LeserclubHerr L. hatte die beiden Polizisten in ihrem Auto eher nur aus dem Augenwinkel wahrgenommen. Wenn sie etwas von ihm wollten, mussten sie warten. Oder klingeln, oder am Montag wiederkommen. Es war Wochenende und die Brötchen in der Tüte rochen wie ein reifes Weizenfeld. Wie ein Kichern im Kornfeld und ein Kuss von seiner Mascha, wenn sie ihn unverhofft überfiel und nicht erwarteterweise. Was manchmal vorkam. Meistens dann, wenn sie etwas zu verbergen hatte.

So wie heute. So etwas spürte er. Es kribbelte im Nacken, machte ihn nervös, noch nervöser als ihre Zehenspitze, wenn sie ihn abends auf dem großen Sofa anstieß. Es lag was in der Luft. Und es hatte mit den Plakaten zu tun, die über Nacht aufgetaucht waren. Plakate, die nicht nur Margarita zeigten als Hexe im lodernden Kostüm, auch wenn fast nichts darauf hindeutete, worum es dabei ging. Aber das brauchte es auch nicht. Denn die Einladung lag auf dem Küchentisch.

„Woher kommt die?“

„Steckte im Briefkasten“, sagte seine Mascha. Und weil sie so schön gleichgültig tat, schwante ihm was. Oder tat sich eins zum anderen in seinem Kopf. Die beiden Polizisten, die vielleicht gar nicht dasaßen, um ihn zu beobachten. Die Plakate, die sich über die Morgenstunden mehrten. Als wolle jemand die Stadt damit zupflastern. Auf einigen tauchten auch noch kleine Aufkleber auf, die Ort und Zeitpunkt bekanntgaben.

„Margarita also“, sagt Herr L., so schön beiläufig, dass die Frage hübsch im Raum hängen blieb, während seine Mascha die Kaffeekanne befüllte, das Milchkännchen auf den Tisch stellte, die frisch gekochten Eier unter kleinen, selbst gehäkelten Eierwärmern, das Glas mit der Konfitüre, den mageren Frischkäse und den Senf, den dicken Edamer und das Salznäpfchen, hübsch nacheinander.

„Margarita also.“

Das ließ er einfach so hängen und reagierte auch nicht, als sein Mauzekätzchen mit breitem Lächeln fragte: „War’s voll beim Bäcker?“

Kennt einer die Frauen? Herr L. würde das nie behaupten. Aber so ein bisschen kannte er seine Mascha, sodass er sich durchaus in besonders mutigen Stunden vorstellen konnte, mit ihr gemeinsam eine spontane Reise nach Rheinsberg anzutreten. Oder nach Gripsholm. Quietschvergnügt und mit gespitztem Mund. Wenn nur die Arbeit nicht wäre. Dieses ständige Warten darauf, dass Dinge passierten. Oder auch nicht.

Und weil man schweigend auch ein paar Schluck viel zu starken Kaffees trinken kann, sicheres Zeichen dafür, das sich jemand beim Filterbefüllen völlig verzählt hatte, blieb das Knistern ganz schön lange erhalten, lang genug, dass es auch Herrn L. ein bisschen leid zu tun begann, weil es seine Begleiterin durch ein holperiges Leben nicht wirklich verdient hatte. Aber das Senffässchen auf dem Tisch sagte ihm etwas, wenn er auch nicht wusste, was. Nur, dass keiner von beiden je Senf auf sein gekochtes Ei tat. Noch nie getan hatte.

Und er wusste, dass sie es wusste. Und so strich er sich, was er für gewöhnlich nicht tat, dicke gelbe Butter aufs Brötchen, die gleich zu blubbern begann, so heiß hatte er die Ware aus dem Laden geholt. Er hatte sich wirklich nicht lange aufgehalten vor dem Plakat, das gleich gegenüber an der Hauswand klebte, vom Zimmerfenster aus bestens zu sehen, wenn eine sich hier hinstellen sollte und neugierig darauf war zu sehen, wie ein Brötchenholer auf das Plakat reagierte.

