LeserclubKönnen Sie abschalten? Können Sie ihren Job nach Feierabend im Büro lassen, nach Hause fahren und ein völlig anderer Mensch sein? Herr L. konnte es nicht. Er hätte es nur zu gern gekonnt. Sich verwandelt in einen Wochenendmenschen, der nur noch Wochenendgedanken hat. Zum Beispiel mit Mascha in Olegs Tschaika steigen und losdüsen, den Kofferraum vollgepackt mit Picknickereien. Aber der Tschaika war ja im Eimer.
Oleg zeigte sich eher kurz angebunden. Auch wenn er es nie zugegeben hätte, dass er sich ohne fahrbaren Untersatz regelrecht nackt fühlte, entmannt sozusagen. „Ein ordentlicher Kerl braucht PS unterm Chintern. Ohne PS kein Spaß, verstähst du?“
Also fiel der versprochene Ausflug ins Wasser. Was beim Anblick des Himmels auch so schade nicht war, auch wenn das Wetter bei den Wochenendausflügen der vier eher keine Rolle spielte. „Ein richtiger Russe ist ganz was anderes gewohnt, glaub mir.“
Deswegen waren Zelt, Spirituskocher, Pelzmützen und dicke fette Schafwollpullover auch immer im Laderaum des Autos zu finden. Das aber stand nun in der Werkstatt eines weitverzweigten Freundes, wie Oleg erklärte. „Polizia war auch schon da. Wird dicke fette Rechnung für Towarisch Iwan, kann er schon mal seine Mamutschka fragen, ob sie ihm mal Geld leiht. Das wird taier, sag ich dir.“
Wie aber verlässt man die am Wochenende viel zu kleine Stadt, wenn man mal wirklich nicht alle Nase lang bekannte Nasen treffen möchte und L.s Mascha nach dem doch eher verstörenden Gespräch am Frühstückstisch kommentarlos verschwand? Fast kommentarlos. Mit einem Hauch von Duft nach wilder Minze, Salbei und Liebstöckel …
Na ja, hätte er eine feinere Nase gehabt, hätte er das bestimmt unterscheiden können. Wahrscheinlich war es eher der Duft frischer Küchenkräuter, denn für die obligatorische Abendsuppe hatte sie schon alles vorbereitet. Und der Augenaufschlag war auch echt, so ein ernsthafter Blick, der in anderen Paarbeziehungen bestimmt in einen handfesten Krach ausartet, hier aber wohl nur das vorsichtiges Abtasten war: Pariert der Kleine oder bekommt er nun das Bedürfnis, seiner Lebensliebsten hinterherzusprinten wie ein anhängliches Hündchen? Ihr also die Freiheit zu beschneiden, die eine Frau zuweilen braucht. Auch wenn es für die Zurückbleibenden immer ein wenig so aussieht, als fahre sie jetzt ohne großes Lebewohl einfach nach Amerika. Oder nach Nirgendwo.
Da schluckte er lieber, schlug den guten Rat in den Wind, sich mit dem nächstliegenden dicken Buch in die Ecke zu setzen und sich einfach mal für einen Tag auszuschalten aus den unberechenbaren Bocksprüngen des Lebens.
Da schnappte er doch lieber Mantel und Mütze und führte sich selbst auf die Gassen der Stadt, die nun schon deutlich belebter waren, weil allerenden frische Plakate an den Hauswänden klebten, jetzt tatsächlich mit Uhrzeit und Ort. Was letztlich das Tuscheln bewirkte, das ihm da und dort zu Ohren kam.
Denn dass jemand zu einem Konzert mit Feuerwerk ins alte Kino „Kosmos“ einlud, war durchaus eine Überraschung für die Leute, die dort einst in frischblühender Jugend für Romy Schneider geschwärmt hatten oder für den einen oder anderen heimischen Indianer. Zeit vergeht. Aber Sehnsüchte bleiben. Sie sind der Lockstoff, der Menschen dazu bringt, dann doch das Ungeplante und Verrückte zu tun.
Die kleinen Grüppchen sahen schon ganz so aus wie Verschwörungen. Auch wenn es noch nicht um Königsmord ging, eher um einen alten, nie erfüllten Wunsch, noch einmal auf den roten Sitzen zu schweben und Märchenhaftes zu erleben.
Er sah sogar einige der jungen Leute auf ihren Motorrollern, die diese Plakatspuren in der Stadt hinterließen. Die stämmigen Burschen im Auto, das ihm ein Stück weit folgte, sah er nicht. Oder er tat so, als ob, bog lieber pfeifend in eine der Gassen ein, auf denen man ohne Umweg in die nächste Straße gelangte, überschritt die Straße dort lockeren Schrittes, was wochenends zuweilen möglich ist, wenn der übliche Alltagsverkehr nicht mehr drängelt und grimmt, nutzte die nächste Gasse zum Hineinschlüpfen und hatte schon einen Fuß auf den Stufen zu Don Leones bekanntestem Café, aber der Maestro selbst öffnete ihm schon, wenigstens einen halben Türspalt.
