LeserclubScherben spritzten über die Steine. Kaffee tropfte von L.s Mantel. Das Klirren und Bersten erreichte ihn Sekunden später. Eigentlich sogar erst, als sein blasser Kollege wieder unterm Tisch hervorgekrochen kam, mit scharfem Blick Richtung Bahnhofsbistro. Da hatte es tatsächlich eine riesige Scheibe zerlegt.
Und eine zappelnde Figur war zu sehen, die von emsig schnaufenden Polizisten zurückgezogen wurde ins Innere. Was ihnen sichtlich schwer fiel. Denn die Gestalt zappelte und zerrte, versuchte den greifenden Händen zu entkommen, während die ernsthafte Dame mit ihrem Rollkoffer dabei stand und alles nur streng zu beobachten schien.
Ob sie es denn diesmal richtig hinbekämen, die Herren Müller und Schulze. Denn den Schwarzen kannten sie ja schon lange aus ihrer Arbeit. Auch wenn er die Handtasche nicht mehr dabei hatte. Und dennoch eifrig ans Fliehen dachte. Wozu er wohl auch einen Stuhl verwendet hatte, denn der hing selbst noch zwischen lauter spitzen Scherben, die jedem Übermütigen die Adern zertrennt hätten, wenn er es gewagt hätte, hier durchs gesplitterte Loch zu flüchten.
Was der Schwarze immer wieder versuchte, bevor der Stämmigere der beiden Polizisten die Geduld verlor, ihm den Arm auf den Rücken zerrte und ihn wie ein bockiges Schaf zur Tür schob.
Die war zwar auch aus Glas, schnurrte aber ordentlich auf, als die drei Ringenden herauskamen – wütend der geduckte Schwarze, grimmig sein Arretierer und stolz Herr Meier oder Schulze dahinter, der wissend dreinschaute. Vielleicht, weil er so eine Ahnung hatte, wo der Schwarze die gesuchte Handtasche vertickt haben könnte. Die Wege der Ware in diesem Bahnhof waren ihm einigermaßen vertraut.
Nur wenn kein Zeuge Anlass zu heroischen Taten gab, schaute auch Lehmann, oder wie er hieß, lieber weg. Gewitzigt durch Jahre der völlig überflüssig erstellten Ermittlungen, Schriftstücke, Beweisaufnahmen, die irgendwo oben in den gewaltigen Schlünden der justiziarischen Bürokratie auf Nimmerwiedersehen verschwanden. Vielleicht auf gigantischen Bergen von eingelieferten Verfahrensakten, die nicht mal eine Eingangsnummer bei der Staatsanwaltschaft bekamen, weil der kleine Schreiber, der die Nummern verteilte, aus Rationalitätsgründen schon vor Jahren eingespart worden war.
Da musste ihm keine erzürnte Frau Rechtsanwalt kommen. Das würde er ihr schon beweisen.
Mit einem ordentlichen Aufnahmeprotokoll, einer kleinen Spurensuche, zwei, drei kleinen Zeugenvernehmungen. Ach ja, und Fräulein Übermut war ja auch noch zu protokollieren.
„Dann kommse mal mit“, schnarrte Müller, wenn er denn so hieß, dann auch in einem Ton, der über den ganzen Bahnsteig zu hören war. Und er meinte nicht den immer noch zerrenden, aber so langsam ermüdenden Schwarzen, der sich von seinem sauer erworbenen Geld eben gerade etwas Hochprozentiges holen wollte, sondern Fräulein Rechtsanwalt, die diesmal nicht protestierte, sondern folgte.
Denn ohne Protokoll kein Verfahren.
Man sah sie innerlich seufzen und ihren Zug abschreiben im Kopf. Den würde sie beim Tempo der beiden Ordnungshüter nie und nimmer schaffen.
Und der Blasse, mit dem sich Herr L. eben noch so – na ja – kollegial unterhalten hatte?
Der war mittlerweile wieder aufgetaucht, keinesfalls blass. Denn in dem Hause, in dem er seine Alimente verdiente, legte man Wert auf ein fittes Erscheinungsbild. Deshalb ging man dort ganz berufsmäßig auch joggen, fitten und bräunen. Vielleicht etwas öfter, als gut tat. Deswegen war der Kollege (sollte er bei diesem Gedanken eigentlich Gänsefüßchen setzen, fragte sich L.) auch eher das Gegenteil von blass. So, wie man sich Blässe vorstellt, wenn sie sich hinterm Mond versteckt in der Nacht.
Auch wenn das Lächeln aus dieser Mondlichkeit dann doch etwas Strahlendes hatte. Ein Jaguarlächeln blitzt manchmal so. Oder das eines Schakals, stellte sich L. vor. Auch wenn er mit Schakalen, außer berufsmäßig, eher selten zu tun hatte. Und sie rochen auch nicht wie Schakale, sondern meist ordentlich nach Lederpolitur. Und ein bisschen nach Schweiß. So, wie man ein bisschen erschrocken nach Schweiß riecht, wenn man sich eben gerade mit schwappendem Kaffee unter den Tisch gehechtet hatte.
„Glaub ja nicht, dass ich …“
„Glaub ich auch nicht“, sagte L., der sich schon längst ziemlich fehl in der Landschaft fühlte, einerseits noch etwas überhitzt vom vielen Laufen und Doch-zu-spät-Kommen, anderseits etwas feucht angewärmt vom spendierten Kaffee gerade auf der Seite mit dem Päckchen.
„Du schuldest mir was“, sagte der Blasse. Ohne eine Pause zum mentalen Umschalten zu lassen. Eben noch ein kriegserfahrener Reporter (wie sie in seinem Hause traditionell bevorzugt wurden, was dort stilbildend war bis zur Schlagzeile, ein ordentlich kämpferisches Blatt eben mit Durchbruch, Einkesselung und gern auch der vollkommenen Vernichtung der Feinde, von denen es reichlich gab und gibt, wie man weiß seit Karl May). Aufgetaucht also, kurz die Tarnung wieder gerade gerückt. Und dann ein Leopardlächeln für Leo: „Du schuldest mir was …“
„Behalt deinen Kaffee“, schnaubte L. Oder versuchte es jedenfalls. Die richtig guten Sprüche hätte er vielleicht mal trainieren sollen. Vielleicht vorm Spiegel. Aber bei solchen Sachen kam er sich schon immer lächerlich vor. Erst recht, seit er die berühmten Bilderserien des Herrn Hoffmann vom noch berühmteren Herrn Hitler gesehen hatte, diesem hässlichen Männlein, das sich vor der Kamera zu schrecklicher Grimmigkeit aufblies. Ein Leuteschreck mit Kaspergesicht. Aber nun schwiff L. schon wieder ab.
Weswegen es wohl ganz gut war, dass er sich noch während der seltsam koffeinhaltigen Zumutung des Blassen halb abgewandt hatte.
„Hörst du mir überhaupt zu?! Du schuldest mir was!!“
Die zwei Ausrufezeichen stehen zu Recht da. Denn der Blasse hatte nicht nur seine gute militärische Feldertüchtigung nicht vergessen, er hatte auch noch den Ton drauf, den einer drauf hat, der mal drei, vier oder ein Dutzend Muschkoten durch den Dreck jagen durfte. So ein ordentliches: „Runter mit Ihnen, Bürger Schulze! IN DEN DRECK!!“
Deutsche Feldwebeltönchen.
Ach wie schön, dachte irgend ein lustiges Areal in L.s Kopf, während er schon halb im Gehen und halb im Laufen war. Dazu brauchte es gar nicht dieses animalische Knurren.
„”Willst du einfach abhauen, L.? Das KANN DOCH NICHT WAHR SEIN!!“
War es aber doch. Es gibt Töne im Leben, die lassen Menschen wie L. einfach schnurstracks die Flüchte ergreifen. Möglichst viele auf einmal, damit das verfressene Raubtier im Nacken erst mal in Schwierigkeiten kam, das Wild zu orten.
Denn eins wusste L: Wild war er noch immer. Aufgeschreckt vielleicht, aber durchaus auch flott wie ein Reh, wenn’s drauf ankam.
Und wenn ihn ein paar Leute mit dem erwischten, was er da – kaffeedurchnässt – in der Manteltasche trug, dann würden sie ihn jagen. Nach Moskau oder London. Da, wo man landet in solchen Fällen, in irgendwelchen obskuren Botschaften, wenn man das Glück hatte, noch eine zu finden, wo der Pförtner auch nur einen Spalt weit die Tür aufmachte.
Und nicht schon der Blasse und seine Kollegen davor standen: „Was haben wir denn da, Herr L.?“
Auch wenn der Blasse jetzt erst mal verdutzt war, weil L. tatsächlich immer schneller lief oder schritt oder eilte, je nachdem, der Treppe zu, dem Ausgang zu. Unwiderstehlich gezogen von dem Gedanken: „Ich brauche ein Fluchtfahrzeug.“
Brauchte er zwar nicht. Er hatte ja noch nichts angestellt. Oder war noch nicht erwischt worden beim Nichts-Angestellt-Haben.
„Kommst du wohl sofort wieder …“, brüllte der Leopard. Aber damit bewirkte er nur, dass das flüchtige Wild noch schneller ausschritt, noch weiter tatzte oder schon halb sprang, halb schon in der Tür, die ihn hinaus gelassen hätte ins Freie. Wäre ihm die Tür nicht in dem Moment mit aller Wucht vors Gesicht gehauen worden.
„Könnse nich aufpassen. Depp verfluchter. Strohwisch vermaledeiter“. Breitschultrig, breithüftig, einen riesigen Rollkoffer hinter sich her zerrend wälzte sich ein Berg von Mensch in die Halle. Und nur der Klang dieser Stimme, volltönend und jovial, selbst noch beim Fluchen, machte Herrn L. putzmunter, während der Schmerz ihm in die Nase schoss. Diese Stimme kannte er nur zu gut. Die Dinge waren schon längst ins Rollen gekommen. Und noch während er das Taschentuch aus der Hose kramte, wurde er geblitzt. Der Blasse stand breitbeinig im Anschlag und hatte beide feinstens ins Bild bekommen: den zum Bahnsteig walzenden Berg von Mensch und – wahrscheinlich klein dahinter – den Herrn L. im Mantel. Das würde eine Story.
Doch jetzt hatte L. erst einmal mit einer blutenden Nase zu kämpfen.
Sie haben den Anfang verpasst?
Hier ist Teil 1, in dem Herr L. eine heiße Geschichte vergießt und aufbricht zu einem noch viel heißeren Termin.
In Teil 2 geht es um ein Knappdaneben, über das sich Herr L. gewaltig ärgern dürfte.
Entgleitet Herrn L. auch diese Geschichte wie ein Fisch?
Und in Teil 3 wurde die höchst misstrauische Staatsmacht aufmerksam auf sein Treiben.
Die nicht ganz unwichtige Rolle von Zerstreutheit und Koffein im Leben des Herrn L.
Und in Teil 4 gab’s auf einmal Ärger für zwei misstrauische Beamte
Eine ziemlich frustrierende Begegnung auf Bahnsteig 7 – aber für wen eigentlich?
In Teil 5 hat es ordentlich gescheppert und Herr L. bekam es mit einem misstrauischen Kollegen zu tun.
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