Das wollen die Forscher nun wirklich ganz genau wissen: Wann kam der moderne Mensch tatsächlich nach Europa? Erst, als es schon wärmer wurde? Oder schon früher, mitten in eisigen Zeiten? Jetzt gibt es wieder ein paar Belege dafür, die seine Ankunft in den kalten nördlichen Regionen Mitteleuropas tausende Jahre sichtbar machen, bevor die letzten Neandertaler im südwestlichen Europa verschwanden. Ein internationales Forschungsteam berichtet dazu über neue Fossilien des Homo sapiens aus der Ilsenhöhle in Ranis, Thüringen.
Diese wurden auf ein Alter von etwa 45.000 Jahren datiert und zusammen mit klingenförmigen, teilweise beidseitig („bifaziell“) bearbeiteten Steingeräten gefunden. Diese sind Leitformen des Lincombian-Ranisian-Jerzmanowician (LRJ), eines archäologischen Technokomplexes, der am Übergang vom Mittelpaläolithikum zum Jungpaläolithikum steht und damit den Wechsel von Neandertalern zu anatomisch modernen Menschen darstellt.
Die neu entdeckten Homo sapiens-Fossilien zeigen jetzt eindeutig, dass sie auch die in Ranis vorkommenden fein gearbeiteten, bifaziellen Blattspitzen gefertigt haben, die vorher oftmals den Neandertalern zugeordnet wurden, berichtet das Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie. Die Entdeckungen belegen somit nicht nur die frühesten modernen Menschen in Mittel- und Nordwesteuropa, sondern auch erstmals, dass der Homo sapiens Träger des LRJ in Europa ist.
Die teilweise beidseitig retuschierten Klingenspitzen aus Ranis – eine der Typuslokalitäten des LRJ – können mit Funden aus Europa, von Mähren und dem südöstlichen Polen im Osten bis zu den Britischen Inseln im Westen, verknüpft werden. Damit wird auch gezeigt, dass Homo sapiens Nordwesteuropa einige Tausend Jahre vor dem Aussterben der Neandertaler in Südwesteuropa erreichte.
Die Homo Sapiens aus Ranis
In drei Artikel berichten Forschende über neue Fossilien anatomisch moderner Menschen (Homo sapiens) und deren archäologischen Kontext aus der Ilsenhöhle in Ranis, Thüringen (Mylopotamitaki et al.) und rekonstruieren ihren Lebensraum und die damaligen klimatischen Bedingungen im nördlichen Mitteleuropa (Pederzani et al.). Sie beschreiben zudem, wovon sich diese ersten Siedler ernährten.
„Die Fundstelle in Ranis erbrachte den Beweis für die erste Ausbreitung von Homo sapiens in die nördlichen Breiten von Europa. Es ist jetzt sicher, dass Steingeräte, von denen man dachte, dass sie von Neandertalern hergestellt wurden, nun definitiv von modernen Menschen stammen. Das verändert unser Wissen über die Übergangsperiode fundamental, da nun klar ist, dass anatomisch moderne Menschen das nordwestliche Europa erreichten, lange bevor Neandertaler in Südwesteuropa verschwanden“, erklärt der ehemalige Direktor am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, Jean-Jacques Hublin, der heute den Lehrstuhl für Paläoanthropologie am Collège de France in Paris leitet.
Acht Meter mächtiges Schichtprofil
Unter der Leitung von Jean-Jacques Hublin, Shannon McPherron und Marcel Weiss vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie sowie von Tim Schüler vom Thüringischen Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie in Weimar führte ein internationales Forschungsteam von 2016 bis 2022 Ausgrabungsarbeiten direkt vor der Ilsenhöhle in Ranis durch. Es sollte die Abfolge der fundführenden Schichten und die zeitliche Einordnung der Fundschichten ermittelt werden. Zudem wollte das Team Hinweise darauf finden, welche Menschen Träger des LRJ waren.
Dazu mussten die Sedimente bis in acht Meter Tiefe freigelegt und die Funde daraus geborgen werden.
„Die Herausforderung der Grabung bestand darin, eine komplette acht Meter mächtige Sedimentsequenz zu untersuchen und dabei die Schichten des LRJ zu identifizieren. Es war auch gar nicht klar, ob nach den Ausgrabungen in den 1930er Jahren noch ausreichend fundführende Sedimente vorhanden waren.
