbern zu vergeben.“ Der Satz ist wirklich so formuliert! „Auf diese Arbeiten reflektierende Herren Gewerken werden ersucht, Blanquets im Gemeindeamt, Zimmer 4, zu entnehmen und dieselben bis 4. Februar, mittags 12 Uhr ausgefüllt, versiegelt und mit der Aufschrift: ‚Arbeiten Nr. 19’ ebenda wieder abzugeben. Der Gemeinderat. Queck.“

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Der nächste Turnverein zieht für das Jahr 1885 Bilanz und auch der Plagwitzer scheint im Ort tief verwurzelt gewesen zu sein. „Der ‚Männerturnverein’ hat im vergangenen Jahre, an zusammen 212 Abenden, teilweise in zwei, teilweise, während der Wintermonate, in drei Abteilungen geturnt und hat die geselligen Zusammenkünften, einigen Bällen und verschiedenen Abendunterhalten auch in fröhlicher Arbeit und heiterm Lebensgenuß seine Schuldigkeit gethan.“ In Zeiten in denen an Fußballvereine noch lange nicht zu denken ist, dominiert das Turnen. Im Männerturnverein Plagwitz gibt es noch eine Fecht- und eine Gesangsabteilung. Und offenbar eine starke Verbindung zur Familie Friesen. „Am 26. September feierte der Verein gemeinschaftlich mit den Nachbarvereinen hier den 100jährigen Geburtstag Friedrich Friesens in erhebender Weise.“ Außerdem feierte der Verein im Mai 1885 sein 25jähriges Stiftungsfest. „Als dauernde Erinnerung an dies 25jährige Stiftungsfest wurde dem Vereine die vom Vorsitzenden im Verein mit Freunden begründete Friesenstiftung mit einem Grundkapital von 1670 Mark übergeben.“ Um welchen Friedrich Friesen es sich handelt, ist nicht klar. Der Freiheitskämpfer wäre 1884 und nicht 1885 100 Jahre alt geworden. Andererseits begründete Friesen die deutsche Turnkunst gemeinsam mit Turnvater Jahn…

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Ein Kriminalfall allererster Güte nimmt seinen Anfang im Comptoir der Dähneschen Weinstube in Barthels Hof in Leipzig. Das Wochenblatt bittet um Mithilfe. Der dort arbeitende Comptoirist, so etwas wie ein Verkäufer, ist von einem Unbekannten hinterrücks überfallen worden. Als sich der Mann zum Geldschrank drehte, schlug ihn der unbekannte Kunde mit dem Hammer dreimal auf den Kopf. Als der Comptoirist um Hilfe rief, flüchtete er, ließ allerdings seinen Hut zurück in dem dummerweise ein Stück Zeitungspapier steckte („wohl um ihn enger zu machen“), auf dem ein – sein? – Name stand. Die Polizei bittet nun um Mithilfe und hat auch schon die Namen von zwei Verdächtigen an die Presse geben. „Die Personalbeschreibungen der beiden Verdächtigen wird wie folgt gegeben: Georg Reinhold Melzer, geboren am 7. Juni 1866 in Volkmarsdorf, nach seiner im Mai 1885 erfolgten Entlassung aus der Strafanstalt Sachsenburg in hiesiger Gegend, zuletzt in Dölzig und Lindenau aufhältig gewesen […] und Ludwig Bernhard Zehne, geboren am 20. Juni 1862 in Lindennaundorf, zuletzt in Leutzsch und Lindenau aufhältig gewesen“. Datenschutz war damals nachrangig. Die Beweislast ist jedenfalls erdrückend, weiß das Wochenblatt. „Melzer ist in der Nacht vom Dienstag zum Mittwoch in die an hiesiger Erdmannstraße (dieselbe Straße wie heute/Anm. des Autors) gelegene Wohnung seines Bruders, der eben jetzt eine Strafe wegen Diebstahls abbüßt, ohne Kopfbedeckung gekommen, hat daselbst sich bei seiner Schwägerin bis 9 Uhr morgens aufgehalten und sich dann unter Mitnahme einer defekten angeblich schwarzseidenen Mütze, die seinem Bruder gehört, entfernt.“

Doch soviel man auch weiß, Melzer und Zehne sind flüchtig.

Noch mehr Zeitreise in der Artikelserie Leipzig 1914

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