Für FreikäuferEin Grund für die stille Verärgerung in der Chefetage der kleinen Lokalzeitung, bei der Herr L. sich seine Brötchen verdiente, war natürlich ein Artikel seines Kollegen S. gewesen. Der war ja ein Momentchen lang überglücklich gewesen, wieder frech wie Bolle richtig wie ein Reporter arbeiten zu dürfen. Der Stoff qualmte ja regelrecht vor lauter Möglichkeiten. Und den eilig anberaumten Pressetermin beim Bürgermeister hatte er sich natürlich nicht entgehen lassen.
Es war einer dieser Schnell-noch-zum-Dienstschluss-Termine, wenn die Stabsstelle im Rathaus das ungute Gefühl hatte, dass Schweigen vielleicht doch keine gute Alternative war. Seit Tagen munkelten die Zeitungen darüber, welche Rolle der Bürgermeister selbst in der ganzen Affäre um die verschwundenen Grundstücksakten spielte. Deckte er seine Leute? Hatte er selbst ein bisschen mitverdient, als ein paar nette kleine Grundstücke ihre Besitzer wechselten, ohne dass jemand wusste, wem sie ursprünglich mal gehörten?
Und wie war das mit der Genehmigung für das Seegrundstück, die so eilig wieder kassiert wurde?
„Ein Versehen“, sagte der Mann, den die Bewohner von L. alle kannten, weil er mit seinem breiten Lächeln allgegenwärtig war auf Plakatwänden, bei Autohauseröffnungen, im Golfclub und bei Spendengalas. Er präsentierte sich gern mit weiblicher Gesellschaft mitten im Blitzlichtgewitter, verkündete gern gute Zahlen, Geburten, Hochzeiten – Todesfälle eher ungern. Es sei denn, es starb einer aus der Garde jener steinalten Berühmtheiten, die vor Jahrzehnten mal das Musik-, Sport- und Geistesleben der Stadt über ihre Grenzen hinaus berühmt machten. Wenigstens ein bisschen. Bis zum nächsten Dorfrand.
Und besonders schien der Blasse von der Konkurrenzzeitung den Termin zu genießen und den Mann in seinem taubengrauen Anzug mit Freuden zu piesacken.
Wusste er, um welche Grundstücke es sich handelte?
„Das ist derzeit Inhalt der Ermittlungen.“
„Gegen Ihren Amtsleiter?“
„Gegen Unbekannt. Sie können versichert sein, dass wir alle von diesen Vorgängen erst jetzt erfahren haben und dass wir den Hinweisen …“
„Aber es wurde doch schon ewig gemunkelt …“
„Gerüchte haben oft viele Ursachen. Das sollten Sie eigentlich selbst wissen. Mal ist es Missgunst, mal ein bisschen Neid, ein bisschen zu wenig Anerkennung … Auch im Rathaus arbeiten nur Menschen …“
Sollten die nicht ein wenig sorgsamer mit städtischem Besitz umgehen?
Das war dann wohl die Frage, die Kollege S. so auf den Nägeln brannte.
„Das tun sie, dessen kann ich Sie versichern. Nicht alles, was in Ihrer Zeitung steht, muss auch … ich sage es mal so … eine nachweisliche Grundlage in unserer Arbeit hier haben. Nicht alles, was Sie aus dritter Hand erfahren, muss stimmen.“
Bedeutsamer Blick. Ein Moment, den sogar ein, zwei Fotografen einfingen, die die Szenerie umschwirrten in der Hoffnung, den richtigen Moment zu erwischen, in dem der stets kontrollierte Herr der Stadt ein wenig die Contenance verlor, vielleicht ein wenig überrascht wirkte, wenn er mit Fragen geärgert wurde, mit denen er nicht gerechnet hatte.
Aber wer vergaß so schnell, wie lange dieser Mann schon regierte mit dem stillen Wohlwollen der Bürger? Wie viele Skandale hatte er schon überlebt, bekleckert bis zum Hemdkragen – und dann stand er doch wieder mit demselben durch nichts zu erschütternden Lächeln vor den Kameras.
„Es ist von hunderten Millionen Verlust für die Stadt die Rede …“
„Wer sagt das? Mir liegen solche Informationen nicht vor.“
„Allein der Grundstückswert …“
„Dazu müsste ich die Grundstücke kennen, um die es geht. Glauben Sie mir …“
Am Ende war es einer jener Momente, in denen selbst ein altgedienter S. schwankte zwischen Glaubenwollen und zunehmender Skepsis. Was nicht an den Fakten lag. Die konnte keiner aus der Runde belegen.
