LeserclubDer Anruf hatte Herrn L. natürlich genau in jenem Moment aus dem Traum gerissen, als er mit letzter Verzweiflung gegen wild angreifende Schatten von Wölfen, Füchsen, Bären und Tigern kämpfte. Zumindest hatte er beim Hochschrecken das Gefühl, dass es diese Raubtiere gewesen sein mussten, wirklich giftige, gierige Bestien, gegen die er sich verzweifelt mit einer zusammengerollten Zeitung wehrte. Ansonsten hatte er das dumme Gefühl, nur mit einem alten, schäbigen Lendenschurz bekleidet gewesen zu sein.
Vielleicht war es ein ferner, ferner Vorfahr aus den dunklen Schlünden der Zeit, der ihm damit eine Botschaft zukommen lassen wollte, wenn auch nicht recht klar war, welche. Und ebenso erging es dem völlig verschwitzten Herrn L., als er das Telefon schnappte und mächtig schwankend aus dem Schlafzimmer tappte. Sein Kreislauf war wohl doch noch im Tiefschlaf. Die ganze Schlacht gegen die Bestien hatte nur in einem irrlichternden Gehirn stattgefunden, das nebenbei bestimmt versucht, auch noch den gestrigen Kinobrand irgendwo in eine leidlich passende Kiste zu verstauen.
Die Stimme am anderen Ende der Leitung kannte er nicht. Aber sie klang ihm doch sehr vertraut nach der amtlichen Bissigkeit eines übernächtigten Beamten, der ziemlich widerwillig tat, was ihm aufgetragen war. „Wenn Sie dabei sein wollen, wie wir die Kerle abführen, sollten sie in zirka 20 Minuten plus minus an der Alten Landstraße sein. Sie wissen, wo das ist?“
Herr L. wusste. Und dankte. Und der Dank ging schon im nächtlichen Ätherrauschen unter.
Wann hatte das überhaupt angefangen, dass diese bärbeißigen Hüter der Ordnung begannen, die Presse wie einen lästigen kläffenden Hund zu behandeln? Oder war das schon immer so gewesen und L. hatte es nur nicht so heftig wahrgenommen wie an diesem trüben und von Regen getränkten Morgen, als er – eilig in Hose, Schuhe und Mantel gestürzt – hinauseilte auf die Alte Landstraße, wo die peinlich mit Zierrat überladene Villa des Landtagsabgeordneten stand, der gestern Abend noch mit der ihm beigebenden Blondine als Erster den Kinosaal verlassen hatte.
Die Geste blitzte vor L.s innerem Auge auf, mit der der Abgeordnete zur Sängerin auf der Bühne hinaufzeigte, auch wenn nicht zu verstehen war, ob sie anklagend gemeint war oder drohend. L. hatte ja kein Wort verstanden. Auch wenn er mit so etwas Ähnlichem gerechnet hatte. Und nicht nur vom Abgeordneten Fuchs, der sich ja fühlen musste wie ein Angeklagter, angeklagt, seine politischen Geschäfte mit seinen privaten zu verbinden und dabei manchmal nicht immer rücksichtsvoll vorgegangen zu sein, wenn man das ein wenig übertreiben wollte. Immerhin hing der Tod zweier junger Frauen im Raum, beide Fälle auch nach Jahren nicht aufgeklärt.
Wehrte sich der sichtlich etwas ergraute und vergilbte Abgeordnete, der sein Mandat seit Jahren so sicher hatte wie das untertänigste Wohlwollen all der Leute, die ihm ihre Stimmen gaben, gegen die Unterstellung, er hätte etwas mit dem Tod der beiden Frauen zu tun? Hing ihm zumindest der Tod der Prinzessin nicht immer noch an, auch wenn die Polizei nie eine Spur gefunden hatte, die auf seine Beteiligung an dem Unfall hinwies, der so auch in den Akten verbucht worden war, auch wenn die eine oder andere Zeitung die Geschichte immer wieder aufwärmte.
Und irgendwie ahnte Herr L. ja, dass es auch diesmal so kommen musste. Nur dass ihm das Blatt der fetten Buchstaben und absoluten Behauptungen im Text sogar selbst eine Nähe zum Geschehen unterstellte. Was er erst am nächsten Tag lesen würde, nicht die Bohne neugierig darauf, was der Blasse aus seinem eiligen Vorbeifahren am Schauplatz machen würde. Dass er ebenfalls von einer barschen Polizistenstimme aus dem Schlaf gerissen worden war, bezweifelte Herr L.
Wohl eher versuchte der Blasse auf seine Weise herauszubekommen, was bei der Konkurrenz passierte. Vielleicht sogar einen Dreh zu finden, den regennassen Herrn L. irgendwie selbst ins Zwielicht zu rücken, frei nach dem Motto, irgendetwas würde schon hängenbleiben. „Aus welchen Kreisen bekommt dieser Herr L. seine Informationen? Dürfen wir einmal mutmaßen? Sind es die russischen oder die sizilianischen Familien, die in unserer schönen Stadt seit Jahren für Unruhe sorgen und unbescholtene Bürger ins Zwielicht bringen? Geht es hier um Marktbereinigungen, wie man das in eingeweihten Kreisen nennt? Spielt der ungesühnte Mord an einem ehemaligen Sowjetbürger, an den wir uns alle erinnern, dabei eine Rolle? Und woher bezieht die Zeitung des Herrn L. ihre Informationen?…“
Aber wie gesagt, das würde er erst später lesen, mit dröhnendem Kopf, laufender Nase und mit dickem Schal um den Hals, von seiner Mascha emsig umsorgt, aber eben völlig verschnupft. Und ein dumpfer Gedanke würde die Fragen hin und her drehen und sich fragen: Meint der uns? Oder war er besoffen, als er das noch nach Mitternacht in die Spalten hackte, damit die Zeitung mit den fetten Zeilen am Montag was Eigenes, durch niemanden Überbietbares zu bieten hatte? Etwas, nach dem die Leute greifen würden, weil hier endlich …
Und sie griffen. Das wusste L. Sie griffen auch nach Jahren noch danach, obwohl eine dieser einmalig tollen Geschichten nach der anderen sich in Luft auflöste, zerbröselte wie Sandkuchen im nächsten Regenhusch … Autsch. Nur nicht dran denken. Auch wenn er in dem Moment ja eigentlich nur Brodeln im Kopf und triefende Nase war, ein belämmertes Restchen Mensch, das jetzt erst einmal ein paar Tage lang außer Gefecht gesetzt war. Dabei hatte er sich nach seiner quietschnassen Rückkehr vom verregneten Verhaftungsort wirklich noch in die Redaktion bemüht und sich durchs Polizeipräsidium telefoniert, bevor er wenigstens in Konturen wusste, wer da warum wirklich verhaftet worden war.
Und natürlich war es nicht der ehrenwerte Herr Abgeordnete. Der hatte wohl nur – vielleicht ein, zwei Stunden nachdem der Brand bemerkt worden war und die Feuerwehr noch vergeblich gegen das Abbrennen des alten Kinos kämpfte – selbst die Polizei verständigt, dass zwei dubiose Gestalten in seiner Villa aufgetaucht waren, die er für Einbrecher halten musste, die aber nichts wollten, sich auch nicht vertreiben ließen, als der Abgeordnete damit drohte, sie mit seiner Jagdflinte (O ja, er war ein begeisterter Jäger von Schweinen, Rehen und Hirschen …) über den Acker zu treiben, im Gegenteil, sogar handgreiflich wurden, sodass sich der völlig derangierte Abgeordnete und seine Begleiterin in einem Bad verbarrikadieren mussten, zum Glück das Taschentelefon dabei, sodass die Polizei sehr schnell vor Ort war, die Villa absperrte und ein stundenlanger Nervenkrieg begann, der erst endete, kurz bevor einer der überreizten Beamten Herrn L. aus dem Bett klingelte.
Hätte der Blasse davon erfahren, er hätte seine Knallergeschichte mit Kidnapping eröffnen können.
Aber nicht einmal das schienen die beiden Kerle gewollt zu haben. Wenn Herr L. die Auskünfte eines eher subalternen Beamten richtig sortierte, hatten sie eher so etwas wie freies Geleit haben wollen, wozu ihnen die Präsenz des Abgeordneten irgendwie wichtig zu sein schien. Aber warum gerade der? Dazu wusste auch der subalterne Beamte nichts zu sagen. Und anders als Herr L. schien er auch nicht zum Kombinieren und Mutmaßen zu neigen.
„Der Herr Abgeordnete hat uns eindeutig zu verstehen gegeben, dass diese beiden Männer russischer Herkunft gegen seinen Willen in sein Wohnhaus eingedrungen sind und ihn dabei mit unerfüllbaren Forderungen unter Druck gesetzt haben …“
„Zwei Männer russischer Herkunft?“
„Mehr kann ich dazu nicht sagen. Mehr wird auch nicht in unserer Pressemitteilung stehen. Der Herr Abgeordnete betonte uns gegenüber, dass er diese Leute weder kennt noch jemals gesehen hat, dass sie ihn wohl wegen seiner Bekanntheit aufgesucht hatten …“
„Und warum? Die suchen doch bestimmt kein Asyl …“
„Nach Auskunft des Herrn Abgeordneten sollen sie sich demgemäß geäußert haben, dass man sie irgendwie mit dem gestrigen Brand in Verbindung bringen könnte …“
„Das heißt: Es sind die beiden Brandstifter?“
„Solange wir noch keine entsprechenden Untersuchungen …“
„Und in wessen Auftrag?“
„Davon kann, soweit wir wissen, keine Rede sein.“
„Aber doch nicht an einem Tag, wo alle wissen, dass das Kino voll besetzt ist.“
„Das könnte zumindest die Schwere der Straftat …“
„Aber warum flüchten die dann ausgerechnet ins traute Heim unseres allseits geliebten Herrn Landtagsabgeordneten?“
„Sie wurden wohl aufgescheucht.“
„Durch wen?“
Da schwieg der auskunftsfreudige Beamte. Und schwieg auch noch, als Herr L. seine Frage wiederholte.
„Kann es sein …?“
„Mehr soll ich Ihnen dazu nicht sagen“, sagte der Mann und legte auf.
Womit sich für Herrn L. zumindest erklärte, warum selbst der Polizeipräsident schon am Tatort war, als das Kino gerade erst anfing zu brennen. Die Polizei war schon länger da gewesen. Unübersehbar. Und sie wusste auch mehr über diese beiden Männer, die nichts Blöderes zu tun hatten, als sich in die Villa eines stadtbekannten Abgeordneten zu flüchten. Als kannten sie ihn. Und als erhofften sie sich, so mit heiler Haut aus der Geschichte zu kommen.
Aber wen ruft man an, wenn es in L. um ein paar kokelnde Russen ging?
L. wusste es.
Aber Oleg nahm nicht ab.
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