Wenn Wirtschaftstheoretiker zu Soziologen werden, dann kommt ungefähr das dabei heraus, was Steffen Müller vom Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) jetzt in Zusammenarbeit mit der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg herausbekommen hat. Die Studie war den möglichen Ursachen von Jugendarbeitslosigkeit gewidmet. Und dann so etwas: Es menschelt.
Oder sollte man besser sagen: Es wird sichtbar, wie tief wirtschaftliche Nöte in die Entwicklung von Jugendlichen hineinfunken? Und wenn der Vater arbeitslos ist, dann ist das eine wirtschaftliche Not. Dann fängt das große Knausern an. Und – wenn er dann auch noch seine Frustration vom Jobcenter mitbringt – die Missstimmung in der Familie. Und wenn der Vater als großes erfolgreiches Vorbild im Berufsleben ausfällt, dann hat das Folgen.
Sehr unterschiedliche, wie Müller jetzt feststellen kann, auch wenn erst mal im Allgemeinen gilt: Die Arbeitslosigkeit der Väter schlägt direkt auf die Motivation der Kinder durch. Kinder arbeitsloser Väter sind selbst im späteren Leben öfter arbeitslos. Aber nicht unbedingt alle.
Die neue Studie des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) zeigt: War der Vater arbeitslos, ist zwar auch bei der Tochter die Wahrscheinlichkeit künftiger Arbeitslosigkeit höher. Gleichzeitig existiert aber gerade bei den Töchtern auch eine Gegenbewegung: Ihre Investitionen in Bildung steigen.
Nicht unbedingt, weil sie es ihrem demoralisierten Vater zeigen wollen, sondern weil Mädchen immer schon weiter denken. Nämlich an die Frage: Und wer ernährt künftig meine Kinder?
Was übrigens nicht nur für Jugendliche in Deutschland gilt. Das setzt überall in der Welt Bewegungen in Gang, mit denen die Wirtschaftstheoretiker immer nicht rechnen, weil sie das ganz normale Leben nie auf der Speisekarte haben.
Jugendarbeitslosigkeit ist in vielen europäischen Staaten derzeit ein akutes Problem. Nicht nur Armut, sondern auch Abwanderung von qualifizierten Arbeitskräften und Perspektivlosigkeit der Jugendlichen bedrohen inländische gesellschaftliche Strukturen, stellt das IWH dazu erst einmal ganz allgemein fest. Denn noch hat man ja kein Instrumentarium, um die realen menschlichen Lebenswege in die hochtheoretischen Wirtschaftsrechnungen einzubauen.
Dabei ist man hier am Ursprung aller demografischen Entwicklungen. Denn die beginnen im Kopf.
Speziell gingen die Forscher in der Studie der Frage nach, welchen Einfluss die Arbeitslosigkeit von Vätern auf deren Kinder hat – und ob die Effekte auf Söhne und Töchter unterschiedlich ausfallen.
Waren Väter arbeitslos, ist es bis zu 70 Prozent wahrscheinlicher, dass auch deren Kinder im Erwachsenenalter arbeitslos werden. Hierbei macht es zunächst auch keinen Unterschied, ob der Nachwuchs weiblich oder männlich ist. Der Zusammenhang von Arbeitslosigkeit des Vaters und Arbeitslosigkeit seiner Kinder ist vor allem dann besonders groß, wenn sich die Kinder im Zeitraum der väterlichen Arbeitslosigkeit in einem kritischen Alter befinden, nämlich zwischen 10 und 15 Jahre alt sind, stellt das IWH fest.
Den Effekt kennen alle Sozialbürgermeister: Arbeitslosigkeit „vererbt“ sich, weil sie im entscheidenden Alter die Kinder aus solchen Familien demotiviert. Was eigentlich ein Schlüsselgedanke dafür sein könnte, wie man die Betreuung von Arbeitslosen anders organisieren könnte. Aber bevor die entscheidenden „Arbeitsmarktreformer“ begreifen, welche Rolle Motivation und Psyche an der Stelle spielen und warum so viele Arbeitslose depressiv werden, werden wohl noch einige Generationen hinsterben in Unwissenheit.
Aber Stefan Müller fiel da was auf.
Denn während sich dieser Zusammenhang bei Söhnen ausschließlich indirekt durch den Familienhintergrund erklären lässt – es also nicht die Arbeitslosigkeit des Vaters an sich ist, die Arbeitslosigkeit bei den Söhnen auslöst, sondern vielmehr das gesamte in der Familie geteilte Umfeld, ist auf Töchter auch ein direkter Effekt zu beobachten.
Ist der Vater nämlich im kritischen Alter der Tochter arbeitslos, erhöht diese Arbeitslosigkeit die Bildungsanstrengungen der Mädchen. Bildungsinvestitionen, schreibt das IWH an dieser Stelle und zeigt damit wieder, wie sehr man selbst das menschliche Leben als Wirtschaftsprozess sieht.
Natürlich stecken die Mädchen nicht mehr Geld in ihre Bildung. Das Geld ist ja nicht da.
Sie investieren Dinge, die die Wirtschaftstheoretiker sonst nicht so gern als Investitionen betrachten: Fleiß, Geduld, Hartnäckigkeit und – Zeit.
Denn sie haben ein Ziel. Ein negatives: Sie wollen da raus.
Der überraschende positive Effekt ist sogar erheblich, stellen die Forscher fest: Die Wahrscheinlichkeit, dass die Tochter ein Hochschulstudium beginnt, wird um etwa 15 Prozentpunkte erhöht. Die Zeit, die sie in ihre Bildung investiert, erhöht sich durch väterliche Arbeitslosigkeit im Durchschnitt um sechs Monate, und auch die Wahrscheinlichkeit, das Abitur zu machen, steigt um mehr als 17 Prozentpunkte.
Was die Wirtschaftsforscher natürlich verblüffte: Weshalb investieren Mädchen mehr in Bildung, wenn der Vater arbeitslos wird, aber Jungen nicht?
Die Autoren untersuchten hierbei drei ökonomische Erklärungsmuster.
Eine erste Interpretation betrifft die nachgewiesen höhere Tendenz von Mädchen, Risiken zu vermeiden. Wird Arbeitslosigkeit in der Familie als Risiko für Wohlstand und Wohlergehen betrachtet und Bildung entsprechend als Versicherung gegen dieses Risiko, ist es nur plausibel, dass gerade die tendenziell risikovermeidenden Töchter intensiv versuchen, dagegenzuarbeiten. Bei genauerer Untersuchung zeigt sich jedoch, dass die höhere weibliche Risikoversion den beschriebenen Effekt nicht erklärt.
Ebenso wenig erklären Rollenverständnisse die Ergebnisse. Obgleich anzunehmen wäre, dass durch die Arbeitslosigkeit des Vaters die Erwerbstätigkeit der Mutter stärker hervortritt und deren Vorbildfunktion auf die Tochter wirkt, zeigen sich auch bei Prüfung dieser Hypothese keine signifikanten Ergebnisse.
Bleibt also nur noch eine dritte Interpretation, die nahelegt, dass der Heiratsmarkt das Verhalten der Töchter erklären kann: Gerade in Familien mit niedrigem Bildungsniveau zeigt sich die Tendenz der Töchter, bei väterlicher Arbeitslosigkeit verstärkt in ihre eigene Bildung zu investieren. Gerade in dieser Gruppe könnte man daher erwarten, dass die Töchter versuchen, mit Bildung ihre Chancen auf dem Heiratsmarkt zu verbessern – weil sie davon ausgehen, dass ihnen Bildung dabei hilft, einen Partner mit einem sicheren Arbeitsplatz zu finden.
Also ein grundlegend wirtschaftlicher Aspekt: Mit besserer Bildung erhöhen die Mädchen ihre Chancen, später einen Mann zu finden, der tatsächlich ihre Familie ernähren kann.
Klammer auf: Und siehe da, es sind die uralten Rollenmuster, die selbst bei der Partnerwahl wirken. Was auch plausibel ist. Selbst wenn das Märchen alle Kanäle füllt, dass Liebe oder ähnlicher Hokuspokus über die Partnerwahl entscheidet. Davon träumen alle. Aber grundlegend zählt die wirtschaftliche Entscheidung der Frauen.
Die vorliegende Untersuchung basiert auf Daten des Soziooekonomischen Panels (SOEP). Mithilfe der Gottschalk-Methode und Vergleichen innerhalb von Geschwisterpaaren wurden Söhne und Töchter untersucht, die in ihrem Leben mindestens einmal mit Arbeitslosigkeit des Vaters konfrontiert waren und zu diesem Zeitpunkt zwischen 10 und 15 Jahre alt waren. Die Gottschalk-Methode vergleicht Personen, die im „gefährdeten“ Alter von 10 bis 15 Jahren betroffen waren, mit Personen, deren Vater erst arbeitslos wurde, als sie bereits 25 bis 30 Jahre alt waren. Beim Geschwisterpaarvergleich wurden hingegen betroffene Geschwister innerhalb derselben Familie mit ihren älteren Geschwistern verglichen. Für die älteren Geschwister ist ein Effekt väterlicher Arbeitslosigkeit aufgrund ihres Alters unwahrscheinlich. Beide Methoden stellen unter gewissen Annahmen sicher, dass der Familienhintergrund die Ergebnisse nicht mehr beeinflusst und damit die väterliche Arbeitslosigkeit als alleinige Ursache festgemacht werden kann.
Bleibt nur die Frage: Warum entwickeln Jungen dann keinen solchen Ehrgeiz? Sind sie zu stark auf den Vater fixiert? Und: Ist er ihnen gerade in einer entscheidenden Phase ein schlechtes Vorbild?
Aber nur so am Rande vermerkt: Der oben beschriebene Effekt sorgt eben auch dafür, dass mehr junge Frauen die ländlichen Regionen mit ihrer perspektivischen Chancenlosigkeit verlassen und den Trend in die Großstädte verstärken.
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