Und da er absichtlich nicht reagiert hatte, auch keine hübsche Überraschungsszene für die Polizisten weiter links in ihrem Auto gegeben hatte, ließ er die Butter jetzt goldgelb vom Brötchen tropfen, tat noch Senf darauf und schaute dann, das Brötchen aufmerksamst in die Höhe gehoben, über das Senfhäuflein hinweg seine liebevoll Verwirrte an.

Vielleicht war das der Moment, als unten der Motor ansprang und die beiden Beobachter abgezogen wurden.

Vielleicht war es auch der Moment, als ein paar Leute vorm Plakat stehen blieben und sich wirklich zu wundern begannen und eine Frauenstimme meinte: „So was müsste verboten werden.“

Was ihn nur beiläufig streifte. Denn so über Senfbrötchen und viel zu starkem Kaffee erfuhr er dann doch, dass es nicht nur ihm so ging, dass er immer zu viel redete und fragte und nicht ruhen konnte. Und dass das Telefon doch keine so gute Erfindung war, denn damit verkürzten tatendurstige Frauen nicht nur die Distanzen, sondern auch die Reaktionszeiten höllisch.

Und während er seine Mascha in ein paar viel zu schwachen, aber auch müden Stunden damit genervt hatte, was er über die gierige Bande von Raubtieren wusste (und auch mit dem, was er nur mutmaßte), was ihm wer gesagt oder verschwiegen hatte, was er erzählen durfte und was er sich tunlichst verkniff, wusste augenscheinlich auch Maschas allerbeste Freundin Margarita alles und hatte ihrerseits Fäden gesponnen.

„Eigentlich hat sie nur ein paar alte Lieder rausgeholt. Sie hat ja ewig nichts Neues geschrieben …“

„Kenne ich die Lieder?“

„Ein paar. Vielleicht das über den Hai.“

„Das mit dem Wolf?“

„Vielleicht das mit dem Löwen?“

Er konnte sich an nichts erinnern. War Margarita nicht brav geworden? Seit wann sang sie über Raubtiere? Das war ihm völlig neu.

„Aber du hast doch mit ihr gesprochen.“

„Da ging es um eine alte Rechnung.“

„Meinst du nicht, dass auch Frauen noch alte Rechnungen offen haben?“

Die Frage durfte ein bisschen hängenbleiben in der Luft.

Die Einladung hatte er ja gelesen. Der Ort hatte ihn schon erstaunt, denn das alte Kino war seit Jahren geschlossen. Manchmal tauchten Nachrichten darüber in den Zeitungen auf, eine unbekannte Besitzergemeinschaft wolle es verkaufen oder habe es verkauft oder wolle es abreißen, dürfe aber nicht, weil es 100 Jahre alt war und unter Denkmalschutz stand als einziger, typischer Kinobau aus der Zeit, als die Bilder laufen lernten und Menschen begannen, sich in Konsumenten einer flackernden Bilderwelt zu verwandeln, Schattengestalten ihrer selbst, vollgestopft mit Gesten und Rollen und Sprüchen. Kaum noch zu greifen, wenn man versuchte, ihnen als Reporter auf den Zahn zu fühlen. Alles Theater.

Was wohl auch dazu beitrug, dass sich damals niemand wirklich dagegen wehrte, dass ganze Straßen in dieser Stadt über Nacht ihre Besitzer wechselten, Margaritas kleine Bühne verschwand, das Kino schloss, Parks zu Autohäusern wurden, der Hermannkai zu einer teuren Meile. Manchmal hatte er das vage Gefühl, damals in einem einzigen tristen Grau unterwegs gewesen zu sein, in einer Stadt ohne Bewohner. Und wirklich besser geworden war das nicht.

