LeserclubKam das unseren beiden kleinen Lokalreportern nicht erstaunlich vertraut vor? Diese Liebe zu runden, hübschen, knallharten Geschichten? Reif für eine Verfilmung? Sauber durcherzählt bis zu der Szene im Regen, wenn die Polizisten den Verdächtigen abholen, nur ein einsamer Reporter am Straßenrand, den Kragen hochgestellt, festhaltend, was festzuhalten ist? Seine Pflicht tuend. „Was denn für eine gottverdammte Pflicht?“

Wer hat denn das nun dazwischengerufen?

„Ich war’s nicht“, sagt das Stachelschwein, fast zufrieden in seine Ecke des Sofas gelümmelt.

„Ich auch nicht“, sagt Herr L.

„Aber ich kenn das“, sagt S.

„Ich auch“, sagt L.

„Dieser schaumige Fall Relativus!“

„Hieß der Bursche nicht Relexus?“

„Nein, ich glaube eher sowas wie Relokatius.“

„Nie gehört. Aber ich weiß, was du meinst: Ob wir zwei beide damals nicht genauso drauf und dran waren, uns völlig zu verrennen. Ich hätte schon gut Lust gehabt, die Geschichte einfach rund zu machen, Ross und Reiter zu nennen. Adressen, Zahlen, Millionen. Fetter Titel: ‚DIE RAUBTIERE VON L.‘ oder so. Ja, stimmt. Es kribbelt einen in den Fingern.“

„Mich nicht.“

„Dich auch. Die Szene ist von dir. Dieser kleine, tapfere Reporter mit hochgeschlagenem Kragen im Regen, Mütze in die Stirn gezogen, weil’s regnet wie aus Kübeln. Und am Straßenrand das Polizeiauto mit flackerndem Blaulicht. Fehlte bloß noch die nasse Zigarette im Mundwinkel …“

„Ich rauche nicht, das weißt du doch.“

„Aber genau so wolltest du es schreiben.“

„Vergiss die krächzenden Krähen über regenverhangenem Feld nicht.“

„Ach ja, und die nasse Zeitung am Kilometerstein sechs, als hätte sie einer wütend weggeworfen.“

„Unsere Zeitung.“

„Ach, wie mächtig wir sind.“

„War aber eine andere Geschichte. Und dass ich da stand, war auch nur ein Kuhhandel.“

„Siehste, in was für Abgründe wir hier geraten?“

„Das ganze Leben ist ein Kuhhandel. Hast du das nicht selbst gesagt? Jetzt willst du es nicht mehr wissen …“

„Doch doch, geb’ ich ja zu. Manchmal bin ich in diesem Laufburschenjob, um es mal so zu sagen, etwas zynisch geworden.“

„Das ist nur deine dicke Haut. Untendrunter bist du ein sentimentaler Zeilenschinder. Gib’s doch zu: Du willst doch auch nur, dass alles in Ordnung kommt.“

„Aber nicht mit dieser komischen Spezies zweibeiniger Höhlenbewohner.“

„Siehst du. UND SO WURDEN WIR EIN RICHTIGES PAAR …“

„Das ist jetzt aus einem völlig anderen Film.“

„Welcher Film ist der richtige? Der, wo zwei ausgebuffte junge Burschen den Präsidenten zu Fall bringen? So etwa? Mit spitzen Fingern über der Schreibmaschine? Verqualmtes Büro, noch ein Anruf beim geheimnisvollen Zuträger X. ,ein paar Andeutungen, ein paar heimlich übergebene Papiere …“

„Die du ja nun wirklich angeschleppt hast …“

„Und wenn du ehrlich bist, musst du zugeben: Irgendwas hat das Ganze bewirkt.“

„Ja, wie haben die Gerüchteküche angeheizt. Und dein Kumpel bei der Polizei …“

Eine kleine Übersicht über die Heldinnen, Recken und großen Tiere, die in dieser Geschichte immer wieder vorkommen

„War nie mein Kumpel. Auch später nicht.“

„Ich sag’s jetzt mal ins Off, für unsere lieben Zuhörerinnen und Zuhörer: Wer sich nicht gemeinmacht, bekommt nichts zu hören. Der steht nur dumm am Straßenrand, schreibt irgendwas Aufgeregtes, irgendeine wunderschöne Geschichte über das wundervolle Geschehen auf der Erde … und irgendwann kriegt einer raus, dass das meiste erstunken und erlogen ist, ausgedachter Bockmist, der so schön ins Märchenkino passt, DAS DIE LEUTE DA DRAUSSEN ERWARTEN!“

„Bist jetzt ein bisschen laut geworden.“

„Stimmt. Ich soll mich ja nicht so aufregen. Wenn’s nach den Leuten gegangen wäre, hätten wir am Montag den Bürgermeister festgenagelt und reif für den Kadi geschrieben …“

„Wir hatten alle Fakten auf dem Tisch …“

„Willst du mich veräppeln?“

„Scherz muss sein. Aber das Zeug hätte locker gereicht. Zumindest, um einen Mann aus dem Amt zu treiben und dastehen zu lassen wie einen Chicagoer Straßengangster … Stand ja dann auch so in der Zeitung.“

„Aber nicht in unserer.“

„Ja, weil ich immer ‚Nee,nee‘ gesagt habe, obwohl ein gewisser Kollege die ganze Zeit drängelte: ‚Das Zeug muss raus! Die GESCHICHTE IST HEISS! Wenn wir das nicht bringen, bringt es der Blasse in seinem Blatt. Der wartet doch nur drauf …“

„Und er hat es ja auch gebracht.“

„Mit unserem geschätzten Kollegen L. im nassen Mantel am Straßenrand auf einem Foto mit Regen und einsamer Villa …“

„Na ja, so halb angeschnitten, sonst wäre ja nur das Polizeiauto auf dem Foto gewesen, kein Mensch weit und breit. Irgendwie war er mir auf den Fersen, hat abgedrückt, sich 1 und 2 zusammengezählt …“

„Sollte man nicht machen.“

„Finde ich auch. Aber als ich das dann am andern Tag gelesen hab … Das Gefühl kennst du ja auch …“

„Och, ich war eigentlich schweinewütend, um das mal vorsichtig zu sagen.“

„Weil der die Geschichte hatte und wir nicht?“

„Weil ich dachte: Dieser Sauhund von L. Das was UNSERE GESCHICHTE! Die lassen wir uns von so einer Pfeife einfach WEGSCHNAPPEN …“

„So eine wunderhübsche Geschichte. UNSER BLATT DECKT AUF!!! Davon träumen sie alle. Die mit dem Spekulatius auch.“

„Ich glaube, er hieß Reflexius.“

„Ist auch egal. Ich hätte dich ohrfeigen können.“

„Hast du aber nicht.“

„Kommt in die Redaktion zurück, pitschnass. Und sagt mir armer Sau ins Gesicht, dass die Geschichte so nicht funktioniert. MIR! DEM HERRN ALLER TOLLEN GESCHICHTEN!“

„Nun übertreib nicht. Du hast mir selbst oft genug gesagt: ‚Erzähl mir keine Märchen. Mach die Leute nicht schlimmer, als sie sind. Suche die menschlichen Motive und nicht die Verbrechermotive. Mal keine Ölbilder. Und halt dich nicht für den Richter aller Gerechten.‘ Alles deine Sprüche. Ich hab noch mehr davon. Soll ich sie rausholen?“

„Machst du doch immer. Find ich eigentlich gemein, so von Jungspund zu erfahrener Redaktionssau, die ich bin. Aber ehrlich? Wenn du mir nicht meine eigenen Sprüche ab und zu um die Ohren gehauen hättest …“

„Ich bin dir nie grantig gekommen.“

„Weiß ich. Aber weißt du auch, wie diese Sprüche wirken?“

„Wie Bremsklötzer?“

„Nein, wie richtige Männerbackpfeifen. Richtig rein in die Fresse. Hättest du auch einen Eimer kaltes Wasser nehmen können und mir über den Kopf kippen. Frisch nach der Devise: Stachelschwein, du bist besoffen. WERD WIEDER NÜCHTERN …“

„Dieses Gefühl, bei einer Geschichte so richtig auf Speed zu sein …“

„Ich hab nie irgendwelches Koks gebraucht.“

„Der Stoff ist das Speed. Manche brauchen das Zeug immer stärker.“

„Am Ende siehst du lauter Konfetti: WAS bist du nur für eine geile Schreibersau!“

„Ob’s dem so ging, diesem Nepotius?“

„Es war was mit R, R wie Rektor oder Rocket. Rektorius vielleicht.“

„Ist auch egal. Vielleicht hat es was mit dem Testosteron zu tun. So ein richtig fettes Gefühl von …. fällt mir jetzt nicht ein.“

„Macht?“

„Eher so: Allmacht …“

„Du meinst: Anmaßung? ICH, der große Enthüller?“

„Ja, so ungefähr. Aber ich denke: Wir wären beide nicht richtig glücklich geworden, wenn wir die Geschichte gepackt hätten.“

„Wir haben sie aber gepackt.“

„Aber nicht, wie wir anfangs dachten.“

„Wir zwei Schlauberger und Fuchsdiebe.”

„Sie hätten uns fast auf die falsche Spur geschickt.“

„Aber wir haben die Hühner trotzdem aufgescheucht.“

„Das stimmt, sonst wären nicht auf einmal so viele Rechtsanwälte aufgetaucht. Und Polizisten.“

„Aber du weißt bis heute nicht, wer dir die ganzen Kopien zugesteckt hat.“

„Ich hab aber eine Vermutung …“

„Obwohl der Kerl irgendwo am Bodensee sitzt? Oder saß?“

„Ich hab meine Vermutungen. Aber ich kann’s nicht beweisen. Außer ich erzähl so eine Spekulatius-Geschichte, wie ich mit dem abgebrühtesten aller Ganoven von L. bei einem schwarzen, ja, fast finsteren Espresso in einer schlecht beleuchteten Bar sitze und ihm ins Gesicht sage: ‚Du warst es.‘ – Und der nur einmal mit der Wimper zuckt, aber den Kopf schüttelt und mir mit leichtem Knarren in der Stimme sagt: ‚Sie sollten nicht alles glauben, was man Ihnen erzählt,Herr L. … ‘“

„Knarren in der Stimme?“

„Ich könnte auch ‚ein bisschen ölig‘ sagen, oder ‚mit einem leisen Knurren‘ oder ‚mit einem unverhofften Grinsen‘.“

„Kommt für mich nicht auf dasselbe raus. Klingt eher wie eine erfundene Geschichte. Also, wer war’s?“

„Wie gesagt: Ich vermute nur. Und wenn ich nur vermute, hol ich lieber so einen alten Stachelschwein-Spruch aus der Tasche. Zum Beispiel: Wenn du’s nicht beweisen kannst, guck lieber auf dein Konto.“

„Hab ich das gesagt?“

„Ja, hast du. Oder den: Wer Zweifel hat, sollte keine Gerüchte verbreiten.“

„Hat sich immer bewährt, mein Lieber. Wir haben einen Ruf zu verlieren.“

„Glaub ich zwar nicht, aber könnte passen. Auch wenn’s keiner glaubt.“

„Die Leute schon …“

„Ein kleiner schwarzer Espresso, ein paar Worte, die auch irgendwie eine Antwort sind. Das fühlte sich jedenfalls nicht gerade wie ein Heimsieg an. Eher wie dieser blöde Nieselregen am Montag.“

„Also ein schönes Bild, bloß weil du dich gefühlt hast wie ein nasser Hund?“

„Ja, warum schreiben denn diese Malutiusse solche Geschichten? Warum wohl? Sie wollen doch alle wie die Könige sein, Geschichtenfinder vor dem Herrn.“

„Bist du jetzt in der Kirche?“

„Ja, in der Kirche der ungläubigen Thomasse und ewigen Zweifler. Ist ein blödes Gefühl.“

„Welches?“

„Das danach. Wenn du die ganze schöne Geschichte, die du schon im Kopf hast, wofür du schon alle Szenen gedreht hast und die Titelzeilen fertig … einfach streichst, wegwirfst, fallenlässt wie ein nasses Papiertaschentuch. ES WÄRE ZU SCHÖN GEWESEN. Ich hab’s richtig vor mir gesehen – einen kleinen Amtsträger vor einem Wald von Mikrophonen, der eigentlich nur noch ‚Entschuldigung!‘ sagen kann, weil alles gesagt ist.“

„So wie in ‚Vom Winde verweht‘?“

„Nein, so wie in ‚Spiel mir das Lied vom Tod‘.“

„Aber zum Sheriff fehlt dir was …“

„Oh, das hab ich nur zu gut gewusst. Es wäre eine wunderschöne Geschichte geworden. Preisverdächtig und pipapo …“

„Kommt mir bekannt vor, das Wort.“

„Ja, das sagst du immer, wenn dir meine Geschichten zu glatt vorkommen, zu perfekt. PREISVERDÄCHTIG. – Ich finde das ein bisschen perfide.“

„Was sollte ich denn sonst sagen?“

„Die Story ist mir zu glatt. Da fehlt mir der Haken.“

„Hab ich das nicht gesagt?“

„Ja, hast du auch. Ich müsste dich eigentlich verabscheuen für die vielen Male, als ich von dir so einen Kommentar bekommen habe. Dieses ganze bescheuerte Nacharbeiten.“

„Und, hat es dir geschadet?“

„… und dann hab ich die ganze schöne Geschichte entsorgt. Und du hast mich angeblafft, wo denn meine Geschichte bleibt. DIE GANZE STADT IST IN AUFRUHR. WIR MÜSSEN JETZT TABULA RASA MACHEN. RAUS MIT DER STORY. – Da wusste ich, dass du recht hattest …“

„Aber ich war doch im Unrecht …“

„Nein, vorher. Noch so ein Spruch: Unsere Ruhmsucht macht uns blind.“

„Der ist von mir. – Ruhmsucht ist aber nicht wirklich ein Wort, das ich benutze.“

„Kann auch Eitelkeit gewesen sein. Oder Leichtgläubigkeit. Irgendsowas. So eine kleine kalte Dusche für die Manteltasche. Praktisch, als Mund- und Gehirndusche: Glaub nicht alles, was sie dir erzählen. Glaub nichts von dem, was du siehst.“

„Wenn ich das alles gesagt haben soll …“

„Hast du. Und deshalb bekommt unsere kleine, traurige Zeitung keine Preise. Alle meckern uns an, jeder ist beleidigt.“

„Aber sie kaufen uns noch ..“

„Ja, komisch. Obwohl der Blasse immer die besseren Storys hatte. Solche Geschichten, die einen richtig neidisch gemacht haben. Jeden verdammten Tag.“

„Wo ist der heute überhaupt?“

„Ich glaub, ich weiß es.“

„Damals jedenfalls ist er schnell umgesetzt worden.“

„Weggelobt, sagt man wohl.“

„Und einen Preis hat er auch nicht gekriegt …“

„Schade irgendwie. Wollen wir jetzt was trinken gehen oder haben wir noch was vor?“

„Vielleicht noch eine schöne Weihnachtsgeschichte?“

„Verschone mich. Die Story war mir immer suspekt.“

„Was war dir denn daran suspekt?“

„Am meisten dieser Pontius Pilatus ….“

„Ich glaube, so hieß der andere auch.“

„Nein nein, das täuscht …“

Wir blenden uns raus aus diesem späten Gespräch. Es gibt noch einiges fertigzuerzählen. Nicht rund, nicht schön. Ein bisschen nass. Jedenfalls am Montag, wenn wir den endlich erreichen bei unserem Tempo.

Die Serie „Was passiert jetzt …“

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar