Am Ende werden wir unser Leben ändern müssen, unser Arbeiten und Rumrennen sowieso. Es ist viel zu gefährlich, erfordert permanent volle Konzentration. Wer nicht aufpasst, wird über den Haufen gerannt oder gefahren. Träumen darf man da draußen nicht. Dabei ist Tagträumen etwas Fruchtbares – wenn man es zulassen darf. Aber wer immerfort rast, der darf nicht träumen. Da haben Leipziger Wissenschaftler was dazu zu sagen.
Dass es den Effekt gibt, ist unbestritten. Es passiert immer wieder: Wir schweifen mit unseren Gedanken von der eigentlichen Situation ab, in der wir uns gerade befinden. Tagträumen wird dadurch häufig als Aussetzer unserer Aufmerksamkeit abgetan.
Aber Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften (MPI CBS) in Leipzig und der Universität York in England haben nun herausgefunden, dass auch das Gegenteil der Fall sein kann: Wenn wir gezielt unseren Gedanken nachhängen, arbeiten bestimmte Hirnstrukturen, die für unsere kognitive Kontrolle zuständig sind, sogar effektiver zusammen. Das könnte auch erklären, warum manche Menschen davon profitieren können, wenn sie ihren Gedanken freien Lauf lassen.
Wenn sie das dürfen.
Aber im Alltag ist das fast überall viel zu gefährlich.
Als Beispiele nennen die Forscher vom Max-Planck-Institut: Wir sitzen im Auto oder auf dem Fahrrad und denken über Dinge nach, die nichts mit dem eigentlichen Geschehen um uns herum zu tun haben: Habe ich die Tür wirklich abgeschlossen? Was werde ich alles am Wochenende machen? Was muss ich dann eigentlich noch alles einkaufen? Passiert uns das im Straßenverkehr oder in anderen Situationen, die eigentlich unsere volle Aufmerksamkeit erfordern, kann es für uns gefährlich werden.
Augenscheinlich passiert es Vielen im Straßenverkehr. Auch Manches, was unter Sekundenschlaf gehandelt wird, fällt bestimmt in diese Kategorie.
Aber was die Forscher hier nennen, ist ja eigentlich eher etwas für Phantasielose. Wirklich phantasiebegabte Menschen wissen, dass man in solchen Situationen völlig in andere Welten abtauchen kann, quasi Parallelerzählungen zum eigentlichen Geschehen erlebt. Der Körper läuft einfach weiter, man ist völlig beschäftigt, sich im Kopf so richtig auszutoben, und dann erschrickt man, 100 oder 500 Meter weiter, und muss sich erst einmal wieder dazu zwingen, die reale Situation wahrzunehmen. Und froh sein, dass die Füße von allein wissen, wo es hingeht.
Nur ist das eben gefährlich.
Weil Fehler passieren, sobald wir die Konzentration auf die Umgebung verlieren, galt Tagträumen lange als Aussetzer in unserem kognitiven Kontrollsystem, das sonst insbesondere unsere Aufmerksamkeit steuert und uns unsere Handlungen planen lässt. Phantasievolle Menschen haben diesen Power-Spruch aus der Kindheit noch im Ohr: „Träumst du schon wieder?!!!!!“
Wer mit offenen Augen träumt, muss mit heftiger Schelte rechnen.
Zumindest die Kognitionsforscher wissen heute, dass man dieses Phänomen differenzierter betrachten muss: Neben dem ungewollten, spontanen Abschweifen der Gedanken existiert eine weitere Form, bei der wir uns sogar bewusst dafür entscheiden, unseren Gedanken nachzuhängen. Ein Vorgang, den wirklich kreative Menschen nur zu gut kennen: Sie nehmen sich komplett heraus aus der permanenten Wahrnehmung der Umgebung und tauchen ganz und gar in das mentale Bild ein, das ihnen vorschwebt, ein Projekt, eine Vision, eine Geschichte, eine Idee. Nur so wird aus einem zaghaften Denkanfang überhaupt etwas Greifbares. Das „Abtauchen“ kann uns als eine Art mentale Probebühne dienen, auf der wir gedanklich zukünftige Ereignisse durchspielen oder aktuelle Probleme lösen.
Was bisher jedoch nur aus Verhaltensstudien bekannt war, konnten Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften (MPI CBS) in Leipzig und der Universität York nun anhand von Hirnstrukturen und -funktionen belegen.
Sie können jetzt zeigen, was da im Gehirn passiert.
„Wir haben herausgefunden, dass bei Menschen, die häufig gewollt mit ihren Gedanken abschweifen, der Cortex in bestimmten präfrontalen Regionen, also im Stirnbereich des Gehirns, dicker ausgebildet ist“, erklärt Johannes Golchert, Doktorand am MPI CBS und Erstautor der zugrunde liegenden Studie. „Außerdem hat sich gezeigt, dass sich bei ihnen zwei entscheidende Hirnnetzwerke stärker überlappen. Zum einen das sogenannte Default-Mode Netzwerk, das besonders aktiv ist, wenn wir unsere Aufmerksamkeit nach innen, auf Informationen aus unserem Gedächtnis richten. Zum anderen das sogenannte fronto-parietale Kontrollnetzwerk, das als Teil unseres kognitiven Kontrollsystems unseren Fokus stabilisiert und etwa irrelevante Reize hemmt.“
Indem beide Netzwerke stärker miteinander verknüpft sind, könne das Kontrollnetzwerk stärker auf unsere losen Gedanken einwirken und ihnen so eine stabilere Richtung geben. Das sei der Beleg dafür, dass unsere geistige Kontrolle im Falle des gezielten Tagträumens keineswegs aussetze.
Sie ändert nur ihre Wahrnehmungssphäre, schaltet „das da draußen“ einfach mal auf Routine und widmet sich mit aller Kraft dem, was sich da im Kopf gerade entfaltet.
Für Außenstehende wirkt man da auf gewisse Weise abwesend.
„Unser Gehirn scheint hier kaum einen Unterschied darin zu machen, ob unsere Aufmerksamkeit nach außen auf unsere Umgebung oder nach innen auf unsere Gedanken gerichtet ist. In beiden Fällen ist das Kontrollnetzwerk eingebunden“, erklärt der studierte Psychologe. „Tagträume sollten also nicht nur als etwas Störendes betrachtet werden. Kann man sie gut kontrollieren, sie also unterdrücken, wenn es wichtig ist, und ihnen freien Lauf lassen, wenn es möglich ist, kann man den größtmöglichen Nutzen aus ihnen ziehen.“
Untersucht haben die Neurowissenschaftler diese Zusammenhänge mithilfe von Fragebögen und anschließender Magnetresonanztomographie. Zunächst sollten sich die Studienteilnehmer selbst einschätzen, wie stark Aussagen wie „Es passiert mir häufig, dass meine Gedanken spontan abdriften“ oder „Ich erlaube mir, meinen Gedanken freien Lauf zu lassen“ auf sie zutreffen würden. Ihre Angaben zum Tagträumen wurden dann in Zusammenhang mit ihren Hirnstrukturen und deren Zusammenwirken gebracht.
Es ist also weder schlimm noch unsozial, wenn man derart dazu neigt, die Außenwelt immer wieder mal wegzudimmen und sich ganz den eigenen Gedanken zu widmen.
Nur ein sicheres Plätzchen sollte man sich dafür suchen. Denn die anderen Leute mögen zwar nicht tagträumen. Aber in ihrer Raserei sind sie meist noch viel unaufmerksamer.
Ganz bestimmt hatte auch Newton ein sicheres Plätzchen im Garten, wo er über die Gründe nachdenken konnte, die Äpfel zur beschleunigten Annäherung an die Erdoberfläche bringen. Ohne Tagträumen keine Newtonschen Bewegungsgesetze. Und wohl auch so vieles Andere nicht.
Negativbeispiel gefällig? Der arme Archimedes, der im belagerten Syrakus in seiner Badewanne ein bisschen tagträumen und über einen wichtigen mathematischen Beweis nachdenken wollte – und dann kam dieser Trottel von römischem Soldat hereingestürmt und beachtete die Worte des Träumers („Noli turbare circulos meos“) gar nicht, sondern brachte ihn einfach um.
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„Wir haben herausgefunden, dass bei Menschen, die häufig gewollt mit ihren Gedanken abschweifen, der Cortex in bestimmten präfrontalen Regionen, also im Stirnbereich des Gehirns, dicker ausgebildet ist“
Dann muss mein Cortex adipöse Dimensionen haben.^^
Im Ernst, ich träume praktisch den ganzen Tag vor mich hin, auch und vor allem beim autofahren. Das klappt ohne Probleme, ich bekomm draussen alles mit und “drinnen” läuft sozusagen der tollste Film ab. Überall, wann immer ich will. Ich kann mich auch nicht erinnern, dass mir das je einer verboten oder drüber gelacht hätte, auch als Kind nicht. Eine Flucht vor der Realität ist es wohl auch nicht, ich kann nur träumen, wenns mir gut geht. In depressiven Phasen klappt das nicht so gut, das fehlt mir dann aber auch richtig. Ich liebe und geniesse meine Tagträume, ohne schöne Gedanken kann man schliesslich nicht fliegen, das wusste doch schon Peter Pan.^^