Wenn man als Dichter so auf die 90 zugeht wie der in Süpplingen lebende Wolfgang Rischer, dann kann man vergleichen, hat jede Menge Erinnerungen. Und manche Bilder wiederholen sich, weil man sie jedes Jahr gesehen hat und gleichzeitig jedes Mal aufs Neue entdeckt. Es ist der aufmerksame Blick des Dichters, der sichtbar macht, wie unendlich und vielgestaltig und immer wieder neu unsere Welt ist. Und leider auch: Wie schmerzhaft die Verluste sind.

Denn nicht alles, was sich uns als neu verkauft, ist ein Geschenk oder ein Fortschritt. Oft merken wir gar nicht, wie das Neue unser Leben verschlingt, unsere Zeit und unsere Besinnung darauf, was eigentlich unser Dasein ausmacht. Deswegen sind auch Rischers Naturgedichte voller Melancholie. In der Wahrnehmung der Schönheit allen Seins steckt der Moment der Vergänglichkeit.

Und in den Versen des Dichters ein stilles Frohsein darüber, dass es das noch gibt – den Feuermohn zum Beispiel, „Doppelbild von Schönheit & Schrecken“. Oder den leuchtendroten Heißluftballon, der bei Windstille „fotostarr“ überm Rapsfeld steht.

Bilder im Kopf

Es sind Bilder, in Worte gefasst. Worte, die Bilder im Kopf des Lesenden erzeugen. Rischer weiß, wo Poesie beginnt. Und wie sie unsere Gehirne anregt, wieder selbst wahrzunehmen, was die Welt uns zeigt. Was es zu entdecken gibt. Zu entdecken gäbe, würden wir nicht all unsere Aufmerksamkeit den Leuten widmen, die die Welt mit Unrast, Dummheit, Lärm und Rücksichtslosigkeit erfüllen. Sodass die meisten von uns nur noch im Lärm leben und keinen Blick mehr habe für das, was ihnen wirklich geschieht und begegnet.

Das hat vor über 400 Jahren schon einen anderen Dichter entsetzt, dessen 66. Sonett bis heute die Dichtenden immer wieder zu eigenen Versuchen anregt, ihren Überdruss über Lärm, Dummheit und Lüge in Verse zu bannen, die die Welt beherrschen und die Menschen umtreiben. Und letztlich blind machen, verführt, genarrt. Und immer unfähiger zu lieben. Denn zum Lieben muss man bei sich sein. Und bleibt doch einsam, wenn alle nur brüllen und lärmen: „All dessen müd, würd ich gegangen sein / nur bliebe, stürb ich, meine Lieb allein.“

So vieldeutig kann das klingen, wenn ein Dichter sein Material beherrscht. Und weiß, wie Gedichte gewebt werden. Kein Zufall, dass Rischer auch ein Gedicht über den Dichter schreibt, der eine einzigartige Fähigkeit besitzt: „Nur in der Poesie wird manchmal / ein Bild wieder ganz.“

Was nicht nur mit Gefühlen zu tun hat, sondern auch mit Anstand, einem Blick für das Menschliche. So wie in „Europa, janