„30 Jahre ...“ steht einfach auf der Titelseite. Und natürlich geht es um 30 Jahre deutsche Unzufriedenheit. Auch vor unsanierten Häusern. Denn mittlerweile wirkt es einfach nur noch seltsam, wenn 30 Jahre nach der Deutschen Einheit hunderte Häuser in Leipzig unsaniert sind und leerstehen. Kann es sein, dass die schöne neue Dingwelt, über die einige unserer Autor/-innen in der neuen „Leipziger Zeitung“ Nr. 84 schreiben, einige ganz erhebliche Baufehler hat?
Natürlich hat sie das. Und wahrscheinlich sieht man das aus ostdeutscher Perspektive nur klarer, weil man seit 30 Jahren die politischen Versprechen an der Wirklichkeit messen kann. Und nicht nur das, wie Lucas Böhme in seiner Serie „Das letzte, verrückte Jahr der DDR“ ja beschreiben konnte. In dieser Oktober-Ausgabe beendet er die Serie und zieht seine Bilanz – und die fällt logischerweise zwiespältig aus, im wahren Sinn des Wortes. Denn von einer sachlichen, unparteiischen Geschichtsschreibung kann noch immer keine Rede sein.
Zwei völlig unvereinbare Bilder von dem, was die DDR war, stehen sich gegenüber – einerseits der „Unrechsstaat“ (ein politischer Kampfbegriff, für den es, so Lucas Böhme, keine Legaldefinition gibt) und zum anderen die erlebten Leben der Ostdeutschen, die unter oft widrigen Verhältnissen versucht haben, ein anständiges, fleißiges und erfülltes Leben zu leben. Und die sich in den propagierten Bildern nicht wiederfinden.
„So entsteht in den Diskursen über die DDR seit 1990 der Eindruck, die Streitenden hätten in verschiedenen Welten gelebt“, schreibt Böhme. Haben sie ja auch. Den Effekt kennen Historiker: Die Zeitgenossen sind für das, was historisch wirklich wesentlich ist, blind. Sie kommen aus ihrer persönliche Engsicht nicht heraus. Den Diskurs bestimmen die Lauten und Parteiischen. Seit 30 Jahren.
Stimmt schon: das nervt nur noch. Vor allem, weil es alte Klischees sind. Als wäre das Land einfach nur erstarrt. Was auch wieder Zeichen dafür ist, dass man den Osten gern nur als Stereotyp haben möchte, ewige Bestätigungsfläche für die eigenen, verschimmelten Vorurteile.
Und einfach nicht wahrhaben will, was 1990 tatsächlich passiert ist: 17 Millionen Ostdeutsche haben beschlossen, zu Bundes-Bürgern zu werden, mit Sack und Pack und ihren fünfeinhalb neu gegründeten Ländern Gleiche unter Gleichen zu werden.
Das ist eine Herausforderung – nämlich für die Bayern, Schwaben, Hessen und Kölner Frohnaturen, dass ihnen jetzt das alte Feindbild abhandenkam. Auf einmal war da ein neuer Stammesbruder im Bund – worauf David Gray in seiner Kolumne eingeht – der Ostdeutsche. Der sich bekanntlich und zu Recht verwahrt, die ganze Zeit wie ein störender Fremdling behandelt zu werden. So ein Bettler, der nur gnädigerweise mit am Tisch sitzen darf.
Das sollte eigentlich mal aufhören.
Hört aber nicht auf, weil eine Gesellschaft, die sich derart offensichtlich über Dinge, Besitz, Markenklamotten und Identität definiert wie die bundesdeutsche, immer ein hässliches Gegenbild zu brauchen scheint.
Was sogar Olav Amende erfahren hat, der zum Zeitpunkt der Deutschen Einheit noch ein kleiner Steppke war und dann miterlebte, wie das Scheinen das Sein okkupierte. In seinem Beitrag „In der neuen Dingwelt“ schreibt er: „Bald schon zeigte sich aber auch die Kehrseite dieser neuen Dingwelt. Wer gewisse Dinge nicht hatte oder kannte, schied aus den Spielen mit ihnen und aus Gesprächen über sie aus.“
Was aber passiert mit einer Gesellschaft, in der auf einmal das Äußerliche darüber bestimmt, ob er dazugehören darf oder überhaupt wahrgenommen wird?
Das Phänomen, dass sich Menschen als „Bürger zweiter Klasse“ fühlen, gibt es auch im Westen längst schon in einem ähnlichen Ausmaß wie im Osten. Darauf geht David Gray ein. Was aber auch heißt: Da wird aus westdeutscher Deutungshoheit an den Ostdeutschen etwas zelebriert, was eigentlich den Westen in seiner Schein-Heiligkeit genauso betrifft. Man redet nur nicht drüber. Ist ja irgendwie ätschbätschi.
