Leserclub"Mooooooooooooment, mein lieber L.!" - Da war Kollege Stachelschwein aber hellhörig geworden. Da kam der Spürhund in ihm durch, der manche Leute noch immer in dieses Metier treibt. Leute, denen nicht genügt, was "in der Zeitung" steht. Und die auch nicht glauben, was ihnen Herren mit maßgeschneiderten Anzügen und jovialem Schulterklopfen erzählen. Auch wenn der Groschen meist erst später fällt. "Da hast du mir aber etwas unterschlagen."

“Hab ich das?”

Herr L. tat nicht verwirrt. Ihm ging es ja ganz ähnlich. Der Kopf steckt voller schlecht sortierter Stichworte, Namen und Hinweise. Manchmal bildete das, was einer so sammelte im Lauf des Tages, der Woche, des Jahres, ein seltsames Knäuel, als hätte jemand lauter unterschiedliche Wollfitzel zusammengerollt, bunt durcheinander, mal mit Knoten, mal ohne – und hundert kleine Enden hingen heraus. An manchen konnte man ziehen und das Knäuel verfitzte sich nur noch mehr. Bei anderen lösten sich die Fäden und alles fiel auseinander und nichts hing mehr zusammen.

Aber Herr L. war sich ja bewusst, dass über diese seltsamen Tage damals nicht alles auserzählt war. Hätte er sonst Kollege S. gebeten, mitzumachen, das Wirrwarr zu entwirren?

“Kann es sein, dass du damals einen Riesenfehler gemacht hast?”

“Du meinst: Eine große Eselei?”

“Eher eine fatale Schusseligkeit. Eine Narretei ohnegleichen …”

“Das war ja wohl eher dein Part. Du hast doch die ganzen Seiten geschreddert …”

“Komm mir nicht so”, brüllt S. Was selten passiert. Eigentlich ist er ja ein dickfelliger Zeitgenosse, der so Manches wegsteckt, ohne mit der Wimper zu zucken. Jetzt aber hatte er sein ganze Körpergewicht aus dem Sessel katapultuiert und mit der Faust auf den Tisch gedroschen – knapp neben die Tastatur. Aber Herrn L. hatte er tüchtig erschreckt. Der war so viel Emotion in der gemeinsamen Arbeit wirklich nicht gewohnt, sprang selber auf, fluchtbereit – und das Übliche geschah …

“Der schöne Kaffee”, sagte er nach drei oder vier doch recht angestrengten Atemzügen. Auch wenn er S. sonst für einen friedfertigen Menschen hielt, war in ihm der Wachhund in Alarmbereitschaft: Zubeißen? Bellen? Weglaufen?

Er holte lieber den Wischlappen …

Ließ S. aber nicht aus den Augen. Was nun? Was war dem Stachelschwein über die Leber gelaufen?

Und er bekam seine Erklärung. Denn so locker, wie S. es beschrieben hatte, hatte der den Tag damals nicht weggesteckt, nicht diese Demütigung, vier ganze Seiten mit den Mühen einer ganzen Woche zu Makulatur machen zu müssen und den Lesern tags drauf wieder nur den üblichen langweiligen Allertagemist zu liefern. Keine große Story über die Machenschaften eines gierigen Klüngels, der sich über Jahre die Filetstücke der Stadt unter den Nagel gerissen hatte und bestens verbandelt war mit den Entscheidern im Rathaus.

Und das alles nur, weil Herr L. tatsächlich etwas getan hatte, was er nicht hätte tun dürfen.

Aber hatte S. ihm tatsächlich auch das beigebracht? Innerlich sagte sich S.: Ja, hatte er. Schütze deine Quellen, hieß diese Lehrstunde, die man zwar gern in den Redaktionsräumen praktizieren konnte, das aber doch besser unterließ, wenn man solange im Beruf war wie S. Denn dann wusste man, dass man sich auf die freundliche Zurückhaltung von eigentlich zur Zurückhaltung verpflichteten Instanzen nie verlassen durfte – nicht auf die Dienstgeheimnisse von Rechtsanwälten, Richtern oder polizeilichen Ermittlern, schon gar nicht auf die von Leuten, die mit Geldern, Grundstücken oder Amtswürden gesegnet waren.

Eine Paranoia aus alten Zeiten?

Bestimmt nicht. Dazu hatte S. zu oft mit Leuten wie Knarrpanti und Kollegen zu tun gehabt, von aalglatten Herren in ihren gut bewachten Villen ganz zu schweigen.

Und langsam – wie einen Genesenden – führte er L. an den wunden Punkt. Denn irgendwann in dieser verrückten Woche, die sie so langsam selbst nur noch als verrückte Woche bezeichneten, muss L. der Kapitalfehler passiert sein. Da muss er den alten Kommissar angerufen haben.

“Und zwar von hier, mein Lieber. Hier aus der Redaktion. Kann das sein?”

“Kann es – aber warum …”

“Warum? Da fragst du noch? Glaubst du, dass dein verdammtes Telefon tabu ist, wenn du diesen Leuten auf die Füße trittst? Wenn du ihnen jeden Tag in der Zeitung erklärst, dass du sie am Schlafittchen kriegen und bloßstellen willst? Glaubst du das …”

“Aber die dürfen ….”

“Natürlich nicht”, brüllte S.

Womit Herr L. ihn tatsächlich zum ersten Mal in ihrer gemeinsamen Dienstzeit völlig außer Rand und Band erlebte. Von dem gelassenen, durch keine Katastrophe zu erschütternden Kollegen S. war nichts mehr zu sehen, nur noch ein wütender Koloss mit deutlichem Übergewicht, der wütend auf den Scheibtisch hieb – wo jetzt zum Glück keine Tasse mehr stand.

“Wie oft habe ich …”, brüllte er.

Das hatte er wirklich. Aber doch nicht so ein kleiner Anruf? Eigentlich nur eine kurze Verabredung, weil L. so einen kleinen Einfall gehabt hatte, den er überprüfen wollte. Denn so koscher kam ihm ja das Verschwinden der Beweisstücke im Archiv des Polizeipräsidiums nicht vor. Hatte der Alte die falschen Ex-Kollegen kontaktiert? Und warum musste er erst in die Asservatenkammer, wenn er ihm doch vorher noch erklärt hatte, den Fall fein penibel mit in seinen Ruhestand genommen zu haben und ansonsten jedes Detail im Kopf zu haben?

Was stimmte da nicht?

Und wenn einer wie L. anfängt, erst einmal so über ein paar Dinge nachzudenken, dann misstraut er auch seinen Tippgebern. Und vielleicht hatte der Alte das Misstrauen auch herausgehört am Telefon und deshalb eingwilligt, dass L. kurz bei ihm klingeln durfte, und ihm seine Adresse gegeben. Obwohl er das selbst vorher ausgeschlossen hatte. Auch er hatte so seine Ahnungen.

Aber an dem Tag hatten sich beide nicht auf ihre Nasen verlassen.

“Wann war das”, wollte S. wissen.

“Muss in der verrückten Woche gewesen sein, an einem dieser Tage …”

“Welchem?”

“Irgendeinem … Mittwoch oder Donnerstag oder … Ich weiß es wirklich nicht mehr. Da war einfach zu viel …”

Aber jetzt war sein Gesicht wenigstens nicht mehr gerötet. Eigentlich wusste S. ja jetzt, was er wissen wollte.

“Und du bist dann einfach zu ihm hingefahren, stimmt’s? Ohne Umwege? Ohne auf …. Verfolger zu achten ….”

Da hatte L. natürlich Bilder im Kopf. Es muss schon nach Feierabend gewesen sein. Dämmerig. Wenig Verkehr auf den Straßen. Aber Verfolger? Irgendein schwarzes Auto, das ihm folgte? Männer mit Schlapphüten und Regenmänteln? – Das nicht. Aber trotzdem, ja, so ein Gefühl hatte er gehabt, so ein vages, als hätte doch irgendjemand ihn beobachtet, wie er über die Straße eilte und bei dem alten Kommissar klingelte. Und eingelassen wurde ins Haus. Nur ein Gefühl. Weshalb er auf die Frage des Alten, ob er vorm Haus jemanden gesehen hätte, eher zögernd mit “Nein” antwortete.

Ein Zögern, das den Alten nicht überzeugte. Aber ändern konnten sie daran nichts mehr. Nur in der kleinen Küche brannte eine trübe 25-Watt-Birne, im Flur war es dunkel. Und das war der Moment, in dem L. die Teetasse umstieß, die der Alte auf dem Schränkchen im dunklen Flur stehen hatte.

Das, was S. aufgefallen war.

“Das heißt …”

“Du glaubst doch nicht …”

“Komm mir nicht so. Wir sind hier nicht in der Kirche. Jahrelang habe ich mir den Kopf zerbrochen, wo die verdammte mürbe Stelle war, wo wir diese Bande aufgescheucht ….”

Und wenn Sie jetzt wissen wollen, was im Redaktionsalltag für gewöhnlich passiert: Hier klingelte das Telefon und S. war die nächsten 30 Minuten mit einem völlig sinnlosen Gespräch mit einem aufgeregten Bürger beschäftigt, der seinen Ärger mit dem Ordnungsamt der Stadt unbedingt in der Zeitung sehen wollte.

Richtig groß, richtig breit. Wichtig.

Nach 30 Minuten legte S. auf. Ganz ruhig.

“Wichtig”, sagte er. “Ganz wichtig.” Ganz leise.

“Wolltest du nicht die Sache mit dem Kommissar …?”

“Ist die wichtig?”, fragte S. nur. Gab sich dann aber doch einen Ruck. “Wir gehen jetzt auf den Friedhof. Du weißt ja wohl, wo der alte Knauser begraben liegt.”

Ja, das wusste L.

“Aber warum …”

“Niemand hört die Telefone braver Redakteure ab in diesem Land. Das weißt du doch. Du hast doch selbst oft genug angefragt.”

Das hatte L.

Er liebte diese Antworten: “Aus ermittlungstechnischen Gründen geben wir prinzipell keine …”

Höchste Zeit für ein Stelldichein auf dem Friedhof.

Und natürlich klingelten die Telefone, als beide die Redaktion verließen. Riefen Gartenzwerge und Knöllchen an, um ihr Recht auf Veröffentlichung einzufordern. Das, was Menschen nun einmal täglich in ihrer Zeitung erwarten.

Aber weder S. noch L. nahmen diese wichtigen Nachrichten an diesem Tag entgegen.

Was wichtig ist, steht morgen in der Zeitung, nicht wahr?

Sie glauben tatsächlich noch an Märchen.

 

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