Einen ganzen Monat lang Fußball. Europameisterschaft. Mit einem Sieger, Spanien, der mit heißem Herzen und spielerischer Klasse zu überzeugen wusste. Und auf den richtigen Moment für den Torabschluss warten konnte. Den Torerfolg aber auch suchte. Anders als der „Berechnungsfußball“, der von anderen großen Fußballnationen praktiziert wurde.
Für die Nagelsmann-Truppe und das erfolgshungrige Fußballvolk hatte der spanische Triumph zwei Seiten der Goldmedaille: Zwar spielte man gegen den späteren Europameister eine Zeitlang auf Augenhöhe und verlor (auch) durch unglückliche Entscheidungen des englischen Referees – flog viel zu früh fürs geplante Sommermärchen bereits im Viertelfinale raus – konnte sich zum Schluss aber mit der Tatsache trösten, gegen den späteren Titelträger ausgeschieden zu sein. Immerhin.
Und das bei einer „Heim-EM“, die inoffiziell im Volk eine universelle Euphorie, ja gesellschaftliche Solidarität (?) und Geschlossenheit entfachen und darstellen sollte.
In welchem Volk? In einem sicherlich geteilten. Die einen interessieren sich „für Fußball“, die anderen nicht. Letzteren ist der ganze „Zirkus“ zu viel. Könnte man ja durchaus zustimmen, wenn man das postmodern, sakral anmutende Theater vor den Spielen, erst recht vor dem Finale, plus Vorberichterstattungen im TV bis zum Erbrechen, über sich ergehen lässt. Danach kann man den Hightech-Sport genießen, mit VAR und Ballchip, damit man feststellen kann, ob Kylian Mbappé die Flanke wirklich ins Abseits geschlagen hat oder er selbst da stand … erkennt man ja mit dem bloßen Auge nicht.
Viel gelacht und vor allem geweint wurde auch während des einmonatigen Fußballspektakels. Das gehört nun mal dazu zum Spiel, zur Simulation eines Kampfes. Die Großen haben die Meisterschaft entschieden, im Halbfinale war dann kein Außenseiter mehr am Start. Europa präsentierte sich in Deutschland als eine Fußballmacht, modern, geschlossen, ausgelassen und trinkfreudig im Fanbereich. (Man denke nur an die hin- und herschwankenden Holländer in der Leipziger City.) Nicht wenige meinten, dass dies alles viel öfter stattfinden und damit identitätsstiftend sein sollte. Wirklich?
Vor allem sollte dieses einen Monat lang währende Großereignis konsumstiftend wirken. Die Telekom hat es dabei meisterhaft vorgeführt. Da wurden mit dem Slogan „Alle Spiele live“ Millionen von Neukundinnen und -kunden be- oder besser erworben, die bei „Magenta TV“ rund um die Uhr mit Spielberichten aller Art plus Kommentaren jedweder Qualität unter Beschuss genommen wurden. Immer deutlicher wurde es, der Massensport Fußball ist natürlich ein Massenmagnet und ein Geschäftsmodell, mit dem man gut verdienen kann.
Gleichzeitig bemerkt man stärker eine Tendenz, die subtil daherkommt, um eine Bindung an das „Geschäftsmodell“ westlich-liberale Demokratie herzustellen und zu festigen. Man selbst kommt sich dabei beinahe lustvoll-ohnmächtig vor, als würde man etwas prinzipiell ablehnen … und kann sich dennoch nicht entziehen. Kennen Sie das?
Wenn dem deutschen Bundestrainer nach dem Spanien-Unglück die Tränen in den Augen stehen, die Spieler ganz volksnah trainierten und abends beim Herzogenaurach-Döner anstanden – all das wirkte so sympathisch und menschlich – dann fühlt man gemeinsam und vergisst all die ernsten Sorgen, die unsere Gesellschaft belagern. Zwischendurch, wenn sich die Ballsport-Artisten, Moderatorinnen und Moderatoren kurz in die Werbe- oder Nachrichtenpause verabschiedeten, dann waren sie wieder da. Die welt- und innenpolitischen Probleme, drohende Veränderungen für und in unserem Land, von denen wir an heißen Sommertagen am liebsten nichts sehen und hören möchten und einfach nur wollen, dass das „Leben gut zu uns ist“.
Keine Haushaltsdebatten unter dem Motto „Kanonen statt Kinder“, nach denen der Verteidigungsminister herumjammert, dass er ja „zu wenig bekommen“ hat. Keine Berichte und Kopfschütteln erzeugende Abendtalks von Lanz bis Illner, wo heiß debattiert wird, ob nun ein dementer oder verrückter Präsidentschaftskandidat in den USA besser für den Weltfrieden wäre … Ganz zum Schluss kommen neue amerikanische Mittel- und Langstreckenraketen um die Ecke, so als hätte man nun aus der Kalten-Kriegs-Geschichte so rein gar nichts gelernt. Der Feind steht im Osten und will Europa unterwerfen, dafür brauchen wir neue Waffen, gefordert von einer linksliberalen „Fortschrittskoalition“. Für die NATO als Friedenstruppe. Verrückte Welt.
Von vielem brauchen wir mehr und von einigem weniger. Von mir aus mehr Fußballspektakel mit geschickter Konsumentenakquise („Magenta-TV“) und Brot-und-Spiele-Mentalität. Lasst die Spanier ihren mit heißen Herzen erkämpften Titel feiern. Vielleicht brechen in zwei Jahren wieder weltmeisterliche Zeiten für den deutschen Fußballbund an. Wer weiß. Aber die bürgerlich-westliche Unterhaltungswelt hat die fatale Kehrseite des Alles-vereinnahmen-Wollens und des hybriden Überlegenheitsdünkels nicht gänzlich zu überdecken vermocht.
In einer Art „Einheitszivilisation“, wie der Publizist und Philosoph Richard David Precht unlängst formulierte. Davon brauchen wir weniger. Weniger an Weltkriegsgefahren und Spielen mit der Atomgefahr, Gefährdung der Schwachen und Schwächsten auf der Welt und im Land. Als hätten wir alles schon einmal überwunden geglaubt (oder gehabt) im vergangenen Jahrhundert.
Also ist es im Juli 2024 nur eine kurze Heißzeit der Sport-Freude in diesem Jahr. Nein, halt, die Olympischen Spiele kommen ja noch. Hoffentlich bleibt da alles friedlich. Würde der griechischen Tradition der antiken Olympiade vor knapp 3000 Jahren entsprechen. Waffenruhe und Frieden. Zumindest für kurze Zeit imperiales Streben sein lassen. Lasst die Spiele beginnen.
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