Glücklicherweise trafen wir auf einen 1,7 Meter mächtigen Felsblock, unter dem damals nicht gegraben wurde. Nachdem wir diesen Versturzblock des ehemaligen Höhlendaches in Handarbeit zerkleinert und abtransportiert hatten, konnten wir die wichtigen Schichten des LRJ erreichen, die auch menschliche Knochenfragmente enthielten. Das war eine große Überraschung und entschädigte uns für die mühevolle Arbeit an der Fundstelle“, berichtet Marcel Weiss, der heute an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg forscht.
Tausende Knochenfragmente
„Die archäozoologischen Untersuchungen zeigen, dass die Höhle in Ranis abwechselnd von Hyänen, überwinternden Höhlenbären und kleinen Menschengruppen genutzt wurde“, erklärt Archäozoologe Geoff Smith von der University of Kent in Großbritannien. „Obwohl diese Menschen die Höhle nur über kurze Zeiträume nutzten, verzehrten sie Fleisch einer Reihe von Tieren, darunter Rentiere, Wollnashörner und Pferde.“
Und fügt hinzu: „Obwohl die Knochen in kleine Stücke zerbrochen waren, sind sie außergewöhnlich gut erhalten und erlauben die Anwendung der neuesten Methoden aus den archäologischen Wissenschaften, der Proteomik und der Genetik.“
Für die Identifizierung der Tierarten und von Homininen extrahierten die Forschenden Proteine aus morphologisch nicht identifizierbaren Knochen aus den LRJ-Schichten der Ilsenhöhle.
„Die Paläoproteomik ist ein relativ neues Instrument zur taxonomischen Einordnung nicht näher bestimmbarer Knochenfragmente aus archäologischen Fundstätten. Anhand dieser Untersuchungen konnten wir die ersten menschlichen Überreste identifizieren, die dann mit DNA-Analysen, Radiokarbondatierungen und der Analyse von stabilen Isotopen näher untersucht werden konnten“, sagt Dorothea Mylopotamitaki, eine ehemalige PUSHH-Marie-Sklodowska-Curie-Doktorandin am Collège de France und am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie.
Parallel zu den neuen Ausgrabungen wurden auch die alten Funde aus den 1930er Jahren, die sich im Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt in Halle befinden, hinsichtlich der Existenz von menschlichem Skelettmaterial durch Hélène Rougier und die dortigen Kollegen und Kolleginnen neu untersucht. Die Knochenfragmente aus der Altgrabung (1932–1938) wurden Stück für Stück begutachtet, um neue Menschenknochen zu finden.
Hominide Überreste
„Diese mühsame Arbeit wurde durch die Entdeckung einiger neuer Menschenknochen belohnt“, sagt Hélène Rougier, eine Paläoanthropologin an der California State University Northridge. „Es war eine unerwartete und fantastische Überraschung, in den schon seit nahezu 100 Jahren aufbewahrten Tierknochen, noch Menschenknochen zu finden“, ergänzte sie.
Nach erfolgreicher Identifizierung 13 homininer Skelettübereste aus beiden Ausgrabungen wurde diesen Funden DNA entnommen und analysiert.
„Interessanterweise stellten wir nicht nur fest, dass die Skelettfragmente tatsächlich von Homo sapiens stammten. Außerdem hatten mehrere von ihnen identische Sequenzen von mitochondrialer DNA – sogar Funde aus den verschiedenen Ausgrabungen. Die Fragmente scheinen somit von derselben Person oder einer bzw. eines Verwandten dieser Person mütterlicherseits zu stammen, was die neuen mit den Jahrzehnte alten Funden verbindet”, sagt Elena Zavala, Miller Postdoctoral Research Fellow an der University of California, Berkeley, und Forscherin am Max-Planck-Institut.
Ein weiteres wichtiges Ziel war die Gewinnung von DNA aus den Sedimenten der Fundstelle, insbesondere aus den LRJ-Schichten. Daher extrahierte das Team neben der Suche nach menschlichen Knochenfragmenten auch die DNA von Säugetieren aus Sedimentproben, um die archäozoologischen Untersuchungen zu vervollständigen.
Homo sapiens erreichte das nördliche Europa vor 47.500 Jahren
Mithilfe der Radiokarbondatierung bestimmten die Forschenden, in welchem Zeitraum Menschen die Höhle bewohnten. Die Homo sapiens-Knochenfunde aus den Ausgrabungen der 1930er und von 2016 bis 2022 wurden direkt datiert, wobei nur sehr kleine Mengen an Probenmaterial verwendet wurden, um die Knochen für weitere Analysen zu erhalten. Den Daten zufolge handelte es sich bei den Bewohnern der Ilsenhöhle um einige der frühesten modernen Menschen in Europa.
Außerdem führte das Team Radiokarbondatierungen von Tierknochen aus verschiedenen Schichten durch, um die Chronologie der Fundstätte zu rekonstruieren. Dabei konzentrierten sich die Forschenden auf Knochen mit Schnittspuren, die auf eine Bearbeitung durch Menschen hindeuteten, um die Chronologie-Daten einzelner Schichten der Fundstelle mit der Anwesenheit von Menschen in der Höhle verknüpfen zu können.
„Zwischen den Radiokarbondaten der Homo sapiens-Knochenfunde aus beiden Ausgrabungen und den ‘bearbeiteten’ Tierknochen aus den LRJ-Schichten, die im Rahmen der neuen Grabung entdeckt wurden, fanden wir eine sehr gute Übereinstimmung. Somit konnten wir eine sehr starke Verbindung zwischen den menschlichen Überresten aus der Ilsenhöhle und dem LRJ-Technokomplex herstellen.
Zudem deuten unsere Ergebnisse darauf hin, dass Homo sapiens diese Stätte bereits vor 47.500 Jahren sporadisch besiedelt hat“, sagt Helen Fewlass, EMBO Postdoctoral Fellow am Francis Crick Institute in London und ehemals am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie.
Homo sapiens konnte sich an raue Klimabedingungen anpassen
Nach ihrer chemischen Aufbereitung und Reinigung werden sehr kleine Proben von Tierzähnen in das Magazin eines Isotopen-Massenspektrometers geladen, um stabile Sauerstoffisotopen-Verhältnisse zu bestimmen, die Aufschluss über das Klima geben, in dem die Tiere in der Vergangenheit lebten.
Analysen stabiler Isotope von Tierzähnen und -knochen ermöglichen Einblicke in die Klima- und Umweltbedingungen, die diese frühen europäischen Homo sapiens im Raum Ranis vorfanden.
Indem es Informationen aus einem breiten Spektrum verschiedener stabiler Isotopenverhältnisse miteinander kombinierte, konnten die Forschenden zeigen, dass zur Zeit des LRJ ein sehr kaltes Kontinentalklima vorherrschte, mit offenen Steppenlandschaften, ähnlich denen im heutigen Sibirien oder Nordskandinavien. Während der Besiedlung von Ranis zur Zeit des LRJ dürften sich die klimatischen Bedingungen sogar noch weiter verschärft haben und es noch kühler geworden sein.
„Unsere Ergebnisse zeigen, dass selbst diese frühen Homo sapiens-Gruppen, als sie sich über Eurasien ausbreiteten, schon in der Lage waren, sich an solch raue klimatische Bedingungen anzupassen“, sagt Sarah Pederzani von der Universidad de La Laguna und dem Max-Planck-Institut, die die Paläoklima-Studie an der Fundstätte leitete.
„Bisher ging man davon aus, dass die Widerstandsfähigkeit des Menschen gegen kalte Klimabedingungen erst mehrere tausend Jahre später entstand. Somit ist unser Ergebnis durchaus überraschend. Vielleicht waren kalte Steppen mit größeren Herden von Beutetieren für diese Menschengruppen attraktiver als bisher vermutet.”
Die multidisziplinäre Studie umfasste archäologische Ausgrabungen, morphologische und proteomische sowie taxonomische Identifizierungen, Analysen von mitochondrialer DNA, Radiokarbondatierungen von neu ausgegrabenem Material und direkte Datierungen menschlicher Überreste, Archäozoologie- und Isotopenanalysen. Sie ist ein Meilenstein bei der Erforschung der frühesten Vorstöße von Homo sapiens in das Europa nördlich der Alpen während des Übergangs vom Mittel- zum Jungpaläolithikum.
Diese frühen Siedler drangen unter sehr kalten Klimabedingungen nach Europa vor. Sie bewegten sich in kleinen Gruppen durch die Landschaft, die sie mit großen Fleischfressern wie Hyänen teilten, – und sie stellten wunderschöne blattförmige Steinwerkzeuge her.
„Die Resultate der Forschungen an der Ilsenhöhle in Ranis führen nun zu einem fundamentalen Umdenken zur Besiedlungsgeschichte am Beginn der Epoche des modernen Menschen und zu deren Zeitabläufen. Es ist besonders erfreulich, dass wir die ältesten bekannten Homo sapiens-Funde hier in Thüringen haben“, sagt Tim Schüler vom Thüringischen Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie in Weimar.
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