Jens-Uwe Jopp erinnert da in seiner Kolumne „Zwistigkeit im Glanz der Freiheit“ an die in Leipzig erlebten Auftritte des begnadeten Kabarettisten Dietrich Kittner: „Der Entwertungsprozess eines neugewonnenen Landes setzte ein, zur gleichen Zeit 1990, im gleichen Maße wie Einheitstaumel, D-Mark und Freiheitsrausch.“
Ein paar seiner nur zu berechtigten Fragen: „Wo beginnt die Selbstverantwortung des Individuums und wo hört eine Selbstzuschreibung aller Erfolge und Misserfolge auf? Wo fängt der Egoismus des Menschen an? Wo eine Über-heb-lichkeit, die Abwertung fremden Lebens?“
Eine Diskussion, die Jens-Uwe Jopp eigentlich fortsetzt, wenn er in der Kolumne „Überm Schreibtisch links“ das frisch im Hanser Verlag erschienene Buch von Max Czollek „Gegenwartsbewältigung“ bespricht. Eine Streitschrift, die sich mit der Frage unmündiger Politik beschäftigt. Denn was passiert, wenn Autonomie und Selbstbestimmung nicht mehr in eine gemeinsame Politik münden, sondern in rücksichtslosen Egoismus?
Wenn sich Menschen, um Missstände zu benennen, in informellen Einzelgruppen außerhalb der politischen Meinungsbildung finden müssen und Politiker wieder „pseudonazistisches Geschwurbel“ von sich geben von „Heimat“ und „Leitkultur“? Und das sichtlich in einem Moment fortschreitender Ent-Solidarisierung. Denn genau dafür steht sie: die alte nationalistische Definition von Dazugehörendürfen und Draußenbleiben. Jopp: „Das aufmerksame Hinweden zu gesellschaftlichen Missständen, auch wenn Mann und Frau persönlich NICHT direkt davon betroffen sind. Das ist aufgeklärtes Denken im Herbst 2020.“
Hinwenden heißt nun einmal auch: Wahrnehmenwollen und Sich-verantwortlich-Fühlen.
Es geht nicht um den immer wieder aus dem Grundgesetz zitierten Spruch von „Eigentum verpflichtet“. Es geht um unser Verständnis von Gemeinschaft, die Verantwortung aller für das gemeinsame Leben und Überleben.
Und da müssen sich Hauseigentümer – wie in unserem Projekt „Vergessene Häuser“ – eben fragen lassen, warum sie ihre Häuser leerstehen lassen, obwohl in Leipzig der bezahlbare Mietraum fehlt. Andere nehmen ihrer Verantwortung nämlich ernst – so wie die Initiative „Hardware for Future“, die alte Elektronik für Menschen wieder betriebsfähig macht, die sich neue Geräte nicht leisten können. Oder jene Initiativen, über die Luise Mosig in ihrem Artikel schreibt „Alle Jahre wieder“, die sich um die Erinnerung an die Todesopfer rechter Gewalt bemühen.
Und auch den Leipziger Stadtrat kann man hier nennen, der mittlerweile jeden Monat zwei Mal tagt, um wichtige Zukunftsthemen öffentlich und manchmal ausführlich zu diskutieren. Die beiden Oktober-Sitzungen sind in der Zeitung natürlich abgebildet. Und auch die Kooperative Landwirtschaft in Taucha wird von Frank Willberg porträtiert – denn die, die sich verantwortlich fühlen, haben längst angefangen, eine andere, nicht weltzerstörende Zukunft zu bauen.
30 Jahre nach dem Jubel von 1990 ist einiges in Bewegung gekommen. Nicht nur im Osten. Mittlerweile merken auch unsere westlichen Brüder und Schwestern, dass es so nicht weitergeht. Dass man mit Ego-Trip keine Zukunft baut, sondern nur Zerstörung. Und die fröhliche Nachricht aus dem Osten heißt nun einmal: Wir sitzen alle im selben Boot. Und zwar nicht erst seit 30 Jahren.
Die neue „Leipziger Zeitung“ haben unsere Abonnenten natürlich im Briefkasten. Für alle anderen liegt die neue „Leipziger Zeitung“ (VÖ 23.10.2020) an allen bekannten Verkaufsstellen aus. Alle haben wieder geöffnet – besonders die Szeneläden, die an den Verkäufen direkt beteiligt werden.
Keine Kommentare bisher