Wir kennen die Wirklichkeit nicht, wir können sie gar nicht kennen. Und doch hat jeder von uns eine klare Vorstellung von ihr. Wir machen uns unsere Realität selbst, gestützt auf offenbare und subtile Sinneseindrücke, auf Erwartungen, kulturellen Prägungen und Wünschen. Wie aber erschaffen wir uns ein Bild von der Welt? Damit beschäftigt sich ab Juni eine gemeinsame Ringvorlesung des Naturkundemuseums Leipzig und der HTWK Leipzig.
Immanuel Kant hat uns 1787 (in der Vorrede zur 2. Auflage seiner „Kritik der reinen Vernunft“) die Überzeugung und die Hoffnung genommen, die Wirklichkeit sei uns unmittelbar zugänglich, das Wesen der Natur in seinen Grundlagen erkennbar.
Aber er hat uns auch die Freiheit gegeben, über die Natur und deren Geheimnisse zu spekulieren. Wissenschaftler entwickeln Modelle, die Vorgänge in der Natur beschreiben und vorhersagen können, befreit von der Illusion der endgültigen Wahrheit.
An der Bildung unserer jeweils subjektiven Wirklichkeit haben Naturwissenschaftler ebenso wie Künstler mit Ihren Modellen, Bildern und Konzepten einen wesentlichen Anteil.
Oder Tierpräparatoren wie Hermann ter Meer, dessen 150. Geburtstag gerade in Leipzig gefeiert wird. 232 seiner großartigen Dermoplastiken stehen noch heute im Leipziger Naturkundemuseum. Ob uns ein Tiger bedrohlich erscheint oder zahm, es liegt in der Hand des Präparators. Auch haben wir alle eine Vorstellung von der Tiefsee, erzeugt durch einige wenige Momentaufnahmen, zusammengesetzt nach den Ideen der Forscher. Dank Karl May wissen wir doch, wie Indianer leben.
Und obgleich uns wohl 90 Prozent aller Arten auf unserer Erde unbekannt sind, haben wir ein klares Bild von Flora und Fauna, über Zusammenhänge, Abhängigkeiten und Symbiosen. Wir fassen Beschlüsse über Fangquoten oder den Einsatz von Pestiziden, über Maßnahmen zum Klimaschutz oder deren Unterlassung. Und tatsächlich, wir müssen Beschlüsse fassen, trotz barer Unwissenheit. Das zeichnet die Umweltwissenschaften aus und grenzt sie von anderen Wissensgebieten ab.
Dabei glauben wir stets, die vollständige Wirklichkeit im Blick zu haben, denn das Unbekannte trägt zur Bildung unserer Realität nicht bei. Und das ist gut so, denn alles andere wäre unerträglich.
Die Ringvorlesung zu Building Realities
Dr. Franz Fischnaller (Kunstkraftwerk Leipzig): Virtual Reality or Real Virtuality
Mittwoch, 1. Juni, 17.15 Uhr in der HTWK Leipzig, Nieper-Bau, Hörsaal N01, Karl-Liebknecht-Straße 134, 04277 Leipzig. Eintritt frei, öffentliche Veranstaltung.
Dr. Mark Benecke (Köln): Von der Spur zur messbaren Tatsache
Mittwoch, 8. Juni, 17.15 Uhr in der HTWK Leipzig, Geutebrück-Bau, Audimax G329, Karl-Liebknecht-Straße 132, 04277 Leipzig. Eintritt frei, öffentliche Veranstaltung.
In der Kriminalbiologie werden Spuren wie Haare, Blut, Sperma, Erbsubstanz oder Insekten von Leichen beziehungsweise Fundorten untersucht. Die Vergrößerung und „Darstellung“ der Spuren erlaubt nach Art eines Puzzle-Teiles oder Mosaik-Steines die Verknüpfung und Ableitung räumlich-zeitlicher Netze — Tat-Abläufe —; manchmal steht die Spur aber auch alleine und für sich.
Dr. Mark Benecke ist Deutschlands einziger öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger für dieses Fachgebiet und schildert einige Beispiele des Wahrheits-Aufbaus durch biologische Winzigkeiten und Einzelheiten. Die Darstellungen sind nicht zu krass, da die Veranstaltung öffentlich und digital stattfindet.
Yadegar Asisi (Berlin): Ein Blick in die verdichtete Realismus-Darstellung der asisi-Panoramen
Mittwoch, 15. Juni, 17.15 Uhr, HTWK Leipzig, Nieper-Bau, Hörsaal N01, Karl-Liebknecht-Straße 134, 04277 Leipzig. Eintritt frei, öffentliche Veranstaltung.
Yadegar Asisi spricht über seine Wahrnehmung des Begriffs Realismus, seinen Blick auf die Welt und welchen Beitrag Kunst dazu leistet. Seit 2003 schafft der Künstler die größten Panoramen der Welt. In Sachsen aufgewachsen und seit 1979 in Berlin lebend, überführte er das historische Panorama des 19. Jahrhunderts in das digitale Zeitalter und begeistert damit seit Jahrzehnten Millionen Besucher seiner Ausstellungen.
Als digitale Malerei mit modernen Mitteln entstehen die riesigen Kunstwerke aus zeichnerischen Skizzen, digitaler Bildbearbeitung, 3D-Modellen und Fotografie in einem mehrjährigen Prozess, der neben unzähligen Projektreisen und wissenschaftlicher Beratung die Mitarbeit seiner ganzen Künstlerwerkstatt erfordert. Die thematische Vielfalt von Asisis Arbeiten reicht von Stadtansichten über zeitgeschichtliche Ereignisse bis hin zu Anti-Kriegsprojekten und den großen Naturräumen dieser Erde.
Alle seine Bilder ziehen ihre Faszination nicht nur aus der malerischen Lichtsetzung, sondern insbesondere aus ihrem Detailgrad und der zumeist sehr realistisch wirkenden Darstellung. Einzigartig ist die szenische und topografische Verdichtung, die beispielsweise Naturräume in einem Bild zusammenführt, die in der Realität Hunderte Kilometer auseinanderliegen, so aber dem Betrachter komplexe Ökosysteme wie das Great Barrier Reef oder den Amazonas-Regenwald wirklich begreifbar machen.
Prof. Kiran Varanasi (HTWK Leipzig): Erfassung der realen Welt für die virtuelle Realität
Mittwoch, 22. Juni, 17:15 Uhr, HTWK Leipzig, Nieper-Bau, Hörsaal N01, Karl-Liebknecht-Straße 134, 04277 Leipzig. Eintritt frei, öffentliche Veranstaltung.
Prof. Dr. Klaus Niehr: Building Realities – Architektur und Imagination
Mittwoch, 29. Juni, 17:15 Uhr
Gebaute Realitäten im Kopf, auf dem Papier und in der Wirklichkeit werden beispielhaft für die Möglichkeiten stehen, Denken zu prägen und Umwelt zu verändern. Gleichzeitig machen sie deutlich, dass „Realität“ eine sehr volatile Angelegenheit ist und immer auch von Wünschen und Ideen unterschiedlichster Art abhängt. Vor allem dann, wenn die ebenso schwer zu fassende Größe ‚Zeit‘ mit ins Spiel kommt, die alles nur noch komplizierter macht.
Die Ringvorlesung auf der Homepage der HTWK Leipzig.
Alle Veranstaltungen werden live übertragen und können auf dem Medienserver der HTWK Leipzig abgerufen werden.
Zu Teilnahmebedingungen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie informieren Sie sich bitte direkt bei der HTWK Leipzig.
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