LeserclubIn welche Scheiße waren wir da wieder geraten? Na gut, es war keine besonders neue Scheiße. Seit sie aus dem alten Kreisblättchen so eine Art freundliches Revolverblatt gemacht hatten, das dem kleinen Städtchen so einen gewissen Geruch von Zündpulver, Angstschweiß und Moschus verpasst hatte, hatten wir schon öfter bis zu den Ärmelschonern in der Brühe gestanden. Und in so einer Situation lernt der Gentleman, freundlich grinsend die Klappe zu halten.
Dann krempelt man hoch, was noch hochzukrempeln geht, schmeißt den Satz von vier hart (und mit brodelnder Freude im Bauch) erarbeiteten Seiten in den Müll, bringt den Druckern ein paar Flaschen guten Wein runter, damit sie bis Mitternacht nicht die gute Laune verlieren – und fängt von vorne an.
Ganz von vorn.
Glauben Sie es ruhig: Die besten Geschichten erfahren Sie nie. Auch nicht unter der Hand. Die besten Geschichten hängen auch nicht als Bürstenabzug bei uns an der Wand. Die besten Geschichten stecken nur in meinem Kopf. Vielleicht auch bei L. Aber da bin ich mir nicht so sicher. Der Bursche plaudert zu gern. Der ist eigentlich im falschen Gewerbe gelandet. Der hätte Fußballtrainer werden sollen oder Laienprediger bei der Kirche zur Heiligen Jungfrau. Wo die Leute grölen, wenn einer die besten Geschichten ins Mikro haut.
Glaubt eh keiner.
Und wenn L. glaubte, ich wüsste nicht, wer ihm die lächerlichen Ausdrucke von irgend so einer verpeilten CD aus irgendeinem dieser halbgaren Skandale da geschickt hat, dann hat er sich geirrt. Ich seh zwar manchmal ein bisschen blöd aus, wenn ich da mit meinem Schwerathletenköper und dem etwas tief hängenden Hosengürtel vor meiner alten Möhre von Denkmaschine sitze und dabei auch noch im alten, guten Einfingersystem meine Textchen in die Tasten gebe. Ein netter Großvater – zumindest aus L.s Sicht, damals. Einer, dem man den Neuling anvertrauen kann: „Bring dem da mal das Nötige bei. Nicht zu viel. Du weißt schon.“
Bringe das mal so einem Jungspund bei, der die falschen Filme geguckt hat und meint, er müsse wirklich auch noch den letzten Dreck rauskriegen.
Ehrlich?
Die Leute, also die ganz einfachen, ordentlichen blassen christlich angehauchten Dauerabonnenten unserer Zeitung wollen das gar nicht wissen. Die wollen nicht mal wissen, wer ihr Konto geplündert und das Haus für’n Appel und zwei Eier gekauft hat und dann ihre lächerliche Miete auf Haifischniveau gehoben hat.
Eigentlich sollten keine Tiere vorkommen in meinem Beitrag. Passiert aber. Denn L. war ins Haifischbecken gesprungen. Er hatte sie alle aufgeschreckt, die in unserem kleinen Kirchdorf irgendwas zu sagen hatten. Und damit meine ich nicht die Sonntagsreden in der Kirche, in die sie sowieso alle nicht gingen, sondern das, was wirklich zählt. Was ein paar schwere Schränke mit kurzen Hälsen und mächtigen Fäusten in Bewegung setzt oder so’n kleines Männchen von Gerichtsvollzieher. Oder ein paar von den Federfuchsern aus der Hauskanzlei: „Sorry, Herr Pokerface. Ein paar von deinen Schreiberlingen haben sich gestern ein bisschen danebenbenommen. Haben die Hausordnung verletzt und unser Chef ist jetzt ein wenig sauer. Was können wir da tun?“
Oh, bei mir waren sie auch schon. Als unser Herr Pokerface noch nicht so geübt war, mit diesen Herren Advokaten. Die seltsamerweise alle von hier stammten. Das verblüffte den guten alten S. damals schon. Als wären die gleich nach dem großen Verramsch aus den Ritzen gekrochen und auf einmal die ehrenwerten Inhaber uralter Kanzleien, mit drei Von und Zus davor und sechs Doktorentiteln aus Alabama, Tirana, Nairobi und so. Fette Urkunden aus Kaisers Zeiten an der Wand. Fette Zigarren. Und ein Mobiliar, da wäre Bismarck neidisch geworden, so imperial, dass man sich darin gleich fühlte wie ein Pfeffersack aus Schanghai.
