Der Abiturdurchschnitt der sächsischen Schüler hat sich auch im Jahr 2022 verbessert. Was beim ersten Lesen nur erfreulich ist, macht beim genaueren Hinsehen skeptisch. 2016 lag der sächsische Abiturschnitt noch bei 2,32. 2016 dann schon bei 2,24 und 2022 bei 2,07. Die Zahl der Schüler mit dem eigentlich äußerst seltenen, weil schwer zu erreichenden Durchschnitt von 1,0 stieg von 1,4 auf nun 4,6 Prozent.
Rein statistisch gesehen hat also in jeder 10. Klasse, die im Jahr 2020 auseinander gegangen ist, um in der Oberstufe nach neuem Wissen zu suchen, ein Schüler gesessen, der später eine 1,0 erreicht hat. Am Leipziger Reclam-Gymnasium haben über 13 Prozent der Abiturienten im vergangenen Schuljahr eine 1,0 erreicht, 17 an der Zahl.
Sind die sächsischen Schüler in den vergangenen Jahren so schlau geworden oder hat dieser deutliche Sprung andere Hintergründe?
Wissenschaftliche Studien gibt es zu diesem Thema nicht. Weil die Abiturphase eine sehr sensible ist, würden es Wissenschaftler vermeiden, in dieser Zeit in den Unterrichtsbetrieb mit wissenschaftlichen Methoden einzugreifen. Es geht also vorwiegend um Beobachtungen, Gefühle, Meinungen und um das „Kleingedruckte“ in den Corona-Abiturjahren.
Am Ende steht auch die Frage, ob und für wen die Verbesserung des Abiturschnitts eine Relevanz besitzt. Eine Reise mit dem Telefonhörer durch Sachsen.
Verschiebungen im Bewertungshorizont
Erste Station Universität Leipzig. Professor Jonas Flöter ist Bildungswissenschaftler und war Lehrer am Domgymnasium in Merseburg in Sachsen-Anhalt. Er kennt die Praxis und die Theorie. Für ihn ist die Verbesserung des Abiturschnitts gar kein großes Thema.
„Wenn wir die Aussteiger und Durchfaller dazunehmen, denke ich, hat sich der Durchschnitt in Sachsen gar nicht so sehr verbessert. Darüber hinaus ist die Verbesserung des Abischnitts ein Phänomen in mehreren Bundesländern, auch in Sachsen-Anhalt, Bayern und Thüringen.“
Er sieht mehrere Anhaltspunkte zur Erklärung dieses Phänomens.
„Dadurch, dass keine Schulbezirke existieren, gibt es eine gewisse Konkurrenz zwischen den Schulen in städtischen und großstädtischen Bereichen wie Leipzig. Es gibt Eltern, die die Schulwahl treffen mit der Frage, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass das Kind mit 1,0 rausgeht. Dazu warten Schulleiter aller Gymnasien auf die Präsentation der Ergebnisse“, so Flöter. Außerdem gebe es auch eine bessere Vorbereitung auf die Abiturprüfung.
„Die erfahrenen Lehrer, die in der Oberstufe die Abiturprüfung genau im Blick haben, wissen, wo sie ankommen müssen. Sie können es genau und detailliert vorbereiten.“ Die klare und offenkundige Struktur der Abituraufgaben mache es Schülern wie Lehrern leichter, sich vorzubereiten. Man weiß ziemlich genau, was kommt und „die Schüler haben vier Halbjahre die Kompetenzen lernen können, auf die es letztlich ankommt.“
Allerdings sieht Flöter auch, dass es in der Bewertung der Schülerleistungen eine Verschiebung gegeben hat. „Früher war, die Quelle zu lesen und zu verstehen, für die Bewertung irrelevant. Jetzt ist das eine Kompetenz und, wer gut lesen und verstehen kann, hat mittlerweile dadurch schon ein paar Punkte. Der Prozess wird stärker bewertet als das Ergebnis und so kann ich Punkte sammeln.“
Der 55-Jährige verweist auch auf die Veränderungen bei der Berechnung des Abiturschnitts. Seit dem Schuljahr 2017/2018 müssen sächsische Abiturienten nicht mehr jede Halbjahresnote in jedem Fach einbringen, was bis dato galt. Das heißt, je nach Fächerwahl, ist eine schlechte Halbjahresnote beispielsweise im Grundkurs Gemeinschaftskunde/Recht/Wirtschaft nicht ausschlaggebend für die Berechnung des Abiturschnitts.
In der Praxis wird gesagt, die Schüler „lernen so mit Auge und können Kräfte sparen“.
Damals ging es auch um die Vergleichbarkeit in Deutschland. Die Schüler in Sachsen waren die einzigen, die jede Halbjahresleistung einbringen mussten. Für Flöter ist klar: „Wer schlau genug ist, sich die Kräfte einzuteilen, hat ein besseres Ergebnis. Frühere 1,4er Kandidaten haben so jetzt vielleicht ein 1,0-Abitur.“
Dem entgegen steht jedoch, dass auch um die Jahrtausendwende die sogenannte Einbringungspflicht gelockert war und die Anzahl der 1,0-Schüler nicht so hoch war wie zurzeit.
Corona hat die Finger im Spiel
Dr. Jürgen Ronthaler und Alexander Biedermann sind irgendwie auch Kollegen von Flöter. Sie arbeiten am Zentrum für Lehrerbildung und Schulforschung (ZLS). Flöter empfiehlt sie als Ansprechpartner. Jürgen Ronthaler, Anglizist und Direktor des ZLS, ist gut gelaunt. Man kennt sich aus Studienzeiten. Die Verbesserung des Abiturschnitts sieht auch Jürgen Ronthaler nicht so kritisch.
„Aus unserer Sicht ist die Tendenz nicht allzu hoch. Wir bewegen uns in einem Bereich, in dem es ein Zufall sein kann.“ Für das Zustandekommen dieser Verschiebung sieht er „ein Zusammenspiel vieler Faktoren, die man nicht genau darstellen kann.“ Corona sei ein ganz wesentlicher Grund, „weil die Beurteilung in bestimmten Bereichen, wo es möglich ist, milder war: Deutsch und Englisch beispielsweise.“
Außerdem hätten sich schlaue Schüler individuell noch weiter informiert und „konnten ihre Stärken besser ausbilden.“
Für ZLS-Geschäftsführer Alexander Biedermann spielt auch Corona eine wesentliche Rolle. „Schüler wurden stärker auf das Abitur vorbereitet als in einem normalen Schuljahr, wo noch nebenher Dinge vermittelt werden mussten. Es wurde gezielter gearbeitet.“
Und das war, wie auch von Flöter schon angesprochen, gut möglich, weil die Anforderungen klar abgesteckt sind und dabei höher als in anderen Bundesländern, was in Zeiten eines bundesweit immer stärker abgestimmten Abiturs den Sachsen zugutekommt. „In Sachsen sind die Prüfungsaufgaben eher leichter als sonst im Unterricht. Für andere Bundesländer ist das Empfinden eher so, dass die Aufgaben adäquat sind.“
Ein verändertes Berechnungsmodell als weitere Erklärung?
Auf die Zusammenhänge mit den Beschlüssen der Kultusministerkonferenz (KMK), die die bundesweite Vereinheitlichung des Abiturs betreffen, hebt auch Dr. Susann Meerheim, Referentin am sächsischen Kultusministerium ab und benennt das erwähnte, veränderte Berechnungsmodell für die Abiturnote als besonders effektvoll.
