Ein gewaltiges Problem an Kohleausstieg und Energiewende ist die Art der Debatte, die darüber geführt wird. Gerade die Verteidiger der alten, klimazerstörenden Industrien zerstören jede Debatte gern mit Bildern, die einen radikalen Technologiebruch voraussetzen und natürlich berechtigte Ängste schüren: Wenn Kohle „jetzt einfach ausgeschaltet“ wird, dann sitzen wir doch im Dunklen!? Ähnlich platt argumentierten einige Politiker auch in Katowice.

Statt gemeinsame Wege eines stetigen Übergangs zu suchen, bei dem man systematisch die alternative Grundversorgung ausbaut und sichert und jene schmutzigen alten Technologien immer dann vom Markt nimmt, wenn sie tatsächlich nicht mehr gebraucht werden, dominieren die Heizer die Diskussion und sprengen jedes Gespräch mit der Behauptung, sie wären mit ihrer Grundversorgung unersetzlich.

Da fühlten sich logischerweise auch eine Menge Wissenschaftler, die seit Jahren auf dem Gebiet forschen, regelrecht veräppelt. Ihre ganze Arbeit wird negiert und der „Meinung“ einiger finanzstarker Konzerne geopfert.

Das wollte sich diesmal eine Gruppe von Wissenschaftlern nicht gefallen lassen, die sich „Energy Watch Group“ nennt.

Ihre Selbstbeschreibung: Die Energy Watch Group (EWG) ist ein unabhängiges, gemeinnütziges, überparteiliches globales Netzwerk von Wissenschaftler/-innen und Parlamentarier/-innen. Die EWG erstellt Forschungen und veröffentlicht unabhängige Studien und Analysen über die globale Energieentwicklung. Ziel der EWG ist es, der Energiepolitik objektive Informationen zu verschaffen.

Genau an diesen objektiven Informationen hapert es, wenn so ein wichtiges Überlebensthema wie die Klimapolitik dem „Markt“ und den „Meinungen“ von Politikern geopfert wird, die sogar noch stolz darauf sind, von den wissenschaftlichen Grundlagen keine Ahnung zu haben. Im 21. Jahrhundert ist das eigentlich beschämend. Aber leider typisch für das, was viele Leute unter Politikmachen verstehen.

Im Rahmen der Klimadiskussionen der COP24, der jährlichen Konferenz der UN-Klimarahmenkonvention (UNFCCC), hat die Energy Watch Group am Dienstag, 11. Dezember, einen neuen Bericht veröffentlicht, der die Machbarkeit einer europäischen Energiewende basierend auf 100 Prozent Erneuerbaren Quellen aufzeigt.

Die Studie legt also genau die Forderung der Leute zugrunde, die wollen, dass nach der Energiewende alle Bewohner der industrialisierten Staaten immer noch genauso viel Energie verbrauchen wie heute. Im Grunde ein echtes Verschwenderszenario – nur dass damit keine Kohle und kein Erdöl mehr verbrannt werden.

Die neue wissenschaftliche Studie zeigt, dass die Wende hin zu 100 Prozent Erneuerbaren Energien tatsächlich mit dem heutigen, konventionellen fossil-nuklearen System wirtschaftlich konkurrenzfähig wäre und die Treibhausgasemissionen noch vor 2050 auf Null reduzieren würde.

Noch deutlicher wird der finanzielle Vorteil einer Energiewende unter Berücksichtigung des prognostizierten Beschäftigungswachstums, sowie indirekter wirtschaftlicher Vorteile, welche beispielsweise für Gesundheit, Sicherheit und die Umwelt geschaffen werden, jedoch in der Studie nicht einbezogen wurden. Denn natürlich brauchen auch alternative Energiekonzepte Fachkräfte – die eingesparten Arbeitsplätze in der alten Energiewirtschaft würden also komplett kompensiert. Das Arbeitsplatz-Argument ist pure Angstmache.

Die von der der finnischen LUT University und der Energy Watch Group durchgeführte wissenschaftliche Modellierungsstudie ist die erste ihrer Art, die eine vollständige Energiewende in Europa in den Bereichen Strom, Wärme, Verkehr und Entsalzung bis 2050 simuliert. Die Veröffentlichung der Studie erfolgte nach etwa viereinhalb Jahren Forschung und Analyse von Datenerfassungen und technischen und finanziellen Modellierungen durch 14 Wissenschaftler.

„Der Bericht bestätigt, dass eine Wende hin zu 100 % Erneuerbaren Energien in allen Sektoren möglich und nicht teurer ist als das heutige Energiesystem“, sagte Hans-Josef Fell, ehemaliger Abgeordneter des Deutschen Bundestages und Präsident der Energy Watch Group, während der COP24-Pressekonferenz. „Es wird gezeigt, dass Europa auf ein emissionsfreies Energiesystem umstellen kann. Deshalb können und sollten die europäischen Politiker viel mehr für den Klimaschutz tun als derzeit anvisiert. “

Einige Schlüsselerkenntnisse der Studie:

– Die Umstellung auf 100 % Erneuerbare Energien erfordert eine Massenelektrifizierung in allen Energiesektoren. Die gesamte Stromerzeugung wird das Vier- bis Fünffache der Stromerzeugung von 2015 ausmachen. Dadurch wird der Stromverbrauch im Jahr 2050 mehr als 85 % des Primärenergiebedarfs betragen. Gleichzeitig wird der Verbrauch fossiler Energierohstoffe und Kernkraft in allen Sektoren vollständig eingestellt.

– Die Stromerzeugung im 100 % Erneuerbare-Energien-System wird aus folgendem Mix an Energiequellen bestehen: Solarenergie (62 %), Windkraft (32 %), Wasserkraft (4 %), Bioenergie (2 %) und Geothermie (<1 %).

– Wind- und Solarenergie machen bis 2050 94 % der gesamten Stromversorgung aus. Etwa 85 % der Erneuerbaren Energien werden aus dezentraler lokaler und regionaler Erzeugung stammen.

– 100 % Erneuerbare Energien sind nicht teurer: Die Energiekosten für ein vollständig nachhaltiges Energiesystem in Europa bleiben stabil und liegen 2050 bei 50-60 €/MWh.

– Die jährlichen Treibhausgasemissionen in Europa sinken durch die Umstellung in allen Sektoren kontinuierlich von rund 4.200 Mio. t CO2-Äq. im Jahr 2015 auf Null bis 2050.

– Ein zu 100 % erneuerbares Stromsystem wird 3 bis 3,5 Millionen Menschen beschäftigen. Die rund 800.000 Arbeitsplätze im europäischen Steinkohlebergbau aus dem Jahr 2015 werden bis 2050 komplett eingestellt. Diese werden durch mehr als 1,5 Millionen neue Arbeitsplätze im Bereich der Erneuerbare-Energien-Branche überkompensiert.

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„Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass die aktuellen Ziele des Pariser Klimaabkommens beschleunigt werden können und sollten“, sagte Dr. Christian Breyer, Professor für Solarwirtschaft an der finnischen Universität LUT. „Eine Wende hin zu 100 % sauberen, Erneuerbaren Energien ist sehr realistisch – schon jetzt, mit den heute verfügbaren Technologien.“

Die Studie schließt mit politischen Empfehlungen zur raschen Einführung Erneuerbarer Energien und emissionsfreier Technologien. Zu den wichtigsten in dem Bericht festgelegten Maßnahmen zählen die Förderung von Sektorenkopplung, privaten Investitionen, Steuervergünstigungen und rechtlichen Privilegien bei gleichzeitiger Einstellung von Subventionen für Kohle und fossile Brennstoffe. Mit der Umsetzung starker politischer Rahmenbedingungen, so der Bericht, ist eine Wende hin zu 100 % Erneuerbaren Energien bereits vor 2050 möglich.

Die Simulation der Energiewende in Europa ist Teil der von der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU) und der Stiftung Mercator mitfinanzierten Studie „Globales Energiesystem mit 100 % Erneuerbaren Energien“, welche Anfang 2019 abgeschlossen sein wird. Modernste Modellierungen, entwickelt von der LUT University, berechnen einen kostenoptimalen Mix von Technologien auf Grundlage lokal verfügbarer Erneuerbarer Energiequellen.

Dabei wird ein kosteneffizienter Übergang hin zu einer erneuerbaren Energieversorgung für die ganze Welt, aufgeteilt in 145 Regionen, mit stündlicher Auflösung für ein gesamtes Referenzjahr ermittelt. Das Szenario der globalen Energiewende wird in fünfjährigen Zeiträumen von 2015 bis 2050 durchgeführt. Die Ergebnisse werden in neun große Weltregionen zusammengefasst: Europa, Eurasien, MENA, Südsahara-Afrika, SAARC, Nordostasien, Südostasien, Nordamerika und Südamerika.

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Möglich vielleicht, nötig ganz sicher. Aber das es schweineteuer wird, ist ebenso sicher. Einerseits weil unsere Politik nichts besseres zu zu hat, als auf mannigfaltigen Wegen Steuermittel zu privatisieren, andererseits wird Energie knapp und damit eben teurer.

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