Wahrscheinlich würden sie beide allein hingehen, am Sonntagabend, in ein leidlich ausgefegtes altes Kino mit seiner alten, kitschigen Bühne, die noch an die wilden Zeiten der Vaudevilles erinnert, falls es das in L. je gegeben hatte. Der Glanz einer erinnerten Welt, die es so vielleicht nie gegeben hatte. Außer die großen, verqualmen Kinoabende, in denen schwarz-weiße Bilder über die Leinwand zuckten und der Pianist beherzt in die Tasten schlug. Das verstimmte Piano stand bestimmt heute noch neben der Bühne.

Augenscheinlich hatten Margarita und Mascha viel eher als er selbst geahnt, dass die Geschichte mit dem großen Verramsch so nie in der Zeitung erscheinen würde. Nicht mit Happyend, klickenden Handschellen, einer Anklage vor Gericht und einer handvoll properer Männer, die jeder kannte in dieser Stadt und die die meisten für die eigentlichen Wohltäter hielten, auch wenn es L. besser wusste. Die Zahlen hatte er. Akribisches Sammeln führt immer irgendwann dahin, dass sich ein Bild ergibt.

Indiz kommt zu Indiz, faule Ausrede zu vager Andeutung. Selbst den grimmigen Ex-Kommissar hatte er untergebracht. Auch wenn die entscheidenden Beweisstücke wohl wirklich verschwunden waren. Oder in Sicherheit gebracht. Vielleicht der entscheidende lose Faden, mit dem er alles hätte aufdröseln können, einen aalglatten Abgeordneten festnageln am Montag oder Dienstag …. Aber das würde er nicht mehr tun. Und er hatte auch längst das dumme Gefühl, dass auch die Staatsanwaltschaft nicht verkünden würde, gegen einige obskure Firmen würde nun ein Ermittlungsverfahren eingeleitet.

Und selbst wenn es eingeleitet würde: Solche Verfahren dauerten in der Regel bis in die Ewigkeit, Staatsanwälte gingen darüber in Ruhestand, Ermittler wurden versetzt, Betroffene verlegten ihre Wohnsitze, Steuernummern änderten sich, Grundbucheinträge wurden überschrieben, Rechner stürzten ab, kleine, störende Beweisstücke lösten sich in Luft auf … Und er sah vorm inneren Auge schon den Herrn Knarrpanti selbstgefällig ans Mikrophon treten, um in gewähltestem Juristereideutsch bekanntzugeben, dass die so lange mit unheimlich viel Mühen und Aufwand verfolgten Untersuchungen keine belastbaren Gründe für eine Anklageerhebung ergeben hätten, so leid es ihm auch tue …

Und im Raum würde das Nichtgesagte stehen: Dass Gründe für Verdacht genug da waren. Nur leider, leider, leider nicht die passenden Beweise und Schriftstücke, von denen einige, leider, leider, leider, nach all der Zeit einfach nicht mehr aufzufinden waren.

Und die konfiszierten Grundbuchakten?

Alles, das ahnte Her L. schon so ein bisschen, würde rechtens sein und korrekt aussehen. Vielleicht würde man das eine oder andere herrenlose Grundstück finden. Vielleicht das am See, aber ganz bestimmt keines der stadtbekannten Filetstücke, die in den vergangenen Jahren so oft und spektakulär den Besitzer gewechselt hatten, dass man gar nicht mehr wusste, wer es ursprünglich einmal besessen haben könnte, und deren Wert sich dabei auf wundersame Weise vervielfacht hatte.

Vielleicht auch das alte Kino. Aber dann würde Margarita dort ganz bestimmt kein Spektakel aufführen können, denn danach sah das aus, was Mascha ihm eigentlich doch sehr bereitwillig verriet. Sie wollte es unbedingt erleben. Mit Feuerwerk, sagte sie, Hexenzauber, sagte sie, Zauberei, sagte sie. „Und …“

Da biss sie sich lieber auf die Zunge. Irgendwie hatten sie wohl doch abgemacht, dass Herr L. (um Gotteswillen!) nicht alles erfahren durfte. Nicht vor Sonntagabend zur Hexenstunde. Hexenstunde?

„Hexenstunde“, sagte Mascha.

„Und wer kommt noch?“

„Wenn ich das richtig verstanden habe, die komplette haute volée.“

„Du meinst diese ganzen …“

„Sie hat mir nicht alles gesagt. Was du nur immer fragst. Ich kümmer’ mich um alles, aber …“

Wieder so ein Stutzen.

„Aber?“

„Kein aber. Sie kümmert sich um alles. Einladungen, Gästelisten, Getränke, Häppchen …“

„Und wer bezahlt das alles?“

„Ein Gönner.“

Man darf sich durchaus vorstellen, dass Herr L. das senfbehäufte Brötchen tatsächlich aufaß und auch den Kaffee trank und auch sein Ei mit Senf bestrich, was er ja bekanntlich sonst nie tat. Er kannte die Frau, die ihn so spitzbübisch anschaute, nur zu gut. Fast zu gut, dachte er manchmal. Dann, wenn er merkte, dass er dieses Lebewesen in seiner seltsamen Welt durch nichts und niemanden jemals ersetzen könnte. Und er wusste auch einige Dinge von ihr, die er lieber nicht wusste. Was ihn, Sie ahnen es schon, zuweilen in Kalamitäten stürzte, weil er ja ahnte, was kommen würde.

Nur wusste er auch, dass das „Aber …“ eben bedeutete, dass Mascha die ganze Zeit dafür sorgte, dass L. nichts mehr erfuhr, bis auch die Samstagszeitung gedruckt war. Er würde nichts mehr ausplaudern. Das war wichtig. Wer weiß, was das für Folgen gehabt hätte und wen er alles auch noch am Wochenende völlig unnötigerweise erschreckt und aufgeschreckt hätte. Nicht auszudenken.

„Weiß ich, was Margarita da wirklich vorhat?“

„Oh“, sagte Mascha. „Ich glaube, das willst du vorher lieber nicht wissen. Soll doch eine Überraschung sein.“

„Für wen?“

„Soll ich nicht verraten.“

„Für unsere haute volée?“

„Och, die überrascht doch nichts. Die kommen, feiern, kriegen Häppchen und Sekt, lächeln für die Kamera, gucken wie immer, gehen. Das wird die nicht jucken.“

„Und trotzdem?“

„Trotzdem muss man es ihnen wenigstens ins Gesicht sagen, damit sie wissen, dass wir wissen …“

„Und dann?“

„Dann gehen alle wieder nach Hause, und alle sind wieder lieb.“

Was für ein Lächeln. Er hätte es fressen können, wenn da nicht dieser hässliche Zweifel gewesen wäre, diese seltsamen Andeutungen, die ihn nun schon seit ein paar Tagen begleiteten. Die toten Hunde in Don Leones Garten. Warum fielen die ihm ausgerechnet jetzt wieder ein? Wer vergräbt denn tote Hunde in seinem Garten? Wirklich dieser allgegenwärtige Don Leone?

Hatte er seine Nummer im Notizbuch?

Wenn er sich nicht irrte, hatte er sogar mehrere, auch eine höchst private. Und wenn er sich nicht allzu arg täuschte, würde Mama Leone abnehmen.

„Es ist Wochenende“, sagte seine Samstagsfreude tatsächlich mit ein wenig Verzweiflung im Blick. Sie kannte ihn ja. Und sie konnte nichts ändern. Und dass dann das Milchkännchen dran glauben musste, das hatte er beinah schon erwartet. Und auch am anderen Ende der Verbindung schien schon jemand erwartet zu haben, dass er anrief: „Mein lieber Herr L., Sie glauben es nicht …“

Die Serie „Was passiert jetzt …“

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