„Dies führte zu einer durchschnittlichen Verbesserung der Abiturnoten um ein Zehntel. Damit erreichen viele Schülerinnen und Schüler, die bislang einen Durchschnitt von 1,1 erworben hätten, nun auch 1,0. Da man sich auf die Neuberechnung im Rahmen der Kultusministerkonferenz für alle Länder geeinigt hatte, musste auch Sachsen diese Regeln umsetzen, damit unsere Absolventen im bundesweiten Vergleich keine Nachteile haben.“
Und auch Corona sei, wie es bereits seitens der Universität Leipzig zu hören gewesen sei, ein gewichtiger Grund, insbesondere die 2020 ergriffenen Maßnahmen zur Beseitigung der pandemiebedingten Nachteile. So haben sächsische Schüler seitdem in jeder schriftlichen Abiturprüfung 30 Minuten mehr Arbeitszeit, es wurden klar Themen benannt, die nicht Schwerpunkt einer Prüfung sind – wobei diese Sprachregelung in sächsischen Lehrerzimmern umstritten ist, denn „nicht Schwerpunkt“ heißt nicht automatisch, dass es nicht Teil der Prüfung sein kann.
„Gerade leistungsstarke Schülerinnen und Schüler, die kurz vor dem Abitur stehen, verfügen bereits über ein hohes Maß an Studierfähigkeit und sind mit den Bedingungen der häuslichen Lernzeit sehr gut zurechtgekommen. Auch das Engagement unserer Lehrkräfte, die unter den komplizierten Bedingungen der Pandemie alles darangesetzt haben, den Absolventen einen guten und vollumfänglich anerkannten Abschluss zu ermöglichen, hat sich ausgezahlt. Es ist also ein ganzes Gefüge von Bedingungen, die sich bei den Abiturergebnissen ausgewirkt haben.“
Zweifel an mancher Begründung
Hier könnte die Untersuchung zu Ende sein. Corona und das Berechnungsmodell, so einfach ist das also. Aber es gibt noch ein paar offene Fragen. Zuallererst: Was leisten eigentlich die Lehrer am Reclam, dass dort im Jahr 2022 gleich 17 Schüler die Traumabiturnote 1,0 erreichten?
Schulleiterin Dr. Petra Seidel ist eine erfahrene Pädagogin und hat schon viele Abiturjahrgänge gesehen. Ins Detail geht sie nicht bei ihrer Antwort. Auch für sie hat Corona vor allem den starken Schülern in die Hände gespielt, die viel intensiver und sich in ihrem eigenen Tempo Themen erarbeiten konnten. Für sie leitet sich von diesen Erkenntnissen ab, dass der aktuelle Unterricht an sich mehr an den Bedürfnissen des Einzelnen orientiert werden müsste. Das gelang eben zu Coronazeiten besser.
Jedoch gab es im Schuljahr 2021/2022 keinen nennenswerten Lockdown. Und hat der zeitlich begrenzte Lockdown im 11. Schuljahr so einen großen Effekt auf den Abiturschnitt? Man darf zumindest Zweifel daran haben.
Drittkorrekturen gingen teils gegen Null
Darüber hinaus hat die Anzahl der Drittkorrekturen während der Coronazeit vor allem in Deutsch und Englisch sehr deutlich abgenommen.
Dazu muss man folgendes wissen: Jedes schriftliche Abitur wurde vor der Pandemie vom eigenen Lehrer korrigiert und anschließend trafen sich die Oberstufenberater aller Schulen in Taucha, um dort Abiturarbeiten untereinander zu tauschen, sodass jede Abiturarbeit in jedem Fach von einem zweiten Lehrer, der aber nicht zur eigenen Schule gehörte, korrigiert wurde. Der Zweitkorrektor weiß dabei nicht, welche Note der Erstkorrektor vergeben hat.
Am Ende bekam der Oberstufenberater der Schule, zu der der Abiturient gehört, die Zweitkorrektur zurück und verglich die Noten, die vergeben wurden. Lagen Erst- und Zweitkorrektur mehr als 3 Notenpunke auseinander, gab es einen Drittkorrektor, der über die bisher vergebenen Noten informiert wurde und nach der Korrektur der Arbeit eine Note in dem Korridor zwischen den beiden Noten vergeben konnte.
