LeserclubVielleicht war es ganz gut, dass L. nicht las, was der Blasse da drüben in seiner Zeitung mit den fetten Schlagzeilen die ganze Zeit schrieb, während L. glaubte, große Tiere zu jagen. Und dabei selbst der Gejagte war. Denn dass die Herrschaften mit ihren großen Sombreros so austickten in dieser Woche, hatte wenig bis nichts mit dem zu tun, was wir selbst die ganze Zeit schrieben. Das war denen egal wie Haferbrei.

Aber es hatte was mit den verwackelten Bildern zu tun, die unseren L. unterwegs zeigten – abgehetzt, als wäre er wirklich verzweifelt auf der Jagd. Oder auf der Flucht. Angefangen mit dem Bild aus dem Bahnhof, auf dem er aussah, als würde er sich wie eine Krähe auf den ehrenwerten Herrn Mammut stürzen, der als gutgelaunter Rechtsanwalt immer wieder in dieser flotten Zeitung auftauchte, meist als erfolgreicher Verteidiger honoriger Strippenzieher, all der netten Tierchen, die …

Aber das vertiefe ich nicht. Sonst flattert mit ein Schreiben der Herren von und Zu ins Postfach: HABEN WIR FESTGESTELLT ….

Oder gleich von Mammut selbst, von seiner blonden Vorzimmermieze in die Tasten gehämmert: „Sehr geehrter Herr, S. für das Ihrerseits gezeigte ungebührliche Betragen stellen wir Ihnen folgende Strafgebühr in Rechnung …“

Natürlich heißt das so nicht im Land der vereinigten Rechtsanwälte. Da heißt es Abmahngebühr. Und die Herren mit den steifen Kragen kennen ihre Spielwiese. Sie haben sie ja selbst angelegt. Und es ist eher ein Wunder, wenn man für etwas beherztere Zeitungsmacherei KEINE Abmahnung bekommt, weil man eines der ehrenwerteren Tierchen zu konkret mit einem recht schleimigen Vorgang in Verbindung gebracht hat.

Deswegen habe ich L. auch so ziemlich alles aus seinen Texten gestrichen, was er WIRKLICH herausgefunden hat.

Und trotzdem fühlte sich die feine Herrengesellschaft angepisst und gekränkt.

Aber da war noch was.

Und das roch ich zumindest, wenn ich diese etwas schmierigen Zeitungsseiten umblätterte und sah, mit welcher Besessenheit der Blasse versuchte,  rund um L. irgendwie eine Geschichte zu stricken, bei der selbst ein Blinder mit Tinnitus merken musste, dass das alles nicht passen konnte.

Aber.

Aus einem gewissen Blickwinkel schien es eben doch zu passen. Nur konnte ich es nicht recht greifen. Dazu braucht es in meinem Alter wohl wirklich eine bescheuerte Nacht mit Herzrasen (wegen zu viel Koffein) und viertelstündlichen Wutanfällen (berechtigterweise – manchmal können die Leute wirklich froh sein, dass ich dermaleinst tatsächlich eine gute Erziehung genossen habe und mein seliger Vater mir beibrachte: „Überleg dir gut, bevor du zuschlägst: Hast Du Chancen, hinterher oben zu sitzen, dann tu’s. Aber …“

… das Aber wollen Sie auch noch wissen, nicht wahr? Mein Vater war ein kluger Mann. Der zweite Teil geht so … „Aber denk auch dran, dass der Rabauke, dem du gerade die miesen Flausen austreiben willst, noch ein paar Kumpels haben könnte. Merk dir: BLÖDMÄNNER HABEN IMMER EINEN HAUFEN BLÖDE KUMPEL, DIE NICHTS LIEBER TUN, ALS ZU FÜNFT KLEINE MÄDCHEN ZU VERPRÜGELN. Kapiert?“ – Wahrscheinlich hatte L. nie so einen Vater.

Und stand wohl auch nie mit seinem Vater fünf Blödmännern gegenüber, die mich für ein kleines Mädchen hielten. Wir mussten sie glücklicherweise nicht verprügeln. Sie haben sich ziemlich komisch beiseite verdrückt, als mein Vater sein Jackett auszog. Und den Schlips abband. Und das Hemd aufknöpfte. Hab ich das schon gesagt? – Mein Vater war ein eindrucksvoller Mann.)

