Statistiker haben es nicht leicht. Aber schön. Denn ihre Zahlen beschreiben die Welt. Wenn sie stimmen. Und wenn sie in der richtigen Schublade stecken. Ein 500 Seiten dickes Buch aus dem Leipziger Universitätsverlag zeigt jetzt, wie schön das Statistiker-Leben sein kann. Und wie schrecklich, nämlich dann, wenn die Daten fehlen, verschlüsselt wurden oder vernichtet. Am Montag, 27. Mai, wurde es vorgestellt.

Zusammengetragen hat es die Historikerin Dr. Frauke Gränitz. 309 Einzelthemen in 11 Kapiteln – von “Stadtgebiet” bis “Verfassung, Verwaltung, Wahlen”. Ein Nachschlagewerk für alle, die die wichtigsten Zahlen zur 1.000-jährigen Leipziger Geschichte schnell finden wollen. Denn darum geht es. So viele Tabellen und Zahlenreihen wird man in der geplanten vierbändigen Reihe der 1.000-jährigen Stadtgeschichte nicht finden. Aber auch für die Autoren der Stadtgeschichte ist das Buch natürlich ein Hilfsmittel. Denn die meisten Zahlen sind in diversen Leipziger Archiven verstreut.

Vielen Zahlen ist Schreckliches passiert. Auch denen des Statistischen Amtes der Stadt Leipzig, das 1867 als Statistisches Büro gegründet wurde. “Damit war Leipzig eine der ersten Städte in Deutschland, die überhaupt so etwas hatten”, sagt Verwaltungsbürgermeister Andreas Müller. 1883 wurde ein Amt aus dem Büro. 1913 erschien das erste Statistische Jahrbuch der Stadt. Ein Glücksfall, finden auch die Forscher. Denn das Datenmaterial, auf dem die Jahrbücher aufbauten, ging 1944 im Flammenmeer unter. Wie so manches andere papierene Archiv.

Und das war nicht die einzige Großkatastrophe, die der Leipziger Statistik im 20. Jahrhundert geschah. Die zweite war die beginnende Geheimniskrämerei nach 1970. 1970 war noch einmal ein Statistisches Jahrbuch zu Leipzig erschienen. Und dann war Funkstille bis 1991. Es gab zwar statistische Jahresberichte auf Kreis- und Bezirksebene, aber viele statistischen Berichte waren verschlüsselt. Vor nichts hatten augenscheinlich die grauen Amtswalter mehr Angst als vor der nackten, nüchternen Sprache der Zahlen.Zwar sprach auch Andreas Müller gut gelaunt kurz den alten Churchill-Spruch an “Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast.” Aber bevor man Statistiken fälscht – berühmtestes Beispiel aus DDR-Zeiten die gefälschten Wahlergebnisse – muss man ja die richtigen Zahlen haben. Oder zumindest wissen, wie sie aussehen. Und Fakt ist, dass die zentrale Wirtschaftsleitung in der DDR zumindest zu einem führte: Die Lenkungsebenen in Berlin und Leipzig kannten die Zahlen punktgenau – die nicht gelieferten Kontingente, die Ausschussmengen, die Soll- und Ist-Margen, die Valuta-Einnahmen und die zunehmenden Produktionsausfälle.

Man hört das Bedauern heraus, wenn Dr. Frauke Gränitz von diesen verschlüsselten Datensätzen spricht und von der vergeblichen Nachfrage bei Leuten, die damals mit diesen Daten zu tun hatten – die Schlüssel sind augenscheinlich weg. Man kann die Datensätze nicht mehr entschlüsseln. Das Ergebnis: Die Zeit zwischen 1970 und 1990 ist ein schwarzes Loch für Statistiker. George Orwell lässt grüßen.

Die nächste Katastrophe folgte sogleich, denn 1990, als man im Affenzahn alle Verwaltungen auf den Verwaltungsstandard West umstellte, wanderten auch aus den diversen amtlichen Stellen tonnenweise Akten und Statistiken in den Reißwolf. Vielleicht, weil nicht immer die neue Zuständigkeit geklärt war, oft wohl auch, weil man gerade im Schwung war. Weg damit und was Neues angelegt. Es gibt immer wieder Leute, die glauben, man könnte Geschichte einfach immer wieder beim Punkt Null beginnen. Aber das stimmt halt nicht. Man macht nur den Forschern die Arbeit sauer. Und sorgt für schäbige Löcher in der Geschichtsschreibung.

Und der Leser merkt es schon beim ersten Durchblättern. Es ist eben doch nicht alles drin, auch wenn 309 Einzelthemen schon sehr viel sind für eine einzelne fleißige Frau. Eine Tabelle mit den Produktionskennziffern der großen Industriestadt Leipzig über das komplette 20. Jahrhundert – das wäre ein Geniestreich gewesen. Und so etwas sucht man als Journalist.

