LeserclubUnd so wehte eine Unruhe durch die Stadt, eine Geschäftigkeit, die dieser kleine Ort in seiner Beschaulichkeit am Wochenende eher nicht kannte. Wie zufällig streiften die Spaziergänge der braven Bürger, die für gewöhnlich lieber jede Stunde daheim auf einer gemütlichen Ottomane verbrachten, die kleine Straße vor dem alten Kino. Don Leone freute sich diebisch. Er hatte das beliebte Eiscafé an der Ecke gerade erst in Schwung gebracht. Als hätte er es geahnt.
Die weiß- und grau- und blauhaarigen Spaziergänger kehrten bei ihm ein, als wäre ein längst vergessener Frühling wieder aufgegangen mit milchwarmem Sonnenlicht, summenden Ohren, Hormonen im Flugrausch und dem unbändigen Kichern gestohlener Freiheit, das es einst nach langen, langen Filmabenden immer gegeben hatte.
Wie lang war das her? Man sah es ihnen auf einmal wieder an, dass in übergewichtigen Matronen immer noch junge, quietschvergnügte Mädchen steckten, hinter Kassenbrillen die Augen bewunderter Schönheiten, die von Prinzen und Reitern mächtiger wilder Pferde mit 26 PS umschwärmt wurden.
Wie konnte man all das nur vergessen? Wie konnten sich all diese charmanten Cowboys unendlich langer Maiabende in diese zerzausten, schweratmigen kleinen Männer mit ihren kurzen Schritten und den verkniffenen Mündern verwandeln, die sich jetzt vergeblich versuchten ein seliges Lächeln abzuringen.
Denn alle Zukunft saß ja neben ihnen, zwar noch kichernd, als wäre wieder Frühling, aber so völlig unspektakulär, dass man sich mit wehem Blick hinüber auf die runzlige Kinofassade durchaus fragen durfte: Wo war das alles hin? Wie hatte sich ein so mühsam einzufangender wunderschöner Schmetterling in etwas derart Ernüchterndes verwandeln können?
Und so mischten sich die schelmischen mit den verlorenen Blicken, die müden mit den zwinkernden. Trafen sich die Blicke von einst hoffnungslos Verliebten mit denen, deren Lebenstraum sich in eine vorwurfsvolle Wortlosigkeit verwandelt hatte.
„Ach, erinnerst du dich noch?“
Und die Namen der Filmdiven, die sie damals alle bewundert hatten, wisperten durch den Raum, während frisch geschminkte Münder einen Eisberg verzehrten, von dem die grauen Köpfe darüber längst wussten, dass diese flüchtige Rückkehr in jugendlichen Übermut sich furchtbar rächen würde. Aber nicht einmal diese kleinen, rundlich gewordenen Ritter vergessener Träume wagten es, dem Übermut Einhalt zu gebieten und auf das Pillendöschen und die Tröpfchen in der Handtasche hinzuweisen.
Noch einmal so jung sein …
Während im alten Kino schon seit Tagen die Handwerker zugange waren. Sie brachten den alten Kasten wieder in Form, trugen Möbel heraus, die so billig aussahen, dass man sich fragte, warum die nicht schon lange entsorgt waren. Aber als damals die Zeit der billigen Filme zu Ende ging, die keiner mehr sehen wollte, weil man dasselbe Angebot auf allen Kanälen im heimischen Kino bekam, hatte die letzte Betreiberfirma alles stehen und liegen lassen.
Der zeitliche Abstand machte erst recht sichtbar, wie billig das alles wirkte, selbst im Vergleich mit den alten Stuckverzierungen im Saal und den ausgeleierten Kinosesseln, an denen besonders emsig herumgeschraubt wurde, ganz so, als wolle hier jemand einen alten Luxusliner noch einmal schön machen zur letzten Reise, noch einmal allen Glanz herauspolieren, der von alten Kupferbeschlägen und dunkel gewordenen Samtbezügen ausging. Selbst die Lampen wurden aufgefrischt, ergänzt und neu justiert. Wer sich vorwagte bis zur Absperrung an der Eingangstür, konnte ein wenig von all dem erspähen.