Weiter im Bleisatz:

Dann war da nämlich noch das Foto, das L. wie verhuscht in einem Automobil zeigte, das am Hermannkai scharf die Kurve nahm, wo gerade ein paar emsige Polizisten aus ihrem Fahrzeug zu springen schienen, als wäre er auf der Flucht und hätte irgendetwas mit den Vorgängen am Herrmannkai zu tun. Auch wenn die Zeilen des Blassen zum grobgerasterten Foto vermuten ließen, dass er wohl selbst mit obskuren Hinweisen in unserem kleinen Blättchen erst dafür gesorgt hätte, ein paar ehrenwerte Männer, die in dieser Stadt jeder liebte und bewunderte, in schmierigen Verdacht zu bringen.

Ein Verdacht, den sich DIESER OBSKURE KOLLEGE wohl selbst ausgedacht hätte, WIE UNSERE NACHFRAGEN BEI DER STAATSANWALTSCHAFT UND IM RATHAUS ERGEBEN HABEN.

Sie sind sehr emsig dabei, den großen Schnüffler und Rauskrieger raushängen zu lassen. Das schafft Nimbus bei den Leuten: Guck mal, die räumen auf.

Auch wenn die dort nicht mal ihren miesen wackligen Schreibtisch verließen und das Meiste einfach nur frei erfunden oder selbst zusammengebastelt war.

Was einen wie mich ja dazu verleitet, die konkreten Aussagen zu suchen, die das bestätigen. Aber neben den großen Bildern in dieser Zeitung ist für das vergessliche Lesevolk in der Regel nie der Platz, genauer zu erklären, wen man nun angerufen hatte oder woher das kam, WAS WIR AUS GUT UNTERRICHTETEN KREISEN ERFAHREN HABEN.

Wenn ich sowas lese, spitze ich meine Bleistifte an. Einen nach dem anderen. Ganz geruhsam. Haben Sie immer einen angespitzten Bleistift daliegen, Sie werden ihn brauchen, das verspreche ich Ihnen.

Glauben Sie nie diesen Satz: DIE PRESSE IST FREI.

Aber nehmen Sie ihn ernst.

Wenn Sie ihn von mir hören.

Ich habe natürlich bei diesem etwas langweiligen Herren im Rathaus angerufen, den sie dort den Pressesprecher nannten, und der meinte, bei ihm habe niemand nachgefragt, was den Herrn L. betreffe. Dasselbe bei Herrn Knarrpanti, der eh schon ziemlich gereizt reagierte, weil er meine Anfragen für verdammt lästig hielt, aber irgendeine Anfrage zu Herrn L.s Verwicklungen in die ganzen Vorgänge um den Herrmannkai habe er nicht auf dem Tisch, außer von L. selbst eine „beschissene lange Liste mit injurierenden Fragen, die ich weder ihm noch Ihnen, SEHR GEEHRTER HERR S., jemals aus nachvollziehbaren Gründen beantworten werde. Aber das wissen Sie ja …“

Wir befanden uns also in einem kleinen, veritablen Zeitungskrieg, in dem uns die flotte Konkurrenz eine Hatz auf so alles andichtete, was in diesem Örtchen Rang und Namen, Orden und Verdienste hatte. All das, was frühere Generationen mal Wohltäter nannten.

Ich konnte die GUT UNTERRICHTETEN KREISE schon riechen.

Warum riefen sie dann eigentlich überhaupt noch bei uns an, fragte sich mein etwas überdrehtes Gehirn. Der etwas hartnäckige Gedanke kreist schon die ganze Woche in meinem Kopf und kam immer wieder angesurrt wie eine Schmeißfliege.

Auch so ein Grund, warum ich nach dieser Schweinehatz mit den vier völlig neu zusammengeschmissenen Seiten nicht schlafen konnte.

Wenn mein Gehirn erst mal überdreht, hört es nicht auf zu rotieren, auch wenn meine Augen, mein Herz und meine armen Füße die ganze Zeit flehen: Hör endlich auf, wir wollen schlafen!

Haben Sie schon mal versucht, ihren kleinen Denkapparat zum Aufhören zu bewegen, wenn er durchdreht?

Dann wissen Sie, wie das ist.

Und wie das erst recht ist, wenn schon die ersten Morgensonnenstrahlen durch die Vorhänge kriechen, gerade da, wo man glaubt, jetzt könnte man doch noch ein Mützchen Schlaf erwischen, wenn auch mit Fischen drin und der Hoffnung, dass sich der ganze Rührsalat im Kopf endlich etwas klärte.

