Die Poesie der Welt erlebt man weder im Auto noch im Flugzeug. Denn Poesie lebt von der Aufmerksamkeit, vom intensiv erlebten Moment, von der direkten Begegnung mit der Welt um uns. Und dazu eignet sich eines am allerbesten, was Dichterinnen und Dichter seit Jahrhunderten wissen und praktizieren: der Spaziergang in die lebendige Natur. Oder das, was davon noch übrig ist.

Reinhard Krehl ist Spaziergangsforscher. Er hat das sogar studiert. Seit 2001 lebt er in Leipzig – als Künstler, Kurator und Lyriker. Sein Wissen um die erlebte Landschaft bringt er auch in Landschaftsplanungen ein. Denn wer die Welt so konsequent aus der Spaziergängerperspektive betrachtet, der sieht auch künstliche Landschaftsgestaltungen anders als Leute am Schreibtisch oder hinterm Lenkrad. Der weiß, dass wir als Menschen unsere Welt tatsächlich nur offenen Auges und Sinnes wahrnehmen und ihre Schönheit begreifen, wenn wir auf Schusters Rappen unterwegs sind. Ohne Hektik. In einem Zustand der ziellosen Freude am Sein.

Und fast möchte man meinen, dass es dann auch das ist, was die in diesem Band der Edition Wörtersee gesammelten Gedichte als Stimmung durchziehen könnte. Doch schon der Bandtitel deutet es an: Die Landschaften, durch die dieser Dichter läuft, sind keine intakten Landschaften mehr. Es sind die genutzten und übernutzten Landschaften vor den Toren der Stadt, die der Stadtbewohner im Zwiespalt erlebt. Denn gegen das Gewimmel und den Stress der Stadt bieten auch die Landschaften draußen zwischen Kornfeldern und Feldwegen eine verwirrende Ruhe, sind die „dinge ringsum / bis zum überlaufen angefüllt / ich könnte nicht sagen / mit was / aber es hält ein leben lang“. („das weiße band“)

Im Feldhasenrevier

Es zieht uns hinaus. Jedenfalls alle diejenigen, die ihre freie Zeit nicht wieder und wieder dazu nutzen, von einem lärmerfüllten Ort zum nächsten zu eilen und die Räume dazwischen einfach zu ignorieren. Die ihre Schuhe schnüren und einfach loslaufen, dorthin, wo die Stadt aufhört und der Lärmpegel sehr schnell sinkt, sodass man auch Bienen und Vögel wieder hören kann. Oder das Rascheln der Blätter im Wind. „feldhasenrevier / man sieht hier weit / bis fast hinunter / in die von häusern überfüllten / täler“. („vier linden“)

Wer so noch wandert wie Reinhard Krehl, kennt dieses Gefühl. Auch das des Aufatmens und Ruhigerwerdens, weil man dort – es passiert jedes Mal – den Stress der Stadt tatsächlich von sich abfallen fühlt. Einen Stress, dessen man sich gar nicht gewahr wird, wenn man da unten im Häusergedränge unentwegt rotiert. „sisyphos wohnt in der stadt / und müht sich / jedes wochenende / nach oben“. („sisyphos wohnt in der stadt“)

Nach oben auf die nahen Berge. Wo man seinen eigenen Atem wieder hört, wenn man hinaufläuft, stehenbleibt, schaut und entdeckt. Denn zu entdecken gibt es auch dort genug. Noch, möchte man meinen. Es sind keine romantisierten Landschaften, die Krehl als Spaziergänger aufsucht.

Eher „landschaften mit rübenanbau“, leere Rückhaltebecken, Grünland (das nur die Hälfte wert ist), leere Scheunen und manchmal auch so etwas wie ein „Garten Eden“, in dem er eine Kuhherde „in glücklicher unwirtschaftlichkeit“ lagern sieht im Gras. („garten eden“). Eine Idylle, um deren Trug er weiß, weil er ihn sieht. Er sieht nicht nur die friedlich wiederkäuenden Kühe, sondern auch die „anhänger / groß wie scheunen“, die täglich umherfahren „und berichten / auch sie waren in arkadien“.

Früher waren es die Maler und Dichter, die sich so in ein heiles Arkadien zurücksehnten. Das man auch als eine nicht zerschundene Landschaft sehen kann oder eine nicht in industrielle Extreme zerstreckte Landschaft, in der alles noch seinen Platz hatte. Die Orte jenseits der Stadt noch nicht als Un-Orte galten, aus denen man fliehen muss so früh wie möglich, bei der nächstbesten Gelegenheit: „die / busverbindung in die stadt / die zeit macht zeitürchen auf / und verschwindet wieder / dorfpunks / sind gegangen bevor sie da waren“. („wegränder hochblondiert …“)

Birnbaum, Wacholder, Augentrost

Es ist keine Idylle, die Krehl beschreibt. Keine Zuflucht in eine als (noch) heil empfundene Welt da draußen vor den Toren der Stadt. Selbst wenn er sich den einzelnen Pflanzen widmet, die Eiligere so gern übersehen oder nicht mal beim Namen kennen, wird die Trauer spürbar, die nicht nur der Spaziergänger empfindet, wenn er sich so intensiv den Gewächsen am Wegrand widmet. Er weiß: „nichts haben wir in der hand / den schnee nicht / den regen nicht / die liebe nicht / …“ („solange die schwalben da sind“)

Schwalben, die den Wartenden daran erinnern, „dass es da etwas gibt / in der ferne und hier“. Eine scheinbar achtlos hingeworfene Formel, die die große Diskrepanz deutlich macht in unserem heute so vom Fernen und Exotischen besessenen Leben, dass wir das Schöne, Berührenswerte und Lebendige vor unserer Nase nicht mehr sehen. Und nicht mehr wertschätzen.

