Eine Stadt wie Leipzig braucht keine Bange zu haben um ihre Jubiläen: Sie purzeln einfach aus dem Kalender. Man muss sie nur auffangen. Während am gestrigen 7. Juni das Bachfest in Leipzig startete, wurde ein wenig am Rande eine kleine aber eindrucksvolle Ausstellung eröffnet, die das 800-jährige Jubiläum der Gründing des Augustiner-Chorherrenstifts beleuchtet. Schauplatz: die goldglänzende Commerzbank-Filiale am Thomaskirchhof.

“Geschichte ans Licht gebracht” heißt sie und würdigt eine der spektakulärsten Ausgrabungen in Leipzig in den letzten 22 Jahren. Und selbst die Ausgrabung hat Jubiläum: Sie fand 2002 statt im Vorfeld des Baus der Tiefgarage und der Marktgalerie. Im Verlauf der Tiefgaragenzufahrt durften Sachsens Archäologen mit Schippe und Pinsel ans Werk.

“Es war nur ein kleines Fenster in der Leipziger Geschichte”, sagt Dr. Thomas Westphalen, Abteilungsleiter Archäologische Denkmalpflege im Landesamt für Archäologie Sachsen. Seit dessen Gründung 1993 ist er auch für die Leipziger Ausgrabungen zuständig. Und man hört sein großes Bedauern, dass 2002 nicht die Möglichkeiten bestanden, die Ausgrabung bis zur Nordseite der Thomaskirche auszudehnen. Die Stadt hat den Platz zwar neu gestaltet und mit Granit gepflastert, ging dabei auch “tiefbaumäßig” in die Erde.

“Aber bis auf die mittelalterlichen Gräber sind diese Arbeiten natürlich nicht gegangen”, so Westphalen. Denn ein wesentlicher Fund auf dem schmalen Stück, das freigelegt werden konnte, waren rund 100 Skelette von Leipzigern, die einst auf dem Friedhof des Klosters bestattet wurden, das bis zur Reformation in Leipzig 1539 bestand. Einige Mauerreste interpretierten die Archäologen als mögliche Teile des alten Kreuzgangs. Nördlich davon freilich legten sie schon die Mauern jener Gebäude frei, die schon wenige Jahre nach 1539 auf dem einstigen Klostergelände entstanden – einige auf alten Klostergebäude-Fundamenten, andere auf neueren Mauern. Während der Ausgrabungen konnten die Leipziger die markanten Fundamente des alten Amtshauses bestaunen, das anfangs nicht als Amtshaus entstand.

Ab 1543 ließ sich hier – nachdem der Rat der Stadt die Stiftsgebäude hatte niederreißen lassen – der durch Kupferhandel und Seidenhandel reich gewordene Kaufmann Heinrich Scherl ein stattliches Gebäude errichten. 1475 geboren, war er freilich schon 68 Jahre alt, als er hier baute. 1548 starb er, das Gebäude ging erst an seinen Schwiegersohn Georg Fach, später an seinen Neffen Georg Scherl d.J., der völlig verschuldet starb. Das Haus ging nach einer Versteigerung in landesherrlichen Besitz über und es wurde über Jahrhunderte der Leipziger Sitz der königlichen Amtsverwaltung – das Amtshaus.
Bis auch das Amtshaus und mit ihm die komplette Häuserzeile auf der Nordseite des Thomaskirchhofs abgerissen wurde 1902. Die heutige repräsentative Häuserzeile stand deutlich weiter nördlich.

Zwei Keller des einstigen Amtshauses, das auch etliche Jahre als Gastwirtschaft genutzt wurde, konnten 2002 freigelegt werden. Auch eine alte Brunneneinfassung und einige mittelalterliche Latrinen konnten freigelegt werden. Latrinen sind für heutige Archäologen wahre Schatzgruben, den oft finden sich hier Gegenstände des Alltags, die entweder zufällig in die Tiefe gerieten oder mit Absicht so entsorgt wurden.

Die Funde, die jetzt in der Commerzbank-Filiale ausgestellt werden, zeigen die Bandbreite all dieser Fundstücke vom Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert. Farbenfrohe Krüge und Schalen, ein verbeulter Zinnteller, Besteck, zerbrochene Pfeifen. Gleich die erste Vitrine im Erdgeschoss zeigt aber auch die dunkle Gebrauchskeramik des Hochmittelalters. Einige Brakteaten, die einem der Verstorbenen mit ins Grab gegeben wurden, und ein Bronzeleuchter haben direkten Bezug zum einstigen Thomaskloster.
“Wir haben uns im Vorfeld gut überlegt, wie wir dieses Jubiläum auch anschaulich machen können”, sagt Thomaspfarrer Christian Wolff. Die musikalische Tradition sei ja im Jubiläum 800 Jahre Thomana überall hörbar. Doch kaum etwas macht die 800-jährige Geschichte so fassbar wie die Funde der Ausgrabung von 2002. Ob unter den 100 Begrabenen auch Heinrich von Morungen zu finden wäre, weiß niemand. Unübersehbar wurden hier auch Nicht-Klosterinsassen beerdigt – Bürger der Stadt, die an diesem besonderen geweihten Ort beerdigt werden wollten, auch Frauen und Kinder. Die meisten augenscheinlich ohne Sarg.