„Mit Mutmaßungen kann man nicht arbeiten, das werden Sie verstehen“, hatte der Mann mit dem Pokerface gesagt. Und war ohne Schlenker in ein Loblied auf seine – „pardon: diese, unsere Stadt“ – gekommen. Auf all die Dinge, „die wir uns ohne einen Verzicht auch auf wertvollen Grund und Boden niemals hätten leisten können. Schauen Sie sich doch um: Unsere Stadt blüht wieder, sie lebt, sie atmet. Man hört Kinderlachen auf den Straßen und abends Musik, man traut sich wieder hinaus – Sie haben vergessen, wie es früher war, wie grau, wie trist. Ohne die weitsichtigen, klugen Männer, die frühzeitig auf diese Stadt mit ihren fleißigen Bewohnern gesetzt haben …“
An solchen Stellen kann es altgedienten Reportern schon einmal passieren, dass sie mitten im Text anfangen, abzuschalten. Die Ohren hören nicht mehr, was vorübersaust. Der Stift schreibt nicht mehr mit. Nur die Augen schauen noch etwas verwirrt auf den eisgekühlten Mann hinter den Mikrophonen, der redet und redet. Aber wie er redet, das registriert man noch – als wäre der Text nur Beiwerk, eine große Buttertorte für all die lieben, netten Damen und Herren von den Medien, die so leicht in andächtiges Staunen verfielen. Sich wärmten und beruhigten in diesen Worten. Nichts, wirklich nichts gebe Grund zur Beunruhigung. Wo die verschwundenen Akten geblieben seien, das werde man aufklären. Und dass die Staatsanwaltschaft einige davon geordert hätte, sei nur rechtens. „In wessen Interesse läge es mehr als in meinen, endlich aufzuklären, was damals geschehen ist. Eine Übergangszeit, ein Moment der Anarchie. Sie wissen selbst, wie viel Mühe wir aufgewandt haben, diese Stadt wieder zu einer rechtmäßig funktionierenden Stadt zu machen, in der Unternehmergeist und Ordnung gelten. Und um nichts anderes geht es jetzt. Lassen Sie den Herrn Staatsanwalt seine Arbeit machen. Lassen Sie mich meine Arbeit machen. Und glauben Sie mir: Sowie es wirklich Neuigkeiten zu berichten gibt, werden Sie die Ersten sein ….“
Vielleicht war es dieser Moment des professionellen Weghörens, dieser Moment, den mancheiner kennt, der zu viele Nächte schon ohne genug Schlaf und zu viel Tee hinter sich hatte, so dass er mitten am Tag diese Momente der traumhaften Verwirrung erlebte – jedenfalls berichteten einige Medien am nächsten Tag wirklich ausführlich über den ungebrochenen Aufklärungswillen des Mannes, der während seiner Rede sehr genau beobachtet hatte, wie sie auf die anwesenden Redakteure wirkte.
„Ich liebe diese brutalstmöglichen Aufklärer“, hatte Kollege Stachelschwein gebrummt, als er Herrn L. später die erste Variante seines Artikels zeigte, der noch die optimistische Überschrift trug: „Bürgermeister gibt sich zuversichtlich. Suche nach verschwundenen Akten beginnt.“
Aber die Zeit bis zum Redaktionsschluss lief ab, in einigen Zimmern gingen schon die Lichter aus. S. schrieb eine zweite Fassung, in der er versuchte, das unterzubringen, was ihm in diesem schwammigen Moment im Bürgermeistertermin durch den Kopf gegangen war.
Da lautete die Überschrift dann schon: „Das Rätsel um die verschwundenen Akten. Bürgermeister gibt sich ahnungslos“.
Aber selbst das genügte nicht. Und er schrieb eine dritte Fassung, die er noch im allerletzten Moment in den Satz geben konnte.
Da lautete dann die Überschrift: „Bürgermeister spielt auf Zeit. Ihr werdet es zuletzt erfahren“.
Das war dann wohl der Grund für den ungnädigen Anruf aus der Chefetage, in dem S. mehrmals zu Sprechen anhob und doch jedes Mal wieder unterbrochen wurde. Nicht mal den Satz „Dann schmeißen Sie mich doch raus“ bekam er unter.