„Jetzt nicht, mein Lieber. Ich hab zu tun, ich geplagter Mensch. Aber wie wäre es heute Abend? Ich lade Sie ein!“
Ein strahlendes Lächeln, wie es nur Italiener fertigbringen, die wissen, was sie ihrer stolzen Nation schuldig sind in den Augen der vorurteilsfreien Welt. Die aber auch wissen, dass der Bursche da halb auf der Treppe was weiß oder ahnt.
Also am Abend. Sein Näschen hatte ihn wohl doch nicht getrogen. Auch wenn er beim Erraten von Düften wohl eher kein so verblüffendes Talent entfaltete. Nur bei manchen Gerüchen wie dem nach frisch gebrühtem Espresso. Dass ein Auto mit quietschenden Reifen abbremste, verbuchte er eher unter „Beiläufiges“.
Während er sich zum Hermannkai aufmachte, dieser noblen Ecke, wo an Wochenenden für gewöhnlich Totenstille herrschte. Denn das teure Pflaster bestand ja fast völlig aus Büros, deren Miete sich nur Leute leisten konnten, die an Wochenenden garantiert keine Überstunden schrubbten, sondern sich eher auf Golfplätzen tummelten oder bei einer gemütlichen Fasanen-, Wildschwein- oder Krähenjagd. Leuten wie dem Mammut.
Da darf man stutzen. Denn heute brannte Licht in Mammuts Kanzlei. Und wäre der gewichtige Rechtsanwalt nicht gerade aus der Haustür getreten, hätte L. ja durchaus Seltsames vermuten können. Aber der große, breitschultrige Mann schritt tatsächlich fast auf ihn zu, schien ihn spät erst zu entdecken, stutze – und sie sahen sich an, wie man sich ansieht in Momenten, in denen der Regisseur für gewöhnlich die Musik einspielt, in der der Wind pfeift und das Gitarrensolo zunehmend dramatischer wird.
Aber auf Mammuts Gesicht springt unverhofft ein breites Grinsen. Herr L. schaute beinah staunend zu, wie aus dem kampfbereiten Koloss im Zusehen ein Mann wurde, der so einnehmend strahlte wie der Weihnachtsmann, wenn er tatsächlich einen Sack voller Geschenke mithat.
„Der fleißige Herr L., ich BIN ja überrascht, mein Lieber. Sie hier zu sehen. Am frühen SamstagMORGEN!“
Die Pranke hatte er so unverhofft vorgestreckt, dass L. gar nicht anders konnte, als sie zu ergreifen und seine Hand schütteln lassen in einem Übergriff unbändiger Freude, die er Mammut ganz bestimmt nicht zutraute, was wohl auch Mammut wusste. Aber während der eine in seinem Städtchen das Misstrauischbleiben gelernt hatte, hatte der andere gelernt, wie man Misstrauen einfach mit überschäumender Herzlichkeit niederwalzt und dabei immer noch in voller Rüstung dasteht, sodass selbst an so einem eher koffeinarmen Samstagvormittag jeder von beiden wusste, wo er stand.
Und Herr L. nur zu zählen brauchte, genau bis Drei, dann beugte sich der gewichtige Mann zu ihm herüber, sodass er sein Aftershave riechen konnte und in seine netten kleinen Elefantenäuglein schaute: „Suchen Sie hier etwas, mein lieber L.?“
Natürlich suchte er.
Oder der andere in ihm, der einfach nicht Feierabend machen konnte und nie wusste, wann ein Wochenende wirklich anfing, schon gar nicht, wann es aufhörte. Er wusste, dass er nicht zufällig hier gelandet war, schon gar nicht wegen der protzigen Schönheit dieser übersanierten Straße.
„Nein“, sagte er deshalb.
Und weil das hätte falsch verstanden werden können, fügte er noch mit etwas Verzögerung hinzu: „Eigentlich hab ich schon …“
„Sie haben schon? Gefunden?“
Wie schön sich doch diese frisch erwachende Verachtung mit der großartigen Freundlichkeit vertrug. L. hatte den schwergewichtigen Mann ja oft genug gesehen, selbst vor Gericht, wie er seine niederwalzende Fröhlichkeit blitzschnell in dicken, fetten Argwohn verwandeln konnte – und er hatte schon manchen Zeugen damit verunsichert und in Verzweiflung gestürzt, genau in jenen Zustand der Hölle, in dem selbst die besten Zeugen durch Stottern und Ratloswerden wertlos wurden.
Nur schien dem Mann bei L. das Spiel wohl nicht allzu hilfreich. Vielleicht auch, weil er diesen sonst so unscheinbaren Schreiber doch etwas ernsthafter betrachtet hatte, als man es einem Mann in seiner Position zutraute. Vielleicht nahm er ihn sogar ernst, wer wusste das schon?
Herr L. jedenfalls war sich in diesem Moment felsenfest sicher, dass gerade dieser Mammut ihn nie und nimmer ernst nahm. Und nach dem Kurzausflug nach London, oder wo immer er so unverhofft hingeeilt war am Beginn dieser Geschichte, schien der Mann noch sicherer zu sein, alles bestens geregelt und geklärt zu haben.
„Also stehen Sie tatsächlich wegen meiner bescheidenen kleinen Person hier? Ich staune, Herr L.“, brüllte der Mann, den sie Mammut nannten, so laut, dass es jeder hören musste, wenn wirklich jemand noch in dieser Straße wohnte. Gingen nicht irgendwo Fenster auf?
„Vielleicht“, sagte Herr L. „Vielleicht auch nicht. Aber warum arbeiten Sie am Samstag?“
„Warum nicht“, brüllte Mammut. „Ich bin ein freier Mann. Und wie sie wissen …“
Er hatte ihn also tatsächlich wahrgenommen bei diesem Vorüberwalzen in der Halle des Bahnhofs.
„Manchmal komme ich eben erst am Wochenende dazu, ein bisschen aufzuräumen. Sie wissen ja, wie das ist …“
„Wie sollte ich das wissen? Ich komme nie dazu“, sagte L. „Immer bleibt was liegen. Leute antworten nicht, Akten lassen sich nicht auftreiben, das eine Interview passt nicht zum andern, die Leute fragen, wie die Geschichte weitergeht … und dann sitzt man da und rauft sich die Haare“, sagte L.
„Das tut mir wirklich leid für Sie, mein Lieber“, sagte Mammut und tippte ihn so burschenschaftlich an die Schulter, dass L. schon fürchtete, der einnehmende Mann würde ihn im nächsten Moment zum Rendezvous ins nächste Café einladen. Oder gar zu einer gemütlichen Homestory nach Hause. Wenn er auch nur dran dachte …
Er drückte den Schauer lieber weg, trat ein Schrittchen beiseite, sodass Mammut selbst zurücktreten musste. Sergio Leone hätte seine Freude gehabt beim Ineinanderblenden der Blicke der beiden, die – das konnte L. zumindest von sich sagen – von reiner Neugier und bestmöglichem Interesse an der Person seines Gegenüber erfüllt waren. Was Mammut dabei dachte, konnte er vermuten, aber nicht wissen. Nur dass er wusste, dass Mammut genug vermutete, um zu wissen, dass Herr L. genug wusste, um zu vermuten, dass Mammuts Mission in Übersee erfolgreich und endgültig war.
Alles klar, frage Herr L. sein noch etwas müdes alter ego.
Und vielleicht fragte auch Mammut das seine und kam zum selben Schluss und griff umso beherzter noch einmal nach Herrn L.s rechter Hand, um sie noch einmal noch beherzter zu schütteln.
„Ich freue mich immer, Sie zu sehen, mein lieber Herr L. Glauben Sie mir. Egal, was andere Leute sagen, das versichere ich Ihnen.“
Und dann lud er ihn tatsächlich mal auf einen Kaffee ein. Aber nicht jetzt. „Sie verstehen: So viel zu tun! Und morgen Abend …“
Tja, da hatte er also auch eine schöne Einladung auf dickem Büttenpapier bekommen und schien sich inwendig ganz außerordentlich zu freuen, dass da endlich einmal etwas geschah in diesem „eigentlich, mein lieber L., doch ziemlich verschnarchten Städtchen, finden Sie nicht auch?“
„Bestimmt“, sagte der etwas munterere L.
Der andere befreite lieber seine arg gebeutelte Hand aus der des überschäumenden Rechtsanwalts, der elegant auf den Hacken herumwirbelte, um mit einem Wind davonzueilen, der andernorts bestimmt als Orkan durchgegangen wäre. Und dann war es tatsächlich still am Hermannkai. Nur die Fenster in Mammuts Kanzlei leuchteten, weil dieser Teil der Straße selbst bei schönstem Sonnenschein meistens im Schatten lag. Und ein dünner blauer Schatten war auch ab und zu am Fenster auszumachen, verschwand aber gleich wieder.
Und als das Auto mit quietschenden Reifen am einen Ende der Straße auftauchte, schlenderte der noch immer etwas samstagmorgenmüde L. gerade am anderen Ende um die Ecke, sich selbst verfluchend, weil sein unausgeschlafenes anderes Ich selbst an einem so schönen Tag nicht aufhören konnte, seinen eigenen Schatten zu suchen. Und natürlich nicht ahnend, dass es in dieser kleinen Stadt gar keine anderen Wege gab als solche, die Unaufmerksame immer wieder genau dahin bringen mussten, wo die losen Enden der Woche noch immer herumlagen.
Und warteten, als hätten sie genau gewusst, dass Herr L. noch vor dem Mittagessen genau hier vorbeikommen würde.
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