Im Fach Deutsch gingen am Standort Leipzig des Landesamts für Schule und Bildung, also Leipziger Land, Nordsachsen und Leipzig zwischen 2014 und 2019 sowohl im Leistungs- als auch im Grundkurs zwischen 15 und 20 Prozent der Arbeiten, also teilweise jede 5. in die Drittkorrektur. In den drei Corona-Jahren wurde auf die externe Tauscherei verzichtet, Erst- und Zweitkorrektur fanden intern, also an derselben Schule statt.
Natürlich hat das Kultusministerium darauf hingewiesen, dass eine Absprache zwischen beiden Korrektoren nicht erlaubt ist.
Doch zwischen 2020 und 2022 gingen nie mehr als 4 Prozent aller Deutsch-Arbeiten in die Drittkorrektur. Im Fach Geschichte gingen zu Hochzeiten 18 Prozent der Leistungskursklausuren in die Drittkorrektur, 2020 keine einzige, im Grundkurs sogar mal 35 Prozent, 2021 keine einzige …
Unterhält man sich mit Lehrern aus der Praxis, wird zumindest angedeutet, dass man „mal im Kopierraum oder auf dem Gang“ natürlich nur „ganz kurz“ und „oberflächlich“ über die Korrekturen gesprochen hat.
Wird ab 2023 überhaupt noch außer Haus korrigiert?
Dem Kultusministerium gefällt die aktuelle Verfahrensweise. Sachsen ist das einzige Bundesland in Deutschland, in dem es das Tauschverfahren noch gab. In Dresden hat man den Effekt auf dem Schirm.
„Wir beobachteten einen deutlichen Rückgang der notwendigen Drittkorrekturen und auch zum Teil deutliche Unterschiede in den Ergebnissen einzelner Schulen. Inwieweit wir 2023 neben der bereits festgelegten Einschränkung der Prüfungsthemen weitere Maßnahmen beim Prüfungsablauf einleiten, kann heute noch nicht gesagt werden, da hier im Moment noch Abstimmungen im Rahmen der Kultusministerkonferenz laufen. Wir gehen davon aus, dass die endgültigen Entscheidungen bis Ende des Kalenderjahres getroffen sind“, so Meerheim.
Unter der Hand heißt es bei Oberstufenberatern, man sei auf der politischen Ebene über die Effekte der coronabedingten Verfahrensweise nicht unglücklich, weswegen die Rückkehr zur vorherigen Verfahrensweise alles andere als gesichert ist.
Offen bleibt auch, wieso der Abiturschnitt schon 2017, also vor der Reform, mit 0,05 vergleichsweise deutlich gesunken ist und ob sich das nur mit den Effekten des Berechnungsmodells erklären lässt. Schon Ende der 90er, Anfang der 2000er musste nicht jedes Halbjahr eingebracht werden.
Der Abiturschnitt war damals allerdings nicht so niedrig, die Vielzahl an 1,0ern gab es auch nicht.
Und was sagen diejenigen, die täglich mit den Abiturienten arbeiten?
Im Gespräch mit Pädagogen werden vor allem die Corona-Erleichterungen genannt, die geringeren Anforderungen durch die pandemiebedingten Angleichungen der Prüfungszeit, die genannten Schwerpunktsetzungen beziehungsweise Ausklammerungen und ein tendenzielles Entgegenkommen bei der Notenvergabe aufgrund der Erschwerungen für die Schüler während der Coronazeit.
„Vielleicht geben wir Lehrer auch schneller bessere Bewertungen, weil wir keine Diskussionen haben wollen und weil es meistens auch die sehr guten Schüler sind, die diskutieren, warum sie nur 14 Punkte und nicht 15 Punkte haben“, so eine Lehrerin, die ebenfalls eine Mischung aus vielen Faktoren sieht: „Die ehrgeizigen Eltern, die auch mal einen Sprachaufenthalt finanzieren und so weiter.“
„Einser-Schwemme: Werden Sachsens Schüler immer schlauer?“ erschien erstmals am 25. November 2022 in der aktuellen Printausgabe der Leipziger Zeitung (LZ). Unsere Nummer 108 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.
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