Am Montag, 13. April, gibt es einen ganz besonderen Spaziergang zur Erinnerung an das Ende der NS-Zeit in Leipzig. Der Schneeblumen-Gedenkweg ist den 1.250 ungarisch-jüdischen und den 250 französischen Frauen gewidmet, die Sklavenarbeit in der deutschen Rüstungsindustrie und beim Straßenbau verrichten mussten und am 13. April 1945 auf einen Marsch Richtung Theresienstadt getrieben wurden.
Vom ehemaligen KZ Außenlager Wolfswinkel im Equipagenweg geht es in mehreren überschaubaren Wegabschnitten mit musikalischen Stationen unterwegs über Dölitz, Lößnig und Probstheida nach Stötteritz. Unterstützung hat das Projekt durch die Initiative Leipziger Notenspur.
Entlang des Weges erklingt an 19 Stationen Musik der Gefangenen – darunter in Markkleeberg vom Chor des Hildebrand-Gymnasiums, in Stötteritz vom Gemeindechor der israelitischen Religionsgemeinde, in der Sötteritzer Scheune zum Abschluss Gesang von Gemeinderabbiner Zsolt Balla, sowie unterwegs Klarinette, Bratsche, Flöte, Fagott, Geige, Akkordeon, Trompete, Cello, Saxophon, Gitarre und Gesang.
An 14 Stationen werden die Namen aller 1.500 Gefangenen verlesen, an 3 Verweilstationen kommen die Frauen mit ihren Erinnerungen zu Wort. Musikerinnen und Sprecher wirken ehrenamtlich mit.
Die Geschichte hinter dem Schneeblumen-Gedenkweg
Im eisigen Aprilregen der Nacht des 13. April 1945 wurden 1.500 Zwangsarbeiterinnen vom Frauenaußenlager KZ Buchenwald, Wolfswinkel/Markkleeberg durch die Randbezirke Leipzigs in Richtung Tschechien getrieben, um die Unrechtsspuren vor den heranrückenden alliierten Truppen zu verbergen. Viele der ca. 1.250 ungarischen Jüdinnen und ca. 250 französischen politischen Gefangenen überlebten den Marsch nicht. Für andere war es ein entbehrungsreicher Weg in ein neues Leben.
70 Jahre danach wollen die Flügelschlag Werkbühne und die Leipziger Notenspur einladen, den ersten Teil des Weges gemeinsam zu gehen, den die Gefangenen in Holzschuhen ohne ausreichende Kleidung und Nahrung laufen mussten.
Eine Überlebende, Zahava Szasz Stessel – sie wohnt heute in New York –, hat ihre Erinnerungen in dem berührenden Buch “Snowflowers” zusammengetragen. Die Übersetzung dieses Buches aus dem Englischen durch Schülerinnen und Schüler des Markkleeberger Hildebrand-Gymnasiums gab den Anstoß für den Schneeblumen-Gedenkweg. Der künstlerischen Leiterin des Gedenkweges 2015, Anja-Christin Winkler, ließ das Geschehen vor 70 Jahren mitten in Markkleeberg und Leipzig keine Ruhe: „Direkt am Weg von Leipzig zum Badevergnügen Cospudener See befindet sich dieser Ort. Ich finde es wichtig, dass in unserem Bewusstsein ankommt: Buchenwald war nicht sonst wo, Buchenwald war hier.“
Zahava Szász Stessel meldet sich aus New York
Zahava Szász Stessel, 85-jährige Überlebende des Frauenaußenlagers des KZ-Buchenwald/Wolfswinkel, Markkleeberg, Verfasserin des Buches „Snow Flowers“ über das Leben im Lager und den Räumungsmarsch am 13. April 1945 Richtung Theresienstadt, schrieb, als sie von der Aktion erfuhr, aus New York an die Organisatoren:
„Ich habe die herzerwärmende, wichtige Mail gerade zum dritten Mal gelesen.
Den 70. Jahrestag mit einem Gedenkweg zu begehen, ist eine großartige Idee. Der Gedenkweg bringt die künstlerischen und spirituellen Empfindungen auf wunderbare Weise zum Ausdruck. Die Namen der früheren Inhaftierten zu lesen, ist besonders bewegend, wenn man bedenkt, dass wir nur als Nummern genannt wurden. Ich werde meiner Schwester und meinen früheren Lagerschwestern – den wenigen, die noch am Leben sind – davon erzählen. Sie werden dankbar sein wie ich.
Ich nannte mein Buch ‚Snow Flowers‘ – ‚Schneeblumen‘ – nach einem ungarischen Lied, in dem es darum geht, dass selbst im härtesten Winter die Schneeglöckchen blühen.
Für mich sind Schneeblumen Güte und Taten der Menschlichkeit, die es in dem Lager sogar unter den rauesten Bedingungen gab. Das Marmeladenbrot, das ein deutscher Ingenieur heimlich an die Maschine meiner Schwester legte, der kostbare Apfel, den unsere Lagerschwester Elza Reich mit uns teilte, der singende Vorarbeiter, der Hoffnung in alle einpflanzte, die mit ihm arbeiteten, die Frauen, die Lieder komponierten und damit unsere seelische Widerstandskraft stärkten und vor allem die geschwisterliche Liebe zwischen mir und meiner Schwester Erszike – das waren meine wertvollsten Schneeblumen.
Bitte lasst es mich wissen, wenn ich den Gedenkweg irgendwie unterstützen kann. Ich sehe dem 13. April mit großer Erwartung entgegen.
Mit herzlichen Grüßen, Zahava“
Der Ausgangspunkt: das ehemalige KZ-Außenlager im Wolfswinkel
Der Schneeblumen-Gedenkweg beginnt am Standort des ehemaligen KZ-Außenlagers in Markkleeberg, Wolfswinkel. Die Frauen mussten am 13. April 1945 stundenlang auf dem Appellplatz ausharren, bis das Signal zum Abmarsch kam.
Wie damals die Frauen wollen die Teilnehmer des Gedenkwegs in der Abenddämmerung starten und in die Nacht hineinlaufen. Sie folgen dem ersten, etwa 8 km langen Wegabschnitt der Frauen. Der Gedenkweg wird keine Demonstration im üblichen Sinne sein, sondern eher den Charakter eines Pilgerweges tragen: nachdenklich und besinnlich, friedlich und vertiefend. Die Teilnehmer tragen kleine Karten mit den Namen der Frauen aus der Deportationsliste bei sich. Am Wegrand werden sie an verschiedenen Punkten die Namen der Frauen verlesen. Keine soll vergessen sein. An anderen Punkten wird Musik erklingen und es werden Texte gelesen, die den Frauen wichtig waren. Zum Abschluss des Gedenkweges, im Gelände der „Scheune“ in Stötteritz, drücken die Teilnehmer mit Symbolen – Kerzen, Steinen, Blumen – ihre Anteilnahme mit den Frauen aus und teilen die Hoffnung, dass ein Neubeginn möglich ist. Der Rabbiner der israelitischen Religionsgemeinde Leipzig, Zsolt Balla, wird singen – auch dies ein Hoffnungszeichen.
Der Schneeblumen-Gedenkweg soll nicht nur eine Erinnerung an die beschämende Anpassung, die das Unrecht möglich gemacht hat, sein. Er soll auch ein Zeugnis für die Kraft von Solidarität, Anteilnahme und menschlichen Werten darstellen. Zahava Szasz Stessel erinnert sich, dass sie nach der harten Arbeit in den Rüstungsbetrieben im Lager gesungen, gedichtet, komponiert und die Lieder der jüdischen Feiertage angestimmt haben, um Kraft zur Bewältigung der schlimmen Erfahrungen zu gewinnen. Deshalb wird auch Musik am Gedenkweg erklingen.
„Einen äußeren und inneren Weg zu gehen und dies mit Musik zu verbinden, um den Eindruck zu vertiefen, ist ein Anliegen der Notenspur“, unterstreicht Notenspur-Initiator Werner Schneider.
Mit diesem Anliegen soll der Schneeblumen-Gedenkweg ein lebendiger Beitrag zur gegenwärtigen Diskussion über unsere Erinnerungskultur sein. Feststehende Gedenkformen mit Reden und Kränzen erreichen die nächste Generation immer weniger, konstatieren die Veranstalter. Die Erinnerung soll nicht zusammen mit den letzten Zeitzeugen sterben. Wie in der jüdischen Kultur werden die Teilnehmer des Gedenkweges nicht Zuschauer des Erinnerns, sondern Mitwirkende und damit lebendiger Teil der Erinnerung. Auf dem Weg haben alle, die mitgehen, Zeit, das damalige Geschehen von Anpassung und Ausgrenzung in ihre persönliche Gegenwart zu holen: Was sind meine Feindbilder? – Auf wen gehe ich den ersten Schritt zu?
„Feindschaft beginnt in uns, ebenso wie Anteilnahme und Solidarität“, meint Werner Schneider.
Der Ablauf des Gedenkweges
Beginn ist um 19.00 Uhr in Markkleeberg, Equipagenweg 21-23, ehemaliges Lagergelände, Abschluss ca. 22.30 Uhr in der „Scheune“ Stötteritz, Oberdorfstraße 15. Wegstrecke ca. 8,4 km, keine Fahrradtour. Eine Nutzung von Teilstrecken mit An- und Abfahrt ÖPNV ist möglich.
Teilstrecke A, ca. 2,70 km, ca. 19.00 bis 20.00 Uhr, Lagergelände bis Bornaische Straße/Haltestelle Friederikenstraße, Linie 11
Teilstrecke B, ca. 3,30 km, ca. 20.00 bis 21.15 Uhr, Bornaische Straße bis Prager Straße/Haltestelle Probstheida, Linie 15
Teilstrecke C, ca. 2,30 km, ca. 21.15 bis 21.50 Uhr (Ankunft), Prager Straße bis „Scheune“ Stötteritz
Im Landschaftspark Lößnig-Dölitz wird in der Nähe der Gaststätte „Zur Schäferei“ zwischen ca. 20.15 und 20.45 Uhr Musik gespielt und es werden Texte gelesen.
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