Und die Burschen in ihren schwarzen Uniformen, die draußen darauf achteten, dass niemand diesem Geschwirre und Geeile in die Quere kam, mussten des Öfteren Auskunft geben, wo man denn nun Karten für das angekündigte große Ereignis am Sonntag bekäme. Und die stereotype, notwendig freundlich vorgebrachte Auskunft lautete: „Kommen Sie am Sonntag früh genug. Es soll noch ein paar Restkarten geben. Niemand soll draußen bleiben, wurde uns gesagt.“
Sagte also jedenfalls der Veranstalter, wie es hieß. Oder der Mann, der drinnen alles dirigierte, als sei schon das ein großes Konzert, das auf den Plakaten angekündigt wurde. Teppichböden wurden ausgerollt und festgepinnt, die Bühne wurde geputzt, eimerweise wurde der Staub herausgetragen, so manche tote Maus und manches längst vergessene Vogelnest. Selbst die Oberlichter wurden mit neuem Glas versehen, als hätte das alles einer schon lange strategisch geplant.
Aber wer?
Die Möbelträger, die rein- und rausliefen und die bereitgestellten Container befüllten, zuckten mit den Schultern. Man hatte einen Auftrag, drinnen, der Meister könne vielleicht Auskunft geben, aber der sei auch nur der Auftragnehmer von jemand anders. Wer es genau beschaute, merkte schon, dass hier einer alles sauber durchgeplant hatte. Vielleicht, um diese kleine Stadt und ihre kleinen, grau gewordenen Bewohner noch einmal zu erfreuen. Noch einmal den Goldglanz jener Jahre über alles zu legen, in denen sie allesamt so gern für immer geblieben wären, wären da nicht die Arbeit gewesen, die Erwartungen, die Kinder, das Ticken der Zeit, die ersten Rückenschmerzen und das allmähliche Verschwinden der Seeschärfe.
Und so putzten sie ihre Brillen immer wieder, wie sie die ganze Zeit das Bild eines von goldgelbem Licht angestrahlten Kinoschlosses vor Augen hatten. Und sie irrten nicht. Selbst die Strahler wurden neu bestückt. Die zwei Zeitungen schickten ihre Fotografen. Nur einen Ansprechpartner fanden sie nicht. Die Nachfragen beim wachsamen Personal wurden abgewimmelt, die Nachfragenden vertröstet auf den Sonntag, sodass am Montag tatsächlich nur wenige Bilder vom emsigen Treiben gedruckt zu sehen sein würden, ein paar noch vom Sonntag. Ohne das große Finale.
Auch in der Zeitung, für die Herr L. und Kollege S. so emsig vorgearbeitet hatten. Und weil sie das hatten, fand das alte Kino „Kosmos“ sogar ein prominentes Plätzchen in ihrer großen Geschichte: „Wie unsere Stadt verkauft wurde!“
Nur ließen sie die Andeutungen und Mutmaßungen lieber weg, verzichteten auf die ganz große Geschichte, zu der ihnen wichtige Puzzleteile fehlten. Und später würde zumindest L. sagen, dass das gut so war. Dass man manchmal einfach keine Geschichte drehen kann aus dem Stoff, den man hat, auch wenn sie allerenden regelrecht danach riecht und ein Schreiberherz danach lechzt, die Bösewichter auf der Seite zu benennen.
Doch auf diese Andeutungen verzichteten sie.
Und so wurde es eine ganz banale Geschichte über ein ganz banales Jahr, in dem ein ganz banaler Stadtrat mit sichtlich längst schon desillusionierten Männern und Frauen, die noch vor kurzem Bäume ausreißen wollten, beschloss, alles zu versilbern, was an städtischem Grund nicht benötigt wurde. Der große Rausch war vorbei. Der große Verramsch begann. Die neuen Zeiten offenbarten, wie arm diese kleine Stadt tatsächlich war an Geld in der Kasse, bar jeder Erbschaft, wenn man nur von den einst, vor unendlichen Zeiten so anheimelnden Bauten am Hermannkai, dem alten Kino, dem schäbigen Klubhaus, der aufgelösten Klinik, ein paar Villen und Remisen und noch Dutzenden anderer, einst so wichtiger Gebäude absah, die jetzt auf einmal nicht mehr gebraucht wurden. Oder von denen man glaubte, sie nicht mehr zu brauchen, weil anderes viel dringender war – und schlicht unbezahlbar.