Auch deshalb sind wir so umtriebig, suchen das Abenteuer und das Glück in der Ferne. Und lassen es gleich in unserer Nachbarschaft verdorren, verwehen, verwittern. Unbeachtet lassen wir es liegen. Und finden deshalb nicht, was der Zufußgehende beim Gehen und Stehenbleiben tatsächlich noch entdeckt: kleine Wasserschnecken, den blühenden Birnbaum am weißen Weg, Wacholdef und Augentrost.

„Wohin gehen wir“, fragt er in einem Gedicht, sieht aber nur „die sonne in den steinen“, Wasser, das hindurchläuft. „im schatten der steine liegt / nichts / außer dem blau / das sich / dem himmel zuwendet“. Das darf man erspüren unterwegs, dass wir leben wie das Wasser – in immerwährender Bewegung. Im Kreislauf. Teil einer Welt, in der auch die Steine lebendig sind auf ihre Art, die Landschaft prägen: „eine klifflinie / die sich wie eine schöne narbe / mitten übers herz zieht“. („klifflinie“) Steine, die dem Wanderer auf einmal nahe bringen, wie nah er der Leichtigkeit des Sein gerade hier ist.

„in den weiten baumlosen heiden / ein flüstern / über die leichtigkeit / des lebens / ein irre schöner gesang.“ Es sind Gedichte wie Einladungen, jetzt endlich den Rucksack zu schnappen, sich anzuziehen für Wind und Wetter und hinauszugehen. Da hin, wo die Ulmen ihre Schatten werfen, die Kinder Kastanien sammeln wie Schätze, die Mücken tanzen, in den Buchenwald nahe der verlassenen Kaserne oder ins Mittelgebirge. Nur dass dort kein besonderer Duft die Dichter versucht. Denn wenn sich die Nebelkappe verzieht, „sehen wir / wie sehr wir uns baumlos verirrt haben / auf nacktem grauen stein“.

Hasenklee

Krehl idyllisiert die Welt da draußen nicht, verspricht keine heile Begegnung. Es sind von Menschen verformte, geprägte und gezähmte Landschaften. In denen das Lebendige sich noch festkrallt, behauptet und durchhält. Und dem Vorbeigehenden Trost gibt, dass das Leben sich noch festklammert am Stein. „die bäume aber / sind noch im lauib / obwohl der mehltau / an allen nagt / scheint die sonne“. („herbstwald“)

Es sind genau diese widersprüchlichen Bilder, die von der Wirklichkeit unserer Landschaften erzählen, von der nur zu verständlichen Melancholie des Dichters und von seiner Liebe zum Wachsenden, Ausharrenden, allem, was nicht klein beigibt. Und was man – noch – entdecken darf, wenn man sich so auf das am Wegrand Wachsende einlässt – auf Septemberveilchen, Wermut, Wacholder und Hasenklee.

Hasenklee, den auch die Schafe, die da auf kalkigen Hängen weiden, nicht fressen. Der sich aber bestens eignet, mit ihm filigrane Pflanzendrucke anzufertigen, die Krehl auch auf T-Shirts druckt. Aber einige sind auch dem Buch beigegeben, illustrieren die bizarre Welt am Rand der Wege, die einer läuft „im hochland der schafe / jener weichen mittler / zwischen den felsen und wolken“. („kalkwege“)

Es braucht gar keine fetten Pinselstriche und auch keins der idyllischen Adjektive, mit denen die Romantiker einst ihre Wiesenerlebnisse aufpeppten, um sie niedlicher erscheinen zu lassen. Gerade weil das Gras am Wegrand von Krehls Gedichten mal nass, mal struppig ist, die Ausblicke rau, die Landschaften zerschlissen, spürt man, dass es ganz reale Spaziergänge waren, auf denen diese Verse Gestalt annahmen. Dass der Wandernde das alle tatsächlch sah. Und festhalten musste, weil man es im Gewimmel der überdrehten Stadt so schnell wieder vegisst.

Denn zu uns selbst kommen wir nun einmal nur zu Fuß. Und mit einem Blick für die Wege, die wir gehen. Und für die Landschaft, die auch dann noch da liegen wird, wenn wir gegangen sind.

Reinhard Krehl „zwischen hochdruckbehälter und wolken“, Connewitzer Verlagsbuchhandlung, Leipzig 2024, 18 Euro.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar