LeserclubL. Ein Montag in der nassen Jahrszeit. Und es regnet. Schon seit Stunden. Seit einer Stunde steht ein Mann am Straßenrand und wartet. Er weiß nicht, was in dem Haus passiert, das hier zwischen grünen, kurzrasierten Wiesen steht. Golfplatzgefühl. Eher eine Villa mit Ziertürmchen, einem Balkon auf wuchtigen Säulen, einer breiten Freitreppe, die geradezu einlädt, dass man mit Vierspänner vorfährt. Die Einwohner von L. kennen das Anwesen. Es gehört einem Politiker, den hier jeder kennt. Im Guten wie im Strittigen. Und es regnet.
Böse Worte wird hier niemand über ihn benutzen. Er gilt als Wohltäter. Seit 12 Jahren sitzt er für diese kleine Stadt – mit ihrem kleinen, aber nicht unwichtigen Eisenbahnanschluss – im Landtag. Bekannt ist er für seine Fleißarbeit für die Gelder für den Sportplatz, den Kindergarten am Wäldchen, den kleinen Park, der an den See grenzt, der jüngst für ein paar Tage die Gemüter der Bürgerschaft erhitzte. Die Wellen sind noch nicht verebbt. Das Rathaus hat verneint, dass es eine Baugenehmigung für ein Haus direkt am See gab. Das Grundstück? Es gehört der Stadt, sagt das Rathaus.
Eine bekannte Rechtsanwaltskanzlei verneinte das auf Anfrage. Nein. Die Besitzrechte lägen bei einer Gesellschaft mit bekanntem Namen. Das sei im Grundbuch nachlesbar. Ist der Politiker Gesellschafter? Nein, sagt die Rechtsanwaltskanzlei.
Es regnet. Am frühen Morgen kam der Anruf. Die Nacht war kurz. Ganz andere Ereignisse beschäftigen seit Sonntagabend die Bürger. Die Bilder mit dem Brand werden heute die Titelseite füllen. Was ist los in dieser kleinen Stadt? Welche Geister sind da entfesselt?
Zwei Polizeiwagen stehen am Straßenrand, beide mit Blaulicht, als hätte es einer vergessen auszustellen. Oder es musste wirklich sehr schnell gehen. Ein Einsatzkommando. Von den Polizisten ist nur einer zu sehen. Doch er darf keine Auskünfte geben. Die anderen sind im Haus, das sich in die hügelige Wiesenlandschaft duckt, als wolle es nicht zu groß erscheinen.
Nicht zu protzig. Auch wenn das eiserne Torweg, das jetzt offen steht, vom Wunsch des Bewohners erzählt, ungestört zu bleiben. Eine Gegensprechanlage ist zu sehen, eine lange Auffahrt, eine Kamera. Der Politiker, den alle kennen, hat gelernt, auf Abstand zu bleiben. Er schützt sein Privatleben. Kaum einmal, dass auf einem Foto auch seine Frau zu sehen ist. Zuletzt beim Wohltätigkeitsball des Bürgermeisters, der seit Tagen so unter Beschuss steht.
Ein Interview mit ihm steht noch aus. Er hat es zugesagt, aber sein Sprecher findet keine freie Stunde im Terminkalender. Sagt er. Morgen sei er in der Landeshauptstadt, übermorgen seien Gespräche mit einigen besorgten Unternehmern angesetzt. Seit die kleine Stadt in den Schlagzeilen ist, macht sich Unruhe breit, fürchtet mancher um seine Geschäfte.
Was tun?
Vielleicht Donnerstag, ein halbes Stündchen, hat der Sprecher gesagt.
Und es regnet, fein und kalt. Ein Wetter, bei dem man auch den Hund nicht hinausjagt. Aber als der Anruf kam, war die Nacht vorbei. Den Mantel übergestreift, den Notizblock eingesteckt, den Kragen hochgeschlagen. Doch am Ankunftsort leuchten nur die blauen Signallampen. Die Polizeifahrzeuge stehen halb schon im Graben. Die Straße ist schmal und baumlos. Wer hier vorfährt, wird gesehen. Die Kamera hat einen großen Schwenkbereich. Ungesehen kommt keiner hinein. Unangemeldet auch nicht. Nur die Krähen kreisen über dem Feld daneben, schreien in den Wind, der dem Wartenden das Wasser ins Gesicht treibt.
