„Eine Biografie“ nennt Historikerin Martina Winkler ihr Buch zu Peter I. (1672–1725), der sich selbst einst den Titel Peter der Große zulegte und dessen Regierungszeit heute als der Beginn des autoritären Russland gilt, das rücksichtslos seine Macht gegen alle schwächeren Nachbarn austobt. Was nicht zufällig auch mit der heutigen russischen Propaganda zu tun hat, die die Gestalt Peter I. regelrecht glorifiziert. Und Berge von tatsächlichen Biografien tun ein Übriges dazu. Gern mit Auslassungen und Übertreibungen. Aber wie war es wirklich?

Darüber streitet die Historikergemeinde seit einigen Jahren sehr intensiv. Auch weil sich die Ansätze, wie man historische Persönlichkeiten einordnet und in ihrem Zeitgeschehen greifbar macht, verändert haben. Man kann es so formulieren: Die alten Heldengeschichten sind out. Zumindest in der modernen Geschichtswissenschaft. In Romanen und populären Biografien werden sie wohl noch lange erhalten bleiben. Und wohl auch in der politischen Propaganda, wo sich immer neue Akteure ihre Geschichte samt Helden und Deutungen so zurechtbasteln, wie es ihnen gerade in den Kram passt.

Was die Kieler Historikerin Martina Winkler hier akribisch unternimmt, ist im Grunde eine Generalkritik an den üblichen Peter-Biografien und ihren Überzeichnungen des Zaren, der wie kein anderer Zar auch die Aufmerksamkeit der Westeuropäer auf sich gezogen hat. Nicht nur durch seine Große Gesandtschaft, mit der er – mehr oder weniger inkognito – Westeuropa bereiste, sondern auch durch seine vielen Reformen und Unternehmungen, mit denen er in Russland versuchte, westliche Standards und Moden einzuführen.

Er hat sein Land verändert. Auch mit Gewalt. Er war am Ende der große Gewinner des Großen Nordischen Krieges – in den ja bekanntlich auch der sächsische Kurfürst und polnische König August der Starke verwickelt war. Was nicht nur beiläufig bemerkt werden darf, denn als König von Polen-Litauen war er nun einmal Regent eines Landes, das direkt an das Zarenreich angrenzte und im Baltikum und in der Ukraine auch überschneidende Herrschaftsinteressen mit Moskau hatte.

Die Zwänge der Verhältnisse

Weshalb wissbegierige Zeitgenossen ganz sicher auch die ausführlichen Kapitel zu Poltava und zu Ivan Mazepa interessieren dürften, die schildern, wie die Schlacht beim heute ukrainischen Poltawa nicht nur zu einem der Gründungsmythen des modernen Russland wurde, sondern auch das Ende des ukrainischen Hetmanats und damit der bis dahin weitgehend unabhängigen Ukraine bedeutete.

Es ist eins jener Ereignisse, die Vergleiche mit der Gegenwart nahe legen, die aber schief und krumm sind, wie Martina Winkler immer wieder betont. Denn dazu waren die politischen und Machtverhältnisse um 1700 völlig andere als heute, befand sich nicht nur Russland erst auf dem Weg zu einer eigenen nationalen Identität. Andererseits waren viele Prozesse, die unter Peter I. kulminierten, auch schon unter seinen Vorgängern in Gang.

Die Legende, dass mit Peter die Orientierung Russlands nach Westen begann, negiert schlichtweg, dass es diese Öffnung auch vorher schon gab. Nur wurde das alles unter Peter I. massiv forciert. Was natürlich eine Diskussion notwendig macht, die Winkler im Kapitel „Der Mythos vom Ausnahmeherrscher“ auch unternimmt.

Wobei sie im Grunde vor allem den Mythos der „Alleinherrschaft“ hinterfragt, wie ihn manche Biografen immer wieder falsch verstehen, wenn sie ihren Zaren zum alleinigen Helden der Geschichte machen. Eine Überhöhung, die auch rund um den heutigen Autokraten Wladimir Putin passiert. Aber ein Autokrat ist nichts ohne seine Unterstützer, Verbündete, Anhängige und Netzwerke. Ohne diese hat er keine Macht, kann er nichts umsetzen, egal, wie viele Ukase er schreibt.

Auch unter Peter wurde der Einfluss der alten Bojarenfamilien nicht völlig beendet, auch wenn er eine neue Rangliste einführte und die Verwaltung des Landes mit neuen Verwaltungseinheiten neu organisierte, eine zunehmend an westlichen Mustern orientierten Bürokratie und Berge neuer Gesetze einführte.

Die Fassade der Autokratie

Man sieht praktisch einen Zaren, der innerhalb althergebrachter Gepflogenheiten und Abhängigkeiten operiert, sich neue Netzwerke schafft, Entwicklungen aufgreift, die auch schon seine Vorgänger verfolgt haben, aber eben auch Neues aus dem Bodenstampfen lässt, das Russland tatsächlich veränderte und für die nächsten 300 Jahre zu einer ernst zu nehmenden Großmacht in Europa machte.

Und auch wenn Martina Winkler alle herkömmlichen Interpretationen dieses durchaus auch die Propaganda beherrschenden Zaren kritisch infrage stellt, kommt sie dennoch nicht umhin, diesem Herrscher, der sich selbst zum Kaiser ernannte, zuzugestehen, dass er Russland und auch die Rolle des Zaren nachhaltig veränderte.

Was er konkret veränderte, beschreibt Marina Winker zum Beispiel so: „Rituale und Verteilungsmechanismen halfen – wenn auch nicht immer –, die Fassade der Autokratie aufrechtzuerhalten. Peter aber hatte neue Herrschaftsmechanismen eingeführt und musste und wollte seine Herrschaft nun ohne diese bewährten Prozeduren sichern. Damit war er gezwungen, nach neuen Verfahren zu suchen.“

Und die waren – wie die grausamen Säuberungen im Jahr 1718 – gerade für westliche Beobachter erschreckend. Und nicht nur 1718, als sich die Staatskrise um seinen Sohn Aleksej zuspitzte. So hatte Peter schon 1698 reagiert, als ihn Nachrichten von einem neuen Strelizenaufstand während seiner großen Europareise einholten. So reagierte er nach Mazepas Überlaufen zu den Schweden. So reagierte er aber auch in der Endphase des Nordischen Krieges, als er schwedische Städte bombardieren und plündern ließ, um seine Verhandlungsposition bei den Friedensverhandlungen zu stärken.

Das alles erinnert tatsächlich an Autokraten von heute. Aber etliches davon war auch für Russland neu – etwa die theatralisch aufgeführten Hinrichtungen, bei denen Peter I. selbst zugegen war und die wohl eher auf Vorbilder aus dem damaligen Westeuropa zurückgehen, wo sich Macht und Gesetz noch derart inszenierten. Auch wenn mit der Aufklärung im Westen längst die Diskussion darüber entbrannt war, ob das überhaupt noch zeitgemäß und human war.

Parallele Entwicklungen

Martina Winkler zeigt recht detailreich, wie in Peters Zeit die Kommunikation zwischen Moskau und dem Westen vonstattenging, wie mit dem Versuch Peters, moderne Errungenschaften aus dem Westen zu übernehmen, oft auch Dinge Eingang in die russische Politik fanden, die im Westen längst zur Disposition standen.

Gleichzeitig macht sie sichtbar, dass die Entwicklung Russlands in Vielem der diverser feudaler Länder im Westen glich. Viele Entwicklungen in diesem europäischen Zeitalter des Absolutismus liefen geradezu parallel oder etwas zeitverzögert.

Und dennoch wird deutlich, dass sich Moskaus Selbstwahrnehmung veränderte. Man orientierte sich am Westen auch, weil man sich neu justierte in Konkurrenz zu westlichen Großmächten. Und auch Martina Winkler resümiert: „So kann konstatiert werden, dass in der Zeit um 1700 eine Basis für spätere Entwicklungen entstand, bestimmt von neuen Ansätzen der Staatsbildung, Zentralisierung und Territorialisierung und geprägt von einem neuen, immer expliziter imperialen Selbstbewusstsein. Das Verhältnis von Pragmatismus und Ideologie, das Expansionsprozesse stets prägte, neigte sich nun stärker Letzterer zu.“

Einstige Partner und Verbündete wurden dem russländischen Imperium einverleibt, auch wenn die „Geländegewinne“, wie Winkler schreibt, gegenüber Peters Vorgängern auf dem Thron flächenmäßig geringer waren.

Aber mit dem Bau einer Flotte und dem radikalen Vorgehen im Nordischen Krieg platzierte sich Russland endgültig als eine Großmacht im Ostseeraum. Und auch nach innen änderte sich das Land unter Peter I. deutlich, wie Winkler feststellt: „Auch zuvor hatte es im Rahmen der Konsensgesellschaft immer wieder Gewalt und Repression gegeben. Jetzt aber, da der Herrscher nicht mehr vorrangig der Demut und Frömmigkeit verpflichtet war und das Bemühen um Konsens nicht mehr das zentrale Element machtpolitischer Aushandlungsprozesse bildete, war eine Barriere gefallen. Der Staat, dessen Agieren mit dem Konzept des Allgemeinwohls begründet wurde, konnte weiter gehen, ambitionierter erobern und systematischer unterdrücken.“

„Zivilisierung“ nach westlichen Mustern

Was nun einmal heißt, dass viele Entwicklungen der folgenden 300 Jahre genau hier begründet waren. Genauso wie das Agieren Moskaus als „imperiale, bald koloniale“ Macht, die mit „oftmals sehr aggressiv durchgeführten ‚Zivilisierungs‘-missionen“ ihren Herrschaftsbereich immer weiter ausdehnte.

Und das vielleicht Verblüffende dabei ist, dass diese Vorstellung von „Zivilisation“ ebenfalls aus dem Westen übernommen wurden, wo sich Länder wie England und Holland, die Peter besucht hatte, zu meerbeherrschenden Kolonialmächten entwickelt hatten. Selbst die Gründung von St. Petersburg auf vormals schwedischem Grund und Boden wirkt selbst in den damaligen Berichten wie ein bewusster Akt der Kolonisierung.

Was zumindest ahnen lässt, warum sich russische Propaganda bis heute so verbissen mit ihren eigenen Bildern vom Westen beschäftigt, wie er aus russischer Sicht aussieht. Denn einerseits sah man sich mit der Geschichte Peters als gelehriger Schüler des Westens und formte den eigenen Staat nach Vorstellungen aus dem Westen. Zum anderen aber ist dieses Bild verquickt mit den eigenen Vorstellungen von einem einflussreichen und mächtigen Imperium, das die eroberten Völker erst „zivilisiert“ hat. Oder zivilisieren muss – nach Moskauer Vorstellungen.

Aber Martina Winkler zeigt eben auch, dass Peter all das, was er umsetzen wollte, eben nicht einfach mit einem Ukas befehlen konnte. In vielen Fällen traf er dabei auf die alten Beharrungskräfte, auf Adlige und Bauern, die sich seinen Reformen schlichtweg verweigerten. Denn anders als die westlichen Länder war Russland kein wirklich straff organisierter und zentralisierter Staat – und ist es bis heute nicht.

So wie zu Peters Zeiten alles auf den Zaren als zentralen Dreh- und Angelpunkt des Reiches zugeschnitten war, konzentriert sich heute alles auf den Präsidenten, der wiederum vom guten Willen seiner Nomenklatura abhängig ist, auf ihre stillschweigende Unterordnung und Gefolgstreue. Jeder Verrat gefährdet das labile Gleichgewicht.

Pfadabhängigkeiten

Martina Winkler warnt zwar davor, das Bild des alleinherrschenden Zaren zu überzeichnen. Auch Peter war in vielfältigen Abhängigkeiten und Loyalitätsverhältnissen gebunden. Aber im Grunde ergänzt all das nur das Bild dieses am Ende dennoch auffällig tatendurstigen Zaren, der sich schon früh darauf konzentrierte, eine nach damaligen Vorstellungen moderne und schlagkräftige Armee zu schaffen, mit der er seine politischen Ziele durchsetzen konnte.

Alles hängt miteinander zusammen – die neue (und teure) Armee, die Notwendigkeit einer moderneren Bürokratie und einer besseren Erfassung von Land, Leuten und Ressourcen – und die Vorstellung des Zaren davon, welcher geopolitische Raum zum russländischen Reich gehört.

Martina Winkler rückt dabei die politische Umgebung des Zaren in den Vordergrund, seine Freunde, Berater und Gegenspieler, zeigt Peters Abhängigkeiten und Zwänge. Und sie verweist immer wieder auf das moderne wissenschaftliche Konzept der Pfadabhängigkeit, das sichtbar macht, wie die Entwicklung in einem Land direkt mit den Entwicklungen in anderen Ländern zusammenhängt, wie Veränderungen an einer Stelle Gegenbewegungen an anderer auslösen.

Was Geschichte nun einmal für handelnde Akteure – selbst wenn es tatkräftige Gestalten wie Peter sind – unberechenbar macht. Kräfteverhältnisse ändern sich, Spielräume tun sich auf. Aber nicht jede denkbare Alternative ist möglich. Das Alte verschafft sich ebenso Geltung wie der Druck des Neuen. Es kommt zu Rückkopplungen, Krisen und auch falschen Abzweigungen.

Der Staat als gut geölte Maschine

Und die größten Veränderungen erreichen tatsächlich Akteure, die – wie Peter – lernfähig sind und auch aus Niederlagen lernen können. Was freilich in seinem Fall auch mit einer sehr impulsiven und oft rücksichtslosen Persönlichkeit kollidiert. Das Menschliche mengt sich ins Politische, das Politische in alle Lebensbereiche. Und am Ende bleibt ein durchaus dissonantes Bild von einem Herrscher, der seine Vorstellungen von einem modernen Staatswesen auch mit Gewalt durchzusetzen suchte.

Ein „wohlreguliertes Gemeinwesen“, wie es damalige europäische Philosophen auch diskutierten. Der Staat als gut geölte Maschine. Nur war das auch bei Peter nie als gemeinschaftliches Werk gedacht, sondern als auf den Zaren als Selbstherrscher zugeschnittenes Verwaltungssystem. Auch das hat bis heute seine Spuren hinterlassen.

Was auch ein wenig so klingt, als wäre Peters Staatsreform eben auf halber Strecke steckengeblieben. Doch Winkler warnt eben auch davor, den Versuch der heutigen Kreml-Propaganda zu übernehmen, die heutige Politik Wladimir Putins direkt aus der Politik Peter I. abzuleiten. Dazu sind die geopolitischen Konstellationen viel zu verschieden.

Und die Ziele erst recht. Denn während Peter – auch mit der Beteiligung am Großen Nordischen Krieg – vor allem darauf zielte, Russland im Konzert der europäischen Mächte zu platzieren, verabschiedet sich Putin mit seinen Kriegen geradezu aus diesem Modell der Einbindung.

Und eben weil Martina Winkler vor allem den politischen Peter zeigt und seine vielfältigen Abhängigkeiten von den Gegebenheiten seiner Zeit, ist das Buch eben vor allem eine politische Biografie. Und zugleich eine Diskussion der lange Zeit dominierenden – heldenhaften – Interpretation dieses am Ende eben doch außergewöhnlichen Zaren, der nicht so einfach auf einen Nenner zu bringen ist.

Martina Winkler „Peter I. Zar und Kaiser“ Böhlau Verlag, Köln 2024, 49 Euro.

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