Ich hab so manche fette Röhre mit solchen Typen geraucht. Später, als ich wusste, dass sie tatsächlich nur die Postboten waren. Die Befehle gaben andere Leute. Aber selbst Bubi Pokerface hatte sich ja anfangs einschüchtern lassen. Hatte zwar ordentlich Jura studiert – in Oxford und Heidelberg, wie ich vernommen habe. Aber ins Geschäft hat ihn sein Alter nicht reingucken lassen. So einer von den alten Füchsen, die seit drei Generationen ein mies gemachtes Blättchen irgendwo im Weserkreis herausgeben, ohne einen einzigen gescheiten Satz darin – aber schweineviel Geld damit verdient, vor allem mit Todesanzeigen und so’m Zeug. Und von den Pfennigen, die dabei übrig blieben, hat er sich im großen Verramsch unsere kleine Zeitung gekauft.
War ja alles billig zu haben damals. Wenn man am richtigen Ufer der Elbe wohnte.
Und das Erste, was er machte – er schmiss alles raus, was irgendwie nach eigenen Ansichten aussah. Oder widersprach, als der Alte die ersten Konferenzen zelebrierte, um Sohnemann wenigstens das Nötigste beizubringen. Da wagten ein paar gestandene Damen und Herren, dem Alten tatsächlich zu sagen, wie sie sich vorstellten, wie so eine ordentliche Zeitung aussehen sollte. Zu viele Filme geguckt, sage ich nur.
Ich hielt fein die Klappe. Und beobachtete den Alten, wie er das Fußvolk beobachtete und regelrecht kreidebleich wurde, wenn ihm diese Neurevoluzzer zu erzählen versuchten, wie toll sie sich eine Zeitung vorstellen.
Das hatte ich in den paar Tagen zumindest gelernt: Die lieben Brüderlein aus dem Abendland waren nicht lieb, und Widerspruch haben sie noch viel weniger vertragen als unsere Abschnittsbevollmächtigten. Nur: Sie zeigten das nicht. Sie holten dann nicht bedeutsam ihren Notizblock raus. Eher war es so, dass ihr Lächeln sich in eine richtige Lächelmaske verwandelte. Und wer hinhörte, hörte, was zu hören war. „Machen Sie nur weiter, lieber Herr X., ICH höre zu …“
Und er hörte zu. Auch bei mir. Jeder war mal dran. Aber ich war ein kleines Licht. Und schlug ihm in aller Bescheidenheit vor, eine richtig schöne Zeitung wie drüben im Weserland zu machen. Was die Leute da mögen, kann einfach nur gut sein.
(Merken Sie sich einfach den Spruch: „Die GUTE deutsche Butter.“ Da werden sie windelweich.)
Dafür bekam ich ein richtig schönes fischiges Lächeln. So wie später immer, wenn ich „Ja, Massa, danke Massa!“, sagte. Zumindest sinngemäß. Denn der Alte liebte es, wenn man ihm für seine guten Ratschläge untertänigst dankte. Und dabei stolz wie Bolle guckte, weil man’s endlich kapiert hatte.
„Guter Mann“, empfahl er mich seinem frisch von der Uni gebügelten Sohnemann, dem er das Blatt in den Schoß packte wie einen Bernhardinerwelpen: Pass gut drauf auf. Und immer schön Gassi gehen.
Sind wir dann auch.
Manchmal waren wir ein kleinwenig zu übermütig. Das waren die Tage, als die Herren Von und Zu bei uns auftauchten mit schmalen Aktenköfferchen und dieser flüsternden Stimme, die mich immer an das Säuseln von Abendwinden in kaputten Fallrohren erinnert.
Und die ersten Male stand dann auch Junior Pokerface mit den Herren bei mir am Schminktisch und hat schweigend genickt, wenn sie mir den Sermon noch einmal herunterbeteten, den er oben in seinem Büro wohl auch schon gehört hatte.
Mensch. Jetzt werde ich ausschweifend …
Aber so ist das, wenn man in alter Scheiße rührt.
Irgendwann habe ich mich mit den Herren verständigt, auch wenn sie es bis heute nie fertiggebracht haben, überhaupt zu sagen, was ihre Herrchen eigentlich so verärgerte in der Badewanne.
DENN DIE PRESSE IST FREI!
Nichts ist in dieser Stadt sauber konturiert. Sie können mit den Leuten reden, und die meisten gucken an Ihnen vorbei, als wären sie irgendwie schlecht belichtet. Oder hätten einen Pickel auf der Nase, den man nicht unbedingt erwähnen wollte.
Deswegen sind die Grenzen dessen, was du sagen kannst, ohne dass sie dir einen abgeschnittenen Ringfinger schicken, eher schwammig, die Tretminen reich gesät – und wenn einer von den schwammigen Herren auftaucht, sollte man tief Luft holen und sich darauf einrichten, dass die Zeitung von Morgen nicht so aussehen wird, wie sie gesetzt auf dem Tisch legt.
So war das auch an dem Tag, als Pokerface mich dann kurz vor dem wacker verdienten Dienstschluss doch noch einmal anrief in meinem kleinen Verlies und – aus nun schon leidvoller längerer Erfahrung etwas abgebrühter – verkündete, die Herren Von und Zu säßen gerade in seinem Büro. Und ein ebenso freundlicher Kollege Zu und Von habe vorhin auch schon angerufen. Ob ich wüsste, worum es geht und was die Herren X und Y vielleicht für Probleme mit der morgigen Zeitung haben könnten?
Da wusste ich schon, dass die Arbeit der ganzen Woche und des ganzen Tages für die Katz war.
Ich stellte mich so schön doof, wie es auch Junior liebt. Denn der ist überzeugt, dass wir Eingeborenen hier nach all den Jahren noch immer genauso rückständig waren wie an dem Tag, als sie uns endlich aus den Klauen der Kannibalen gerettet haben. Beinah hätte ich, als der Alte damals meinen Namen wissen wollte, gesagt: „Freitag.“ Aber das habe ich mir verkniffen. Der hätte nicht mal das Buch erkannt, aus dem ich entsprungen war.
Also sagte ich auch diesmal: „Ja, Massa. Möchte einer der ehrenwerten Herren noch mit mir sprechen? Vielleicht ein paar gute Anregungen für das zu wählende Layout …?“
Wollten sie nicht.
Dafür kam Pokerface runter und stand genauso streng in der Tür, wie er das im letzten Kurs für toughe Führungskräfte gelernt hatte.
„Und ich dachte, mein lieber S., wir hätten uns eigentlich verständigt. Ein Anruf in dieser Woche hätte eigentlich genügen sollen, wenn Sie meine bescheidene Meinung wissen wollen.“ Kein Lächeln, aber auch kein Vorwurf. Das lernt man da. In solchen Momenten zeigt er ein gütiges Priestergesicht, wie man es sich wünscht im letzten Stündlein, wenn sie noch einmal kommen und versuchen, einem eine Eintrittskarte fürs Paradies anzudrehen. Wo ich nun wirklich nicht hin will, egal, wie viele Sünden ich mir in meinen verruchten Leben ohne Heiligenschein aufgeladen habe.
Und das, was ich an dem Tag gemacht habe, gehört zu meinen ganz großen Sünden.
DENN DIE PRESSE IST FREI!
Ich habe nicht nur das Interview mit dem Bürgermeister eingedampft und alles rausgenommen, was er mir – mit Schweißperlen auf der Stirn – zu seinen Akten, Immobilien, Kumpels und Duzfreunden gesagt hatte. Dringeblieben ist sein freimütiges Lob für die eigene großartige Arbeit an dieser wunderschönen Stadt in den wilden Weiten der schönsten Prospektlandschaft der Welt. Und statt des zerknirschten Fotos, das ich einfach während des Gesprächs geschossen hatte, war das von seiner Pressestelle geschickte Foto mit Amtskette und allen Orden drin. Und für die Überschrift allein hätte ich mir den fünften Kreis der Hölle verdient: „Berechtigter Stolz. Wie wir unsere schöne Stadt gemeinsam wieder zum Blühen brachten“.
(Und wenn Sie jetzt zu faul sind, ihren ungelesenen Dante aus dem Regal zu hohlen und nachzuschauen: Der fünfte Höllenkreis ist der Sumpf der zornigen Seelen.)
Ein Wunder, dass mir dieser Schakal am nächsten Tag keinen Liebesbrief geschickt hat.
Wahrscheinlich hat er sich nur die Lippen geleckt. Der Anruf bei seinen Freunden hatte sich gelohnt für ihn. Kein Wort, nicht mal über seine verdammte legendäre Schlamperei.
Das Interview sollte ursprünglich die Doppelseite mit den ganzen Namen und Adressen aufmachen, die L. so fleißig aus den miserabel kopierten Papierchen gesiebt hatte. Eine Schweinearbeit. Ich hab ihn nicht darum beneidet. Aber es sah toll aus – zu jedem Namen eine schicke Immobilie. Die Creme de la creme dieses Westernstädtchens. Da hab ich selbst das halbe Archiv für geplündert.
Aber wahrscheinlich hatte L. die ganze Meute mit seiner nächtlichen Spritztour gestern Abend erst recht aufgescheucht.
Die Herren lieben Diskretion.
Außer wenn es um ihre neuen Betthäschen geht.
Alles rausgeschmissen und im Orkus versenkt.
L. weiß gar nicht, wie ich ihm damit den Skalp gerettet habe. Die hätten ihn am nächsten Tag nicht nur skalpiert, die hätten ihn auch gesotten und gebraten. Und sie hätten ihm auch noch den Rest von Privatleben zur Hölle gemacht, den er noch hat. Da bin ich mir sicher.
Und richtig sicher war ich, als dann kurz vor Mitternacht einer von den netten Herren direkt bei mir im Kabuff anrief, wo ich schon drei Mal durchgeschwitzt, mit Pizza überfressen und viel zu viel Kaffee aufgetankt die letzten schlimmen Zeilen in die Tasten stocherte.
Der Typ fragte mich doch einfach so scheißfreundlich wie eine Hyäne, kurz bevor sie den ersten Appetithappen nimmt, ob die Seiten morgen auch wirklich schön werden und ob ich mit der Arbeit zufrieden wäre.
Hätte ich diese etwas steingewaschene Stimme nicht erkannt, ich hätte den Anrufer durchs Telefon gezogen und einmal durch die Mangel gedreht.
Aber ich bin jetzt lang genug dabei. Die Antwort hab ich im Schlaf drauf: „Ja, Massa, Sie werden zufrieden sein.“
„Das ist schön.“
Und aufgelegt.
Das war praktisch das höchstmögliche Lob, das der willige Vollstrecker bekommen kann, wenn er die Arbeit einer ganzen Woche und das bisschen Enthusiasmus in die Tonne schafft, das noch übrig geblieben war.
Und wenn Sie noch neu sind in dieser Welt, dann wissen Sie vielleicht nicht, was „Das ist schön“ bedeutet. Für den, der die Worte zu hören bekommt am Telefon: „Nie wieder, haben wir uns verstanden?“
Damit ist mir mein Platz als Verräter und Schindluderer sicher in der Hölle. (Wenn Sie mitgezählt haben: Das ist der neunte Kreis der Hölle. Holen Sie ruhig ihren jungfräulichen Dante aus dem Regal. Sie werden verblüfft sein.) Und die Höllendiener werden mich bis in alle Ewigkeit mit Forken quälen. Und die ganz bösen Beelzebube werden mir ins Ohr kreischen: „Was wird L. dazu sagen?“
Und die richtig Fiesen werden gar keine Fragen stellen. Die werden immer nur sagen: „Tja, S.“ So wie: shit happens.
Mehr nicht.
Und was machte L. die ganze Zeit, wo ich mir vier verflixte Seiten völlig neu aus dem Kreuz leiern musste, weil nichts davon jemals gedruckt erscheinen durfte?
Irgendwann in den Abendstunden faxte der mir doch tatsächlich eine alkoholhaltige Familiengeschichte über den allseits bekannten Don Leone, wie er mit Fleiß und deutscher Geduld im kulturlosen Osten des kalten Landes im Norden ein schickes Ristorante nach dem anderem eröffnete – und zwar nur, weil MAMMA MIA den armen Bambini da im armen Norden helfen wollte. Ein Retter in der Not, ein Wohltäter voller Herzenswärme. Und – das hatte L. tatsächlich mitten im Text durch einen ganzen festen Strauß Sumpfdotterblumen gesagt – einer von der guten Sorte. (Merke: „Die GUTE deutsche Butter!“) Einer, der die kleinen, lieben Leute im Städtchen L. wirklich liebte, mit aller Leidenschaft des glühenden Südens.
Natürlich rief ich Don Leone postwendend an, wie er das gemeint habe. Solchen Mist lasse ich nicht stehen im Text, wenn der Herr Pantalone schon so manikürt und pedikürt wird vor den Augen der Leser. „Es ist genau so gemeint, mein Lieber S.“, zuckerte er mich an. Aber mit Beiklang. Man kennt den Herrn. „Es könnte durchaus sein, dass dieser kleine Passus dem einen oder anderen Honoratiore dieses liebenswerten Städtchens nicht mag gefallen, aber … Sie werden sehen … es ist wie ein Amulett. Ein Heiligenbildchen, ein Schutzengelchen, verstehen Sie?“
„Für wen? Für Don Leone?“
„Aber nicht doch, mein Süßer. Für ihr liebwertes Gazettino. Nicht alle Bösen sind böse. Und … nicht alle Sizilianer sind Spitzbuben. Haben Sie mich verstanden?“
Hatte ich. Der Satz blieb drin. Die doppelte Festtagstorte ging, wie sie war, in Druck.
Und zur Strafe habe ich in dieser Nacht kein Auge zugetan und geschwitzt wie ein Sünder, der weiß, dass der Richter morgen ein Geständnis hören möchte, damit es nicht lebenslänglich im neunten Kreis wird. Aber sowas bringt nur lebenslänglich. Die Hölle ist, wenn Du es die ganze Zeit weißt.
Und was hat L. getrieben die ganze Zeit?
Das muss L. erzählen. Das ist sein Part.
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