Zur Leipziger Buchmesse in diesem Jahr bekommt der belarussische Autor Alhierd Bacharevič den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2025 verliehen. Als schwergewichtiges Argument dafür gilt sein 2024 bei Voland & Quist erschienener Roman „Europas Hunde“, der in Belarus inzwischen auf dem Index steht. Übersetzt hat diesen Roman Thomas Weiler, der auch einen anderen Roman von Bacharevič übersetzt hat, der schon 2010 im Leipziger Literaturverlag erschien. Das war noch lange vor den Protesten gegen den Diktator Aljaksandr Lukaschenka. Damals gab sich dessen Regime noch relativ zahm.

Aber wie das so ist mit autoritären Regimen: Wenn sie anfangen zu zerbröseln, werden sie gnaden- und rücksichtslos und gehen mit immer härteren Methoden gegen die Opposition vor. Was vorher noch wie ein Spiel wirkte, wird bitterer Ernst. Und wer sich nach den 2020 niedergeschlagenen Protesten nicht im Gefängnis wiederfand, der verließ oft genug das Land. So auch Alhierd Bacharevič mit seiner Frau Julija Zimafejewa, die sich beide in den Protesten von 2020 engagiert hatten. Heute leben beide im Exil in der Schweiz.

Aber war Belarus nicht auch schon 2010 eine Diktatur, ein autokratisches System, in dem der Polizeiapparat vorgab, wie Menschen sich zu benehmen hatten? Oder 2008/2009, als Bacharevič den Roman „Die Elster auf dem Galgen“ schrieb und in Minsk veröffentlichen konnte? Denn „Die Elster auf dem Galgen“ erzählt nun einmal von einem autokratischen System, seiner Propaganda und der Behörde, in der die Heldin dieser Geschichte arbeitet – Vieranika, die schon auf den ersten Seiten malerisch hingebreitet – und tot – in ihrem Büro liegt.

Und natürlich wartet man dann gespannt auf die Lösung des Falles, auch wenn es kein Krimi ist und außer dem Erzähler selbst der Tod der jungen Frau eigentlich völlig egal ist. Auch das ist Autokratie: Das Erlöschen von Mitgefühl für seine Mitmenschen.

Ein ganz banales Land

Eigentlich müsste man das den Bewohnern des östlichen Teils von Deutschland nicht extra erzählen. Die Älteren haben es doch erlebt und sind dagegen 1989 auf die Straße gegangen. Sie haben spüren dürfen, wie sich ein von einem Staatsapparat durchherrschtes Land anfühlt.

Und wie klein und wehrlos man sich fühlt, wenn man es mit Behörden zu tun bekommt, die so gesichtslos waren, das sich bis heute kein ostdeutscher Autor wirklich dazu angeregt fühlte, einem dieser kleinen Funktionswalter in diesem System eine Geschichte zu verpassen, gar eine mit Wärme, Liebe, Sehnsucht.

Denn Vieranika ist eine lebenslustige junge Frau, deren Hormone ihr diverse Streiche spielen. Denn sie hat sich auch noch unrettbar in den Vizechef ihrer Behörde verliebt, den sie nur Er nennt.

Und dem sie möglicherweise auch noch in einem seltsamen Videospiel begegnet, das sie stundenlang im Büro spielt. Da kennt Alhierd Bacharevič nichts: Er wechselt fortwährend die Ebene, schaltet Kindheits- und Jugenderlebnisse der jungen Frau dazwischen, die ihr Leben in einem Land zeigen, das auf den ersten Blick ganz gewöhnlich, ganz banal und ganz langweilig wirkt.

Die Träume von etwas ganz Großem, was ihrem Leben den richtigen Drall geben könnte, geraten immer wieder mit einer Wirklichkeit in Konflikt, in der alles viel trister und schäbiger ist, als geträumt. Und auch die männlichen Gestalten, mit denen sie irgendwie so etwas wie Sex und Liebe erlebt, irritieren die junge Frau eher. Auch wenn da zumindest zu dem einen, dem sie dann übers Handy Botschaften in die Ferne schickt, so etwas wie ein Draht entstanden ist.

Aber der befindet sich im Ausland, im fernen Hamburg, so wie auch Alhierd Bacharevič damals, bevor er wieder zurück nach Belarus ging, weil in diesem Land zwischen Polen und Russland kurzzeitig etwas ganz Ähnliches möglich schien wie in der Ukraine. Noch ist auch für Menschen wie Alhierd Bacharevič Platz, kann er als Lehrer arbeiten und seine Bücher veröffentlichen. Auch wenn das Regime schon mehrere Lager eingerichtet hat, in die jene Menschen eingesperrt werden, die als Oppositionelle gegen das Regime auffielen. Im Sprachgebrauch der Mächtigen: Faschisten.

Ein Wort, das einem nur zu vertraut ist aus der jüngeren russischen Propaganda, mit dem die Moskauer Führung die Regierenden in Kiew verunglimpft. Es ist ja so billig: Man muss nur einfach den Gegner mit dem schlimmstmöglichen Wort belegen, schon ist der Feind markiert. Auch wenn nichts an diesem Bild stimmt.

Die stillen Teile der Maschine

Aber wenn man Regimegegner gleich mal komplett zu Faschisten erklärt, dann darf man auch alles mit ihnen machen. Dann gilt kein menschliches Maß mehr. Und in gewisser Weise kulminiert Bacharevičs Geschichte, als die Behörde beschließt, die Lager aufzulösen und die dort seit Jahren Inhaftierten zu beseitigen, ganz bürokratisch, ganz emotionslos.

Nur diese eigensinnige Vieranika scheint das nicht zu interessieren. Sie scheint irgendwie falsch zu sein in dieser Behörde, in der man seine Skrupel besser nicht zeigt, die Bittsteller kalt und emotionslos abfertigt und sich durchaus als Rädchen in der Behördenmaschine versteht.

Gerade weil er auf Vieranikas Geschichte immer wieder auch aus der Perspektive des ins Ausland Gegangenen schaut, verhandelt Bacharevič auch sein eigenes Schicksal und das all derer, die in Belarus ihre Träume vom Leben nicht verwirklichen konnten und zum Beispiel nach Deutschland gegangen sind. Die Fahrt zurück in die alte Heimat aber zeigt, wie schnell man dort vergessen wird. „Unsere Abwesenheit berührt unsere Heimat weder warm noch kalt, wir könnten hundertmal für ein Jahr ins Exil gehen und zurückkommen, ohne dass es jemand merken würde.“

Deutlich genug äußert der Erzähler Vieranika gegenüber, dass er nicht versteht, warum sie ausgerechnet bei der Behörde angeheuert hat. Aber selbst das gehört zu den so selten wahrgenommenen Erscheinungen einer Autokratie: Sie lebt vom „geringsten Widerstand“. Wer sich einfügt und macht, was ihm gesagt wird, wird ganz stillschweigend Teil der Maschine. Nur wer dagegen opponiert oder ganz andere Vorstellungen von einem anderen Leben hat, der droht in Bedrängnisse zu kommen oder gar im Lager zu landen.

Ein Land weiß auf weiß

Und wie alt sind eigentlich Autokratien? Wie weit reicht eigentlich die Geschichte von Belarus? Ist dieses Land tatsächlich erst mit der Unabhängigkeit vor ein paar Jahrzehnten entstanden? Oder hat es eine jahrhundertealte Geschichte, die auch dem Erzähler in den Knochen steckt?

„Auf wessen Seite bin ich? Weder noch, weil ich weiß, dass dieses Land mit mir geboren wurde und auch mit mir vergehen wird. Weil es ein Teil meines Körpers ist, dieses Land, ein Territorium, das Strafe verdient hat, ein Staat, der erstarrt ist in einer Racheerwartung. So nicht-existent ist das Land dann auch wieder nicht, dass es ungestraft davonkommen könnte. Es steht in jedem Lexikon. Weiß auf weiß, weiß auf weiß, weiß auf weiß.“

Man sieht: Hier spielt er schon mit Motiven aus „Europas Hunde“. Und lässt seinen Erzähler beim Versuch, wieder Fuß zu fassen in diesem Land, eigentlich scheitern. „Wäre ich in meinem Heimatland geblieben, ich hätte mir längst das Leben genommen.“

Vieranika steht also auch für diese Zerrissenheit. Denn so intensiv, wie Bacharevič vom Leben und Fühlen seiner Heldin erzählt, wünscht man ihr tatsächlich mehr vom Leben als dieses Unterwegssein in einem verwalteten Territorium, in dem ihre Träume eigentlich nicht zählen. Während der Erzähler hin- und hergerissen ist und sich in der Fremde mit Leuten konfrontiert findet, die nicht mal wissen, wo Belarus liegt.

„Vielleicht gibt es dieses Land ja tatsächlich nicht, dessen Existenz ich immer wieder so sensibel verteidigen darf, manchmal gegen meinen Willen, vielleicht existiert kein ‚Ich-weiß-nicht‘ -Russland und ich vergeude meine Zeit.“

Der abwesende Herzog Alba

Vielleicht existiert dieses Land nicht einmal für Vieranika, die sich in ihrem Videospiel verliert und nicht einmal verwundert feststellt, dass auch ihr Arzt in „unserer Datenbank“ steht, weil er an „einer faschistischen Demonstration“ teilgenommen hat. Man spürt die ganze Zeit, warum der Erzähler dieses Land und seine obskuren Verhältnisse nicht mehr ausgehalten hat.

Obwohl der Autor selbst ja noch einmal zurückging nach Belarus in der Hoffnung, es könnte sich ja doch noch was ändern. Aber in diesem Roman ist der Erzähler am Ende froh, dass er wenigstens sich selbst noch einmal außer Landes geschmuggelt hat und die Zöllner ihn nicht arretiert haben.

Dass Vieranikas Tod wohl völlig unsinnig war, weiß man da schon. Opfer einer Gruppierung, die sich die Rächer nennt. Und für die jede Vertreterin der Behörde für den ganzen Machtapparat steht, der so anonym und emotionslos vor sich hin arbeitet, Befehle ausführt, egal, was damit den Menschen angetan wird.

„Die Elster auf dem Galgen“ könnte damit auch stellvertretend für die Zustände im durchherrschten Belarus sein. Auch wenn es eigentlich „nur“ ein Bild von Pieter Brueghel aus dem Jahr 1568 ist, damals möglicherweise ein Sinnbild auf die Herrschaft des brutalen Herzogs Alba. Vielleicht. Denn die Interpretationen dieses Bildes und der Elster sind offen. Auch im Buch. Aber vielleicht muss man es auch nicht so konkret aussprechen.

Die Albas sind oft genug gar nicht einmal präsent, wenn ihre Maschine vor sich hin arbeitet und Mädchen wie Vieranika dabei so unwichtig sind, dass selbst ihr unverhoffter Tod nur noch eine Angelegenheit der stillen Beobachtung ist, wie ihre Lebensfunktionen nach und nach erlöschen. Und damit alle Erwartungen an ein ganzes Leben mit einmal im Nichts verlaufen.

Und der Erzähler am Ende froh ist, wieder den lärmenden Bahnhof von Hamburg vor Augen zu haben. Der „graue, unscheinbare Körper“ – noch einmal gerettet. Mehr nicht.

Alhierd Bacharevič „Die Elster auf dem Galgen“, Leipziger Literaturverlag, Leipzig 2010/2021, 14,95 Euro.

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