Oder eine simple Auflistung aller relevanten Produktionsbetriebe des Jahres 1990 – nach Exportquote, Maschinenalter, Belegschaftsgrößen. All das, was dann 1991 bis 1993 im rasenden Galopp verscherbelt, verschenkt und abgewrackt wurde. Fehlt genauso wie die Umweltdaten aus den 1980er Jahren. Die natürlich geheim waren. Wenig war so sehr “top secret” wie die Daten zur Umweltverschmutzung in der DDR. Es gab sie – und da und dort sickerten solche Daten auch mal bis zu den Umweltaktivisten durch. Das wird ja selbst in Leipzig immer wieder vergessen, dass der Umweltschutz eines der zündenden Themen für die Leipziger Protestbewegung war.

Zu schaffen macht den Statistikern auch die unterschiedliche Erfassungsweise in der Vergangenheit. Wirtschaftskategorien wurden alle Nase lang geändert, Dinge, die einst noch wichtig waren zu zählen, spielten später keine Rolle mehr. Wer hat heute noch Interesse daran, den Viehbestand in der Stadt zu zählen? – Naja, Journalisten wohl, die zwar keine Schweine und Kühe mehr in der Innenstadt, der eigentlichen Kernstadt vermuten. Aber in den 1999/2000 eingemeindeten Ortsteilen werden wohl noch einige 1.000 Stück davon grunzen und muhen. Landwirtschaftliche Fläche hat Leipzig immer besessen, auch wenn sich viele Äcker aus Goethes Zeiten in Wohnquartiere verwandelt haben.

Aber 500 Seiten sind trotzdem spannender Lesestoff. Wer zählt denn schon mal die Villengärten in einer Stadt? – Den Statistikern um 1890 war das wichtig. Damals sorgte man sich sehr intensiv um genügend Grün in der schon rußgeplagten Stadt. Dafür waren die Leipziger Banken beim ersten Durchblättern nicht zu finden. Vielleicht findet man sie beim zweiten. Natürlich werden wir das Werk noch in aller Ruhe studieren. Für Entdeckungen sind so viele Tabellen immer gut.Die von der Leipziger Historikerin Dr. Frauke Gränitz erarbeitete Edition setzt als Band fünf die Reihe “Quellen und Forschungen zur Leipziger Stadtgeschichte” fort, die von der Stadt in Vorbereitung auf den tausendsten Jahrestag der Ersterwähnung Leipzigs initiiert wurde, der 2015 gefeiert wird. Wie alle Bände der Reihe erscheint er im Leipziger Universitätsverlag. Als topographische Orientierungshilfe ist dem Buch eine CD-ROM mit dem “Plan der Stadt Leipzig 1913” beigegeben.

Eigentlich müssten gleich mehrere Karten in den Anhang – zu jeder wichtigen Gebietsreform eine. Denn: Die Herausforderung bei der Erarbeitung des Bandes bestand vor allem in der Tatsache, dass statistische Daten in unterschiedlichen Zeiten und gesellschaftlichen Systemen auch unterschiedlich erfasst wurden. Nicht bei allen Themenfeldern konnten Daten für das Stadtgebiet ermittelt werden, da sich die Erfassungsbezirke nicht unbedingt mit dem Stadtgebiet deckten (z. B. Arbeitsamtsbezirk, Kirchenbezirke).

Angaben aus der Zeit vor dem 19. Jahrhundert, mit dem das “statistische Zeitalter” einsetzte, musste Dr. Frauke Gränitz aus publizierten quellenbasierten Forschungen und durch eigene Untersuchungen gewinnen. Die Situation änderte sich mit der Etablierung der Statistik auf Reichs-, Landes- und Kommunalebene. Leipzig spielte dabei eine Vorreiterrolle. Das 1867 gegründete Statistische Büro, der Vorfahre des heutigen Amtes für Statistik und Wahlen, war eine der ersten Statistik-Stellen in Deutschland.

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Daten und Fakten zur
Leipziger Stadtgeschichte

Frauke Gränitz, Leipziger Uni-Verlag 2013, 69,00 Euro

Erst seit 1991 steht Leipzig wieder einigermaßen auf festem statistischen Fundament. Da erschien das erste Statistische Jahrbuch nach dem Gezeitenwechsel, den manche Friedliche Revolution nennen. Man könnte es auch eine Abdankung, eine Totalkapitulation der eben noch herrschenden Partei nennen. Es war ja alles Mögliche. Nur Vieles, was es war, lässt sich nicht mehr mit nüchternen Zahlen belegen, weil diese schlichtweg fehlen. Man schaut in ein großes graues Loch.

Was nicht ausschließt, dass es in diesem dicken Buch auch noch dicke Überraschungen gibt. Aber dazu in Kürze mehr an dieser Stelle.

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