Selbst das eigentlich fürchterlich ungenießbare Interview mit dem Bürgermeister fand seinen Platz, und die eisige Erklärung jenes Mannes, den Herr L. so gern für sich „den Haifisch“ nannte. Mister Shark. Aus der Story, wie er den aalglatten Gewinner der Neuen Zeit zur Strecke brachte und als großen Beutemacher entlarvte, wurde dadurch die Geschichte eines Mannes, der einer von Geldsorgen geplagten Stadt im entscheidenden Moment aus der Bredouille half („Unternehmertum wird hierzulande viel zu wenig gewürdigt!“) , und der seinen sichtlich mehrfach durch die Mühle der juristischen Abteilung gedrehten Text mit der hübschen Botschaft beenden durfte: „So sind die neuen Zeiten. Das wollten so viele damals nicht wahrhaben. Aber der Erfolg unseres Unternehmens gibt uns recht.“
Das Foto dazu: Ein Mann, der seinen Reichtum etwas auffällig zu Markte trug mit einer blitzenden, extra ins Blickfeld geschobenen Armbanduhr und einer gepolsterten Jacke, die teuer aussah. So teuer, dass selbst Herr L., der sich so etwas nicht leisten konnte, sah, dass sie trotzdem nur von der Stange war.
Und weil er diese Texte der großen Retter, die mittlerweile längst dazu neigten, sich als die eigentlichen Helden der Neuen Zeit zu gerieren, nicht so nackt neben der großen Geschichte vom Ausverkauf stehen lassen wollte, hatte Kollege Stachelschwein ein kleines Interview mit der nicht ganz unbekannten Frau Doktor Ludmilla Hoffmann genau danebengesetzt.
Ein Interview, das zumindest durchblicken ließ, dass doch nicht alle Verkäufe so ganz gesetzeskonform verlaufen waren. So manches Kleinod scheint dann doch für ein paar Jahre in dubiosen Besitzverhältnissen gelandet zu sein, so dubios, dass man beileibe keine Telefonnummer des richtigen Besitzers in Erfahrung bringen konnte, ganz zu schweigen vom Namen des richtigen Besitzers. Oder sollte es eher heißen: des eigentlichen?
„Erst jüngst, so konnten wir feststellen, hat wieder ein nicht ganz billiges Portfolio seinen Besitzer gewechselt, ist quasi von einer Insel zur anderen gewandert. Und damit meine ich richtige Inseln, die jeder auch im Atlas finden kann. Mich jedenfalls wundert es nicht, dass im Rathaus einige dicke Grundbuchakten einfach nicht aufzutreiben sind.“
„Können Sie uns sagen, um welche Immobilien es sich dabei handelt?“
„Leider nein. Wir wurden dringend darum gebeten, noch keine Namen und Adressen herauszugeben.“
„Auch vom Rathaus?“
„Gerade vom Rathaus.“
Da passte es schon, dass der umtriebige Bürgermeister ebenso darum gebeten hatte, „unsere hartnäckigen Bemühungen um endgültige Aufklärung zu respektieren. Ich kann Ihnen versichern, niemandem liegt es mehr am Herzen, alle Verdachtsfälle aufzuklären, als mir.“
Der große Aufklärer.
Was aber ganz bestimmt nicht auf der Liste stand, so Ludmilla Hoffmann dann außerhalb der Niederschrift, war das Kino „Kosmos“. „Gerade dafür liegt uns tatsächlich ein richtiger Kaufvertrag in Kopie vor. Gekauft und bezahlt. Aber schreiben Sie das nicht. Ich kann mir vorstellen, dass das zumindest jetzt nicht so ganz willkommen wäre.“
Das Wispern und Tuscheln auf der Straße vor dem Kino gab ihr recht. Auch Herr L. landete dort, spätnachmittags von seiner heil zurückgekehrten Mascha noch einmal zur Bewegung seiner müden Knochen angespitzt.
Sie kehrten nicht im Eiscafé an der Ecke ein. Es war längst überfüllt. Die Leute standen Schlange, um sich ein Eiskügelchen auf der Waffel über den Tresen reichen zu lassen. Die kleinen Männer mit den rot unterlaufenen Augen bezahlten brav und verkniffen sich die Frage nach Alkoholischem.
„Es wird wunderschön“, sagte L.s Mascha.
Selbst das uralte schon sehr blessierte Tourneeauto von Margarita sahen sie, wie es von ebenso emsigen Packern entladen wurde. Die ganze Bandausrüstung, Spiegel, Schminktisch, Berge von Kostümen …
Wenn L. und S. sich ins Zeug legten, würden sie ihre fertigen Seiten am Sonntag weit vor Redaktionsschluss beim großen Zampano absegnen lassen und sich in Richtung Kino verabschieden. Jedenfalls L. wollte es schaffen, er versprach es seiner Mascha in die Hand, wunderte sich eher, dass auch die jüngeren Halbstarken der Stadt in Lederjacken und mit hochgeschlagenen Kragen zu Schaulustigen wurden.
Auch wenn die Menge nie so dicht war, dass man fürchten musste, die Leute würden das Warten bis zum nächsten Tag nicht mehr ertragen. Aber sie respektierten die lose Absperrung, rückten sogar beiseite, wenn ein neues Fahrzeug vorfuhr, das dann ebenso eilig entladen wurde.
Als würde an diesem Abend tatsächlich so ein später Hauch eines neuen Beginnens über der Straße liegen, dem alten Kino mit seinem hundertfach geflickten Dach, der Stadt und ihren Bewohnern, die sich mit einbrechender Dämmerung so langsam zerstreuten – etwas aufrechter als zuvor, als wäre da ein Schimmer von Vorfreude auf etwas, was es hier seit Jahren nicht mehr gegeben hatte. Eine Prise von Wiesenduft, ein Gefühl, nicht alle Träume verloren zu haben auf diesem langen, langen Weg in ein schmerzendes Knochengerüst und lauter Fettpolster, die nicht wirklich wärmten, aber unsäglich traurig machten.
Und erst da tauchten auch zwei bärbeißig dreinschauende Polizeibeamte auf, die sich so herausfordernd an den Straßenrand stellten, dass sich die verbliebene lichte Menge ziemlich bald völlig zerstreute. Nur drinnen im Eiscafé schauten vom Schaffen müde junge Leute, denen man die weitläufige Verwandtschaft zu Don Leone natürlich ansah, zufrieden auf ihr Tagwerk, die Berge schmutziger Tassen und die entleerten Eiskübel. So dumm war die Idee, dieses alte Café wieder zu eröffnen, also gar nicht. Zumindest heute nicht. Aber was wäre morgen?
Und übermorgen?
Die beiden Bärbeißigen schauten jedenfalls ziemlich unwillig hinüber zu den hin und her Eilenden am alten Kinogebäude, sahen mit Misstrauen, wie die Fassadenbeleuchtung angeschaltet wurde. Und sie schienen durchaus geneigt, vielleicht doch ganz staatlich und gesetzeshütend in Aktion zu treten, als drinnen im Saal die Bässe angeworfen wurden und die erste Tonprobe begann. Aber niemand hatte ihnen gesagt, welche Gesetze jetzt hätten mit polizeilicher Geradlinigkeit durchgesetzt werden müssen. Ruhestörung vielleicht, unangemeldete Veranstaltung? Gefährdung der öffentlichen Sicherheit?
Da ihnen aber niemand gesagt hatte, was sie durchzusetzen hatten, sondern einfach hierher beordert waren, „um Präsenz zu zeigen“, schritten sie nicht ein.
Aber das wusste hinterher sowieso nur der, der sie hinbeordert hatte. Und der ärgerte sich dann zu Recht, dass er den beiden keine genaueren Anweisungen gegeben hatte. Aber da war es zu spät.
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