“Man legte eindeutig keinen Wert auf die besondere Ausstattung der Toten”, sagt Dr. Thomas Westphalen. “Denn man wusste ja, dass es nur eine vorläufige Ruhestätte sein würde.” Bis zur Auferstehung. Ein echtes Argument auch für Christian Wolff, der immer wieder gern daran erinnert, dass die moderne Welt auf christlichen Fundamenten ruht. Und etliche der Funde zeugen von der tiefen Gläubigkeit der damaligen Leipziger. Die natürlich auch eine ganz andere Thomaskirche kannten. So, wie sie heute steht, wurde sie tatsächlich erst 1482 bis 1496 ausgebaut. Der Turm kam sogar erst nach der Reformation dazu.

In den 1950er und 1960er Jahren gab es schon einmal Ausgrabungen im Umfeld der Thomaskirche – auch im Inneren. Damals stieß man auf die mutmaßlichen Konturen der Vorgängerkirche, einer Basilika, die schon im 12. Jahrhundert existierte, so wie eine zugehörige Siedlung. Aber in dieser Epoche ist tatsächlich Vieles Mutmaßung. Wirkliche Reste dieser Siedlung hat man auch 2002 nicht gefunden.

22 Text- und Bildfahnen erläutern den Besuchern der kleinen Ausstellung auf zwei Etagen die Ergebnisse der Grabungen und die historischen Hintergründe. In den Vitrinen werden ausgewählte Fundstücke der Grabung gezeigt. Nicht nur vom Thomaskirchhof. Denn dadurch, dass das alte Messe-Verwaltungsgebäude am Markt abgerissen wurde, konnte auch auf dem Gelände der künftigen Marktgalerie gegraben werden. Nicht überall gab es noch alte Strukturen im Untergrund. Gerade die großflächigen Überbauungen des späten 19. und des 20. Jahrhunderts haben viele alte Fundschichten komplett ausgelöscht.

Trotzdem gab es noch einige Grundstücke an der Klostergasse und der Thomasgasse, wo die Archäologen fündig wurden. Einige Fundstücke stammen auch von Ausgrabungen am Dittrichring, vom Markt und aus dem Preußergässchen.

2003 wurden einige der Fundstücke schon einmal in den Räumen der Commerzbank gezeigt. Die Commerzbank unterstützt die Ausstellung auch diesmal nicht nur mit ihren Räumen, sondern auch finanziell. Damals entstand auch die Broschüre “Leipzig, Thomaskirchhof. Klerus, Bürger und Beamte”, die die wichtigsten Fundgeschichten zusammenfasste.

Die Broschüre ist jetzt wieder aufgelegt worden. Beim Landesamt für Archäologie, im Buchhandel, aber auch im Thomasshop kann man sie jetzt wieder für 3,90 Euro erwerben.

Die Ausstellung selbst wird bis zum 3. November in der Commerzbank-Filiale am Thomaskirchhof 22 gezeigt und kann während der Öffnungszeiten (Mo, Mi, Fr 9 – 16 Uhr, Di, Do 9 – 18 Uhr) kostenfrei besichtigt werden.

https://www.archaeologie.sachsen.de/index.html
www.thomaskirche.org

Veranstaltungstipp:

Im Rahmen der Veranstaltungsreihe “Gott und die Welt” finden im Jubiläumsjahr 2012 an zehn Abenden Vorträge zur Geschichte der Thomaskirche statt, bei denen zum einen jedes Jahrhundert eine kritische Würdigung erfährt und zum anderen Perspektiven für die Zukunft der christlichen Gemeinde aufgezeigt werden. Der nächste Vortrag findet am Montag, 11. Juni, um 20:00 Uhr in der Thomaskirche statt. Der Vortrag wird gehalten von Dr. Michael Maul (Bach-Archiv Leipzig). Sein Thema: “Kapellmeister, aber auch Kantor. Johann Sebastian Bach und die ‘wunderliche, der Music wenig ergebene Obrigkeit’. Die Thomaskirche im 18. Jahrhundert.

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