Wobei er hinterher selbst nicht wusste, wie ernst er ihn gemeint hätte. Oder ob er ihn nur gesagt hätte, um zu erfahren, wie ernst es die Chefetage meinte. Denn das Gefühl, all die letzten Jahre wie in Watte gelebt zu haben, wurde er nicht mehr los. Ebenso wenig wie das Gefühl, dass auch die Aufregung der Leser in ihren Briefen in dieser Woche nur ein Spiel war, nicht ernst gemeint. „Sauerei!! – „Die Kerle hätte man längst …“ – „Früher hätte es das …“
Sie hatten ein paar von den etwas überlegteren Leserbriefen zur Grundstücksaffäre auch abgedruckt. Und daraufhin neue bekommen. Doch wenn sich S. die ganze Leserbriefseite so ansah, dann war auch sie voller Watte. Voller wütender Worte, das ja. Und auch voller Erwartung, die Reporter ihrer kleinen Zeitung würden „den Sumpf im Rathaus jetzt trockenlegen“, „Ross und Reiter beim Namen nennen und dann ab hinter Schloss und Riegel mit der Bande“ …
Und das war es schon.
Er würde auch auf seinen (am Ende doch mit drei Druckfehlern verzierten) Artikel Leserbriefe bekommen. In derselben Tonlage: Erbost, fordernd, gnadenlos.
Aber was folgte daraus?
Vielleicht noch ein ungnädiger Anruf aus dem Rathaus?
Obwohl: Der war wohl schon direkt beim Chef gelandet, der sich selten bis nie in den Bauch seiner Zeitung verirrte. Höchstens selbst anrief von oben und ein ungehorsames Schaf zusammenrüffelte. Und das war’s. Hatte S. jetzt den Ruf der kleinen Stadt L. irreparabel beschädigt? Hatte er die ganze schöne Aufbauarbeit jener Männer und Frauen zerstört, „die hier damals die Karre aus dem Dreck gezogen haben“?
Und während Herr L. also da draußen irgendwo mit einem kleinen, feurigen Italiener durch die Straßen bretterte, saß Kollege Stachelschwein mit seliger Verzweiflung an seinem Schreibtisch und malte sich schon aus, wie er die großen Anfänge der großen Männer in der großen Stadt L. beschrieb. Die ersten Sätze hatte er sogar schon auf seinen Block geschrieben: „Es war einmal eine kleine Stadt namens Weißichnichtmehr, in der die Grundstücke herrenlos herumlagen und die Sonne nur an manchen Tagen schien. Und die Menschen dort waren klein und grau. Und dann …“
Und dann?
Dann schrieb er eine schöne große Geschichte mit der Überschrift: „Wie wir dereinst gerettet wurden“. Gespickt mit lauter Früher/Heute-Fotos, die zeigten, die unbeschreiblich unvergleichlich alles geworden war. Und um bis zum Schluss durchzuhalten, ließ er sich eine große Käsepizza bringen. Mit extra viel Schinken drauf. Auch darauf würde es Leserbriefe hageln mit lauter Lob für den emsigen Autor.
Und nur die Wenigsten würden vor lauter Freude bis ganz nach unten lesen, wo S. den Lobpreis gipfeln ließ in dem Satz: „Und all das wäre ohne die tatkräftigen Männer, die damals beherzt anpackten, ohne zu wissen, ob ihnen ihr Werk gelingen würde, nie so unverwechselbar gelungen, wie es heute jedem Bewohner von L. vor Augen steht.“ Das würden nicht mal die Setzer monieren.
Vielleicht gäb’s dafür auch wieder so ein hübsches, süßes Lob aus dem Rathaus: „Das haben Sie aber mal wieder schön geschrieben, Herr S.“
Vielleicht sollte er sogar eine Serie draus machen. Denn noch vor Mittag trudelte die Antwort der Staatsanwaltschaft ein: „… werden wir zu den von Ihnen angefragten Akten im Verfahren keine weiteren Angaben machen und auch vor Abschluss des Verfahrens keine weiteren Auskünfte geben. Wir bitten um Verständnis …“
Oh, das Verständnis hatte S. schon irgendwie. Er bestellte sich noch eine Käsepizza, trieb ein paar kleine Scherze mit der jungen Frauenstimme am Telefon. Und tat nur ein wenig geknickt, weil sie ihm die Pizza nicht persönlich vorbeibringen wollte.
„Dafür haben wir unsere Leute, Herr S. Das werden Sie sicher verstehen?“
„Versteh ich doch, meine Gudste. Aber der Bursche hat einen Hipsterbart. Und Hipsterbärte kann man nicht knutschen …“
„Das gehört nicht zu unserem Angebot, Herr S.“
„Weiß ich doch. Aber Ihre Pizzen sind so lecker …“
„Ich werde es Don Leone weitersagen. Da wird er sich bestimmt freuen …“
„Ach, hätte ich fast vergessen“, freute sich S. Und legte auf. Und genoss zum ersten Mal in dieser Woche das Gefühl, nur ein simpler Mensch zu sein mit der frohen Erwartung einer Pizza mit extra viel Schinken und Käse drauf.
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