Aber was nutzt es, wenn die eine Seite „RUHE!“ brüllt und die andere Seite einfach weitermacht und stänkert und dann, gerade dann, wo man so das Gefühl hat, jetzt endlich abtauchen zu können in seligere Tiefen, dann kommt wieder so eine Schmeißfliege aus der Hälfte, die keine Lust hat, ein Nickerchen zu machen.

Da ploppte dann der Gedanke auf: NATÜRLICH spielten die Herren nicht dasselbe Spiel.

„LASS MICH SCHLAFEN, DU HORNOCHSE!“ – „Denk ich gar nicht dran. Hörst du? DIE SPIELEN NICHT DASSELBE SPIEL!“

Nein, ich unterlasse jetzt die Schilderung, wie ich mich selbst aus der letzten winzigen Gelegenheit hinausstänkerte, vielleicht doch noch mal fünf Minuten Schlaf zu bekommen. Und das wütende Wälzen auf durchtränktem Laken und so.

Denn das Ergebnis war eigentlich sonnenklar, auch wenn mir der Schädel dröhnte.

Wir hatten sie beim Pokern gestört. Was ich mir ja hätte denken können. Aber man wird ja wirklich langsam alt und sieht das Offensichtliche nicht: Die Bande hatte nie aufgehört, sich um die besten Brocken zu balgen und darauf zu lauern, dass einer wackelte. Oder sich überreizte. Sie spielten die ganze Zeit Halma.

Und L. hatte den Stäbchenhaufen zu Wackeln gebracht, als er anfing, überall komische Fragen zu stellen, weil er rauskriegen wollte, ob das Zeug auf der CD auch stimmt.

Natürlich stimmt es.

Aber wie das so ist, wenn man mit rasendem Herzen, Nachtschweiß im Nacken und Schimmelgeschmack auf der Zunge daliegt, und das Tageslicht kriecht in alle Ritzen, der Wecker glotzt frech und von einem menschenwürdigen Schlaf konnte nicht mehr die Rede sein, man bekommt die ersten Fäden zusammen und weiß genau, dass das ganze Ding abgekartet war.

Ich musste nur noch rauskriegen, wer die Herren Von und Zu geschickt hatte. Und wer nicht.

Und wer vor allem den Kollegen, den wir sinnigerweise nur den Blassen nennen, weil er so quarkgesichtig aussieht wie ein Glas Pflaumenmus oder ein Bratapfel nach einer halben Stunde Ofenröhre, den Floh ins Ohr gesetzt hatte, dass der Herr L. vom Konkurrenzblatt wohl der verwerflichen Jagdlust auf ehrliche Mitmenschen frönte.

Einfach ein bisschen Subtraktion.

Wer hatte Herrn L. also zum Bahnhof gelotst?

Fragen Sie mich nicht, wie der arme Mensch aussah, der an diesem Morgen mit völlig zerschlagenen Knochen und Tränensäcken unter den Augen vorm Spiegel stand und versuchte, die Augen offen zu halten. Ehrlich? Diese Scheiße hatten wir uns selbst eingebrockt. Eigentlich gehörten wir alle beide auf den Zahnarztstuhl eines Seelenklempners, der uns unsere Blütenträume von Rittern und Jungfrauen und besiegten Ungeheuern endlich austrieb. Oder wegoperierte. Edelmut macht blind und närrisch.

DIE PRESSE IST FREI?

Schöne Hoffnung.

Jeder miese Pokerspieler konnte uns übers Ohr hauen.

Träume sind was für Märchenbücher, du alter Sack. Lass dir das gesagt sein. Reg dich nie wieder auf. Achte auf deinen Blutdruck. Eine dicke fette Fliege kroch derweil quer über das Spiegelbild des geschafften alten Sacks, der mit aller Kraft versuchte, die Beulen der Nacht aus seinem Gesicht zu kneten, um wenigstens halbwegs wieder wie ein gesetzestreuer Mitbürger auszusehen, wenn er nachher mit geschäftstüchtig aufpolierter Miene hinausging auf die Straße.

Aber davor graute mir.

Nicht dass ich irgendwelche kleinhirnigen Schränke vor meiner Haustür erwartete.

Also rief ich Ella an, und schon beim Wählen hatte ich ein schlechtes Gewissen. Aber auch die härtesten Kerle brauchen jemanden, bei dem sie sich ausheulen können. Und katholisch würde ich in diesem Leben nimmermehr werden.

„Ach, Bärchen“, sagte sie, als ich anrief.

Mehr sag ich dazu nicht.

Die ganze Serie „Und was passiert jetzt?“

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar