Auch Schriftsteller kommen in die Jahre. Manche verstummen dann, wenn die Plagen des Alters beginnen. Andere machen weiter bis zum Schluss. Und wieder andere machen die Leiden des Alters zum Thema ihrer Bücher – so wie der französische Autor Jean-Michel Maulpoix. Mit 72 Jahren merkt auch er, wie der Körper sich langsam als schmerzhafte Instanz etabliert und die Einsamkeit das Leben zu bestimmen beginnt. Dichter sind auch nur Menschen. Manchmal mit allen Fehlern, die man machen kann. Nicht über alles schreibt Maulpoix in „Jardin sous la neige“.
Und dass er eigentlich über das Alter schreibt, merkt der Leser anfangs nicht. Denn mit „Kalte Jahreszeit“ steigt Jean-Michel Maulpoix erst einmal in ein Thema ein, das in der Dichtung eher den Platz von Romantik und Kitsch einnimmt. Denn bei der Beschreibung des Winters wurden selbst berühmte Dichter gern sentimental und kindisch.
Und griffen zu abgenutzten Bildern und Emotionen. Anders als Maulpoix, der diesen Winter ganz persönlich nimmt und sich selbst beobachtet, wie er damit umgeht, wenn es draußen kalt, ungemütlich und finster wird. „Ich öffnete die Tür zur kalten Jahreszeit und trat in den Kummer ein“, setzt er einen Satz wie ein Motto vor dieses Kapitel.
Im Zimmer der Reue
Es sind wieder die von Maulpoix bekannten kurzen Gedichte in Prosa, mit denen er sein Buch anfüllt. Texte, die zeigen, dass man weder Verse noch Reime braucht, um die lyrische Dimension unseres Daseines in Worte zu fassen. Denn das Poetische entsteht durch Sprache, die Fähigkeit, das von uns Wahrgenommene immer wieder neu, in neuer Dichte, Schwere und Fülle auszusprechen. Und dabei Entdeckungen zu machen, weil Sprache dazu reizt, über das gewöhnliche Geplapper hinauszugehen.
Das Gesehene und Erlebte in neue Worte zu fassen und mehr darin zu entdecken. Auch wenn es nicht immer schön ist. So wie dieser Winter, den der gealterte Mann nun mit allen Sinnen erlebt und dabei gar nicht mehr anders kann, als seine eigenen persönlichen und körperlichen Malaisen in den Blick zu nehmen.
Persönliche Malaisen auch deshalb, weil auch die Partnerschaft in der Krise steckt. Irgendetwas ist da schiefgelaufen. Und so sieht sich der Schreibende unverhofft hart auf sich selbst zurückgeworfen. „In der kalten Jahreszeit betrachtet man die Dinge neu. Im Zimmer der Reue hört man alte Möbel knarren. Es sich dort bequem zu machen, kommt nicht infrage. Von schwarzer Nacht erfüllt, ist dort kein Platz für Liebkosungen und Träume.“
Da kommen nicht nur Erinnerungen. Da spürt einer das kommende Sterben in seinen Knochen. Das Maulpoix in immer neuen Bildern beschreibt. Er weicht dem nicht aus. Scheint geradezu gebannt von diesen Erfahrungen, die er mit demn spürbar alternden Körper in der kalten Jahreszeit macht, die für ihn nichts Romantisches mehr hat, aber geradezu zum Bild des eigenen Verfalls wird.
Und die verschwundene Liebe des Lebens wird zur Erinnerung. Die Bilder sind noch da. Nur die Nähe ist es nicht mehr. „In der kalten Jahreszeit wird einem bewusst, dass die verbleibenden Tage gezählt sind.“ Aber er zählt die Tage nicht. Eher sieht es so aus, als setzte er sich jeden Tag aufs Neue hin, um einen kurzen Text über den Winter zu schreiben, der ihm in den Knochen sitzt.
Als gelte es, etwas festzuhalten, sich noch einmal zu bestätigen, dass das ganze Schriftstellerleben nicht umsonst war und es noch etwas gibt, was es sich lohnt aufs Papier zu bannen. Mit einem gewissen Groll auch gegen die Veränderungen im eigenen Wesen. Denn wer schreibt schon solche Sätze: „Die Alten werden gemein. Sie haben das Wichtigste in ihrem Leben verstanden. Sie werden nicht mehr geliebt!“ Damit werde einer erst einmal fertig.
Paul, Stéphane und Charles
Und trotzdem sind es keine Klagegesänge, die Maulpoix schreibt. Er lässt seinen Gedanken freien Lauf. Und wenn sie die Wege auf den Friedhof, die Stadt der Verstummten, vorwegnehmen, zeichnet er das nach in immer neuen Bildern. Das frappiert. Es gibt kaum Autoren, die derart viele treffende Bilder für das Altern, das Sterben, die Stille danach gefunden haben.
Eine Fülle, die auch tröstet. Denn mit dem letzten Weg hat sich der Autor schon abgefunden: „Sie kamen eines Morgens mit einem grauen Lieferwagen. Würdig und sauber sahen sie aus, doch ihre Höflichkeit war kälter als Eis.“
Die Bilder für Winter und Sterben gehen nahtlos und manchmal kaum spürbar ineinander über. Und auf einmal sieht man sich mit dem Autor geradezu versetzt in die Stadt der Toten: „Ich bin umgezogen. Ich wohne jetzt in einem engen, ganz stillen Gässchen, dessen Boden mit weißem Kies bedeckt ist.“
Da ist nichts mehr von der Schauerromantik, mit der noch die Dichter des frühen 19. Jahrhunderts Tod und Vergehen beschrieben haben. Es ist viel eher die Lakonie der drei großen französischen Dichter, die Maulpoix in seinen kurzen Texten immer wieder erwähnt: Paul, Stéphane und Charles. Hinter Paul könnte Paul Verlaine stecken, hinter Charles Charles Baudelaire. Beide relativ jung verstorben. Ihre Tode zitiert Maulpoix natürlich.
Aber einen bezieht er wesentlich stärker in seine Texte ein, die am Kulminationspunkt dieser Sammlung zu einem frühen/späten Besuch in der poetischen Welt dieser prägenden französischen Poeten wird – es ist Stéphane Mallarmé. Und natürlich haben sich auch die drei mit dem Tod und der Faszination des Vergänglichen beschäftigt.
Nicht ganz so nüchtern wie Maulpoix. Aber man merkt: Das schwingt alles mit. Diese Dichtung ist ihm nahe, steht garantiert auch in Dutzenden Bänden in der Bibliothek, die jetzt stumm auf den alten Mann herabschaut, der da schreibt. Und der noch einmal versucht, sich zu verorten, seinen Platz zu bestimmen in der Welt der Worte auf Papier.
Ein Leben aus Papier
Und da und dort klingt es auch wie eine kleine Entschuldigung, wenn er die verschwundene Liebe erwähnt. „Die Bücher decken die Wände zu und verzerren unsere Gesichter. Die Stühle knarren, unsere Lehnsessel verursachen mir Rückenschmerzen …“
Ein ganzes Kapitel benennt er „Une vie de papier“. Immerhin steht nun die Frage: War sein Aufenthalt in der Literatur nur ein „kurzer Höflichkeitsbesuch“? Was bleibt? „Von meinem Schatten aus spreche ich zu euch. Ich bin auf die andere Seite gewechselt. Dort, wo nur noch Worte bleiben. Rinden und Schalen. Stapel von Papieren, ungeduldig zerknittert.“
Am Ende kehrt er wieder in den Winter zurück, betrachtet den langsam fallenden Schnee, „so fügsam und anmutig“. So hat er auch ein Bild für sein Schreiben: „Auch Schreiben ist wie ein langsames Stapfen im Schnee …“
Irgendwie ist das schon wie ein Versuch, eine Bilanz zu ziehen. Auch wenn er so noch eine Weile weitermachen kann. In Einsamkeit, mit Gedanken an den Schnee, der alles dämpft. Und dem drinnen Sitzenden letztlich auch die Botschaft mitgibt: „Dem plötzlich einsetzenden Winter folgt kein Frühling. Herz und Erinnerung verlieren an Farbe.“
Ist das schon Abschied? Oder der Versuch, über das Schreiben noch einmal ein bisschen Leben in die Glieder zu bekommen? Jedenfalls endet Maulpoix’ Ausflug in den „Garten unter dem Schnee“ mit dem Satz: „Er kommt aus der großen Einsamkeit.“
Das kann man auch schreiben, wenn man aus lauter Altersstarrsinn etwas zerbrochen hat, was nicht mehr zu kitten ist. Und für einen wirklichen Anfang fehlt einem da einfach die Kraft. Ein auf den ersten Blick sehr winterliches Buch, das sich aber, wenn man genau liest, auch als Versuch entpuppt, die Scherben des Alters noch einmal zu kitten und irgendwie zu hoffen, dass es doch noch ein bisschen weitergeht.
Wie so oft im Leben. Nur bleibt am Ende nicht mehr viel Weg übrig, den man mit klappernden Knochen noch laufen kann. Und auch nicht viel Hoffnung, dass noch einmal alles gut wird.
Jean-Michel Maulpoix Der Garten unter dem Schnee Sisifo im Leipziger Literaturverlag, Leipzig 2024, 19,95 Euro.
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