Der Mantel wäre nicht warm genug gewesen. Also hat er lieber Strickjacke und Pullover untergezogen. Doch die Kälte kommt durch die Schuhsohlen herauf. Er hätte wohl solche Stiefel gebraucht, wie sie der junge Polizeibeamte am Tor trägt. Der jetzt munter zu werden beginnt. Er flüstert in sein Funkgerät. In der Villa scheint sich was zu tun.
Ein Zugriff? Eine Festnahme?
Seit Tagen scheint alles möglich. Seit der vergangenen Nacht erst recht. Sämtliche Fenster im Erdgeschoss sind erleuchtet. Schatten sieht man hinter heruntergelassenen Vorhängen. Doch die Tür bleibt verschlossen. Auch wenn sich der Polizeibeamte jetzt breitbeinig hinstellt, als wolle er bereit sein, ebenfalls einzugreifen.
Und da tauchen sie tatsächlich auf. Fünf dunkle Gestalten. Drei in Uniform, die Kragen hochgeschlagen wie der Wartende. Zwischen sich zwei Männer in dunklen Jacken. Dunklen Hosen, dunklen Schuhen. Kleidung, die nicht auffallen soll, wenn welche nachts unterwegs sind. Sie haben die Köpfe eingezogen. Folgt noch jemand? Nein. Die Villa steht da, als wäre das ein ganz normaler Morgen am Beginn einer Woche voller Arbeit.
Auch keinen der beiden Männer erkennt er. So sehr er sich anstrengt. Kein bekanntes Gesicht. Sie ducken sich, als wollten sie nicht fotografiert werden, wenden sich ab, als sie zu den Polizeiwagen geführt werden. Zu jedem setzt sich ein Polizist in den Fonds. Die Handschellen sind unübersehbar. Ein Auto fährt vorbei, es blitzt. Nur kurz ist das Stirnrunzeln eines der Polizisten zu sehen.
Schon als sie den Wartenden am Straßenrand sahen, hatten sie ihn scheel angeschaut. Aber der Junge hatte seine Papiere kontrolliert. Alles ist notiert, im Präsidium wird er fragen, ob alle Angaben stimmen. Obwohl sich beide schon hundertmal über den Weg gelaufen sein müssen – der Polizist, der in L. meistens mit Kleindiebstählen, Fahrradklau und kleinen Gewaltdelikten zu tun hat. Und der Reporter, dem die Kälte die Beine hochkriecht. Hat er alles gesehen?
Fragen, so der junge Polizist, solle er im Präsidium. Dies hier sei ein Einsatz. Hier würden keine Erklärungen gegeben. Auch nicht darüber, was die beiden Männer in der Villa des Abgeordneten wollten und warum die Polizei gerufen wurde. Und von wem.
Er wird alles abfragen müssen. Und er ahnt schon, dass das hier eine Geschichte wird, die nicht passt.
Er bleibt noch stehen in der Hoffnung, es würde noch jemand aus dem Haus kommen. Doch die Lichter erlöschen. Eine dunkle Gestalt hinter dem Vorhang, die herüberzuschauen scheint. Der Vorhang schließt sich. Das Eisentor wird ferngesteuert ebenfalls geschlossen. Die Kamera über dem Tor ist direkt auf den Wartenden gerichtet, der sich nun abwendet und auf dem Streifen neben dem Asphalt zurückläuft in die Stadt. Er hat Zeit. Vor dem Frühstück braucht er niemanden anzurufen. So früh ist niemand im Büro.
Eine Zeitung liegt nass am Straßenrand.
Er wird sich einen heißen Tee machen. Aber er weiß jetzt schon, dass er den Rest der Woche mit Kopfschmerzen im Bett verbringen wird.
Keine Kommentare bisher