Ferien im Herbst. Zwischendurch scheint die Sonne zwischen den Bäumen und Häuserfronten hindurch. Der Oktober kommt mindestens halb-golden hervor, und dennoch, es wird bereits etwas klamm unter der Überziehjacke, wenn man morgens aufs Rad steigt. Aber das kann man in der Ferienzeit ohne Erfüllungsdruck tun, das morgendliche Aufstehen wird nicht von einem piependen Wecker fremdbestimmt, sondern, wenn man sich einigermaßen ausgeschlafen wähnt.

Was für ein Luxus! Fast glaubt man, es nicht verdient zu haben. Nach dem aufregenden September mit seinen Wahl-Sonntagen wirken die letzten Tage und Stunden beinahe wie eine unpolitische Meditation-Lounge. Gewiss, das ist nun wirklich übertrieben und tendenziell egoman. Klar.

Ferientage sind dann auch Mußestunden, in Ruhe zu reflektieren, sowohl sich selbst als auch die Umgebung mit einer ungezwungenen Konzentration beobachten. Mit zunehmendem Alter kann man dies bewusster tun, genießen und dabei (beinahe ungewollt) kreativ sein. Das entsteht vielleicht sogar so etwas wie Kunst, also „Künstliches“ ohne kommerziellen Druck.

Aus einem „Selbst heraus“, ohne „Dead-Lines“, Abgabe- oder Korrekturdruck. Eine Wegskizze vorzeichnet, die irgendwann fast wie von selbst ans Ziel führt. Automatisch die Gedanken „verdichtet“. Das Ergebnis ist dann auch ein kleines Gedicht …

Herbst
Ständig schwingt.
Das Pendel schlägt aus.
Die Sonne sinkt.
Die Bäume zerzaust,
Äste suchen ihr Obdach

Am Boden liegen gelb-grau,
gleich Schuppen des sonnigen Lichts
Herbstliche Blätter ins Nichts
Greifen die Hände, ins Leere.

Die Augen suchen für zwei,
die letzte Kastanie gibt sich die Ehre
Gelbgraue Paare irren vorbei.

Das klingt beim genaueren Hinsehen schon fast wie ein Abgesang auf den Herbst. („… die letzte Kastanie gibt sich die Ehre …“) Macht aber nichts. Hier sind die Gedanken einfach ungeordnet geflossen, vorbeiziehende Menschen in einer herbstlichen Umgebung an einem Oktobersonntag. Zwangslos wirkt das Ganze, ohne bereits erwähnten Erfüllungs- oder gar Erfolgszwang. Naiv gedacht, ich weiß.

Unsere Welt ist längst nicht so beschaulich wie ein Feriensonntag im Oktober, kein strahlend blauer Himmel. Darüber können auch die besten rezeptiven und produktiven Kunst-Sinne nicht hinwegtäuschen.

Mich beschäftigt wie Sie sicher auch natürlich in der letzten Zeit der Zustand und die Verfassung unseres Landes, unserer Gesellschaft. Ich schreibe bewusst nicht Demokratie, weil ich dieses Theorem in den vergangenen Wochen so oft im verächtlich ausgesprochenen Kontext gehört habe, dass man diesen Begriff erst dann wieder ernsthaft verwenden kann, wenn er für eine Mehrheit – für uns – aktiv mit plausiblen und ansprechenden Inhalten gefüllt wird.

Dass wir alle uns dazu wieder mit grundlegenden Fragen beschäftigen, halte ich für eine vordringliche Aufgabe.

Dies versuche ich auf meinem Feld, meinem „Arbeits-Acker“, zu tun. Auch dazu kann – neben dem „Tagesgeschäft“ – die Ferienzeit genutzt werden. Beispielsweise auch, um an einem neuen Theaterstück für meine das Schauspiel liebenden Schülerinnen und Schüler zu denken und zu schreiben. Sie waren (und sind) in der letzten Zeit teilweise so bühnen- und projektverrückt, dass man den „Ehemaligen“ mit streng zusammengekniffenen Lippen erklären musste, dass nun nach dem Sommer und dem bestandenen Abitur auch Schluss ist mit dem Theaterspielen in der Schule.

Andererseits: Was kann man sich als Lehrer Besseres wünschen, als dass die Schützlinge nicht loslassen können und wollen vom Schul-Schau-Spiel, wo es doch immer heißt, dass die „neuen Medien“ jegliche Kreativität unter Jugend ersticken und sie nur ablenken würden.

Über einen „Wohlstandskomplex“, der ein fiktives Gemeinwesen erfasst und zunächst in den materiellen und geistigen Ruin getrieben hat, mache ich mir gerade Gedanken. Wie kann daraus ein die Spieler und Zuschauer inspirierendes, nachdenkliches und dennoch unterhaltsames Stück für die Bühne entstehen? Vielleicht so, indem man sich an Bekanntem – auch für die Schüler – orientiert.

„Der Besuch der alten Dame“ wird von ihnen in der Schule laut Lehrplan gelesen. Und es ist nicht das schlechteste Stück in einem – wie sage ich’s am besten – ambitionierten oder auch unverständlich zusammengestellten Lesekanon.

Die Grundfragen, die in Dürrenmatts Tragikomödie aus dem Jahre 1955 gestellt wurden, lassen die Vergangenheit verschwinden, da sie an aktueller Brisanz schwer zu überbieten sind. Was tun die Menschen alles für das Geld? Was bedeutet Reichtum in der heutigen Zeit? Zu welchen Opfern sind wir dazu bereit? Wie lebt es sich so im „Wohlstand“

Dürrenmatt stellte die diese Fragen 10 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Der von einem faschistischen Regime entfesselt wurde und furchtbares Leid über die Menschheit brachte. Allzu oft redet sich das geschichtsklitternde „History-TV“ mit der fragwürdigen These „Hitler war’s!“ heraus; ohne zu berücksichtigen, dass Kriege und Verbrechen gegen die Menschlichkeit Voraussetzungen benötigen.

Da gehören Entwertungserfahrungen ebenso dazu wie die falschen, inhumanen Schlüsse aus empfundenem Demokratieversagen und autoritärem Führungsversprechen. Dies plus fehlendes Einfühlen in fremdes Leben bei gleichzeitiger, individueller Wohlstandsaussicht, die wiederum das materielle Leid der Mitmenschen kleinredet … und schon ist der Boden bereitet für eigene Unzufriedenheit, Wut, individuelle – und im schlimmsten Fall – kollektive Aggressionsphantasien.

Im unübertroffenen, tragikomischen Entwurf des Schweizer Dramatikers Dürrenmatt (1921–1990) endet das Geschehen nicht mehr komisch, sondern tragisch. Die Bewohner einer Kleinstadt werfen ihre humanistischen Grundsätze entgegen anfänglicher Beteuerung nach und nach über Bord, opfern ihre materielle Gier der Lüge und schließlich dem Mord an einem ihrer Gemeindemitglieder. Klingt am Ende traurig, ist es auch.

Vielleicht fällt uns in diesen Zeiten – über den halb-goldenen Oktober und dem folgenden Winter hinaus – etwas Besseres ein. Lassen uns die Hoffnungen auf soziales Fühlen und Handeln einen anderen Weg, einen menschlichen Aus-Weg finden. Ob das möglich ist? Versuchen wir es. Dann sind wir „Reich in der heutigen Zeit“.

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