Eigentlich hat er nur einmal gründlich nachgedacht. Was man von einem Wissenschaftler eigentlich erwartet. Aber viel zu Viele latschen althergebrachten Formeln und Meinungen hinterher, wollen es sich auch mit der Politik nicht verscherzen. Und so ist die deutsche Förderung für Städte noch immer fokussiert auf „soziale Brennpunkte“. Es gibt aber keine, sagt der Leipziger Sozialwissenschaftler Prof. Andreas Thiesen.

Andreas Thiesen ist Professor für Sozialarbeitswissenschaft mit dem Schwerpunkt Sozialer Raum an der HTWK Leipzig. Die Forschungsschwerpunkte des 36-Jährigen sind unter anderem Stadt- und Diversitätsforschung. Seine Forschungsstreifzüge brachten ihn unter anderem nach Buenos Aires. An der HTWK Leipzig widmet er sich am liebsten ethnographischen Lehr- und Forschungsprojekten in unterschiedlichen Leipziger Stadtteilen.

Und was hier – auch in der medialen Diskussion – als „sozialer Brennpunkt“ erscheint, ist tatsächlich nichts anderes als ein Ort, wo die gesamten sozialen Probleme der Stadt sichtbar werden. Aber lösen kann man sie mit der üblichen Stadtteilpolitik nicht, stellt Thiesen fest.

Ob Berlin-Hellersdorf, Duisburg-Marxloh oder Hamburg-Billstedt – fast keine deutsche Stadt, in welcher nicht mindestens ein Viertel als „sozialer Brennpunkt“ bezeichnet wird. Und wo nicht besondere Förderprogramme angelaufen sind, mit denen Stadtplaner glauben, das Viertel stabilisieren und aufwerten zu können.

Auf vielfältige Art und Weise haben Stadtplaner und Sozialarbeiter in den vergangenen Jahren versucht, die Lebensbedingungen in solchen Stadtteilen zu verbessern – und das keineswegs immer erfolgreich. Prof. Andreas Thiesen von der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig (HTWK Leipzig) wundert das kaum.

In seinem neuen Buch „Die transformative Stadt“ argumentiert er, dass konventionelle Stadtentwicklungskonzepte die Lebensrealitäten in immer vielfältiger werdenden Stadtgesellschaften ignorieren: „Das Lokale muss neu gedacht werden. Denn durch digitale Welten, soziale Beschleunigung und globale Migration spielt die unmittelbare Nachbarschaft für den Einzelnen tendenziell immer weniger eine Rolle.“

Die „sozialen Brennpunkte“ deutscher Städte zeichnen sich durch niedrige Einkommen, hohe Arbeitslosigkeit und einen Mangel an gesellschaftlichen Perspektiven aus. Doch die Etikettierung als Problemviertel weicht mitunter stark von der Selbstwahrnehmung der Bewohner ab, die sich – so die Erfahrung vieler Sozialarbeiter – oft auch nicht an Aktionen des lokalen Quartiersmanagements beteiligen.

„In der sozialen Stadtentwicklung wird seit jeher auf Konzepte zurückgegriffen, die den lokalen Raum überhöhen. Dabei findet häufig eine symbolische Aufwertung durch neue Begriffe statt – aus einem ‚Problemviertel‘ wird so ein ‚liebenswertes Quartier‘. Aber das Leben der Menschen vor Ort wird durch eine derartige Umetikettierung nicht verbessert“, stellt Andreas Thiesen fest. Denn viele der sozialen Probleme, die die vermeintlichen „sozialen Brennpunkte“ ausmachen, seien überhaupt nicht durch althergebrachte Konzepte der Stadtteilarbeit zu lösen. Vielmehr handele es sich um gesamtgesellschaftliche Probleme – zum Beispiel die wachsende Fragmentierung der Gesellschaft – die räumlich gesehen vermehrt dort sichtbar werde, wo die Lebenshaltungskosten niedrig sind.

Menschen gehen – oft durch finanziellen Druck – dahin, wo sie mit ihrem niedrigeren Einkommen trotzdem noch irgendwie über die Runden kommen. Die Stadt entmischt sich.

„Es ist ein Trugschluss, dass sich Menschen automatisch mit ihrem sozial benachteiligten Stadtviertel identifizieren – von Einwohnern in gehobenen Wohngegenden erwartet das ja auch niemand“, stellt Andreas Thiesen fest. „Denn ‚Heimat‘ ist durch das Internet und die gestiegene Mobilität zwischen Stadtteilen, Städten, Regionen und Staaten heute nur noch selten an einen einzigen Ort gebunden.“

Vor diesem Hintergrund fordert Thiesen von einer zeitgemäßen Stadtentwicklung, sich von administrativen Quartiersgrenzen zu lösen und stärker diejenigen mit einzubeziehen, die vor Ort leben – ohne sich vorschnell ein Bild von ihnen zu machen.

Denn nicht immer sind die von außen angetragenen „Lösungen“ wirklich Lösungen für die Menschen im Quartier. Manchmal werden dann einfach – wie im Leipziger Westen – Finanzprobleme der Stadt gelöst, die z.B. ihr „unbezahlbares Naturkundemuseum“ in ein Fördergebiet auslagert, weil es dann Fördermittel gibt. Aber die Gelder stehen dann für Projekte, die von den Einwohnern des Quartiers selbst getragen und gewollt sind, nicht mehr zur Verfügung. Und gerade im Leipziger Westen wird die Kritik an dieser obrigkeitlichen Sicht auf Quartiersfürsorge immer stärker, während subsidäre Ansätze zur gemeinsamen Entwicklung des Stadtviertels so gut wie keine Chance haben, Fuß zu fassen.

Ergebnis ist – im Leipziger Westen unübersehbar – der übliche bekannte Verdrängungswettbewerb. Am Ende profitieren die besserverdienenden Zuziehenden von den Strukturen, während die eigentlich von prekären Lebenslagen Betroffenen wieder weichen müssen, weil wieder „der Markt“ bestimmt, was passiert.

In Leipzig wird das gerade sehr offenkundig. Aufwertungspolitik als Startmaterie für die beginnende Verdrängung – da ist dann irgendetwas gründlich schiefgelaufen.

Andreas Thiesen „Die transformative Stadt – Reflexive Stadtentwicklung jenseits von Raum und Identität“, transcript Verlag (Reihe „Urban Studies“). Bielefeld 2016, ISBN: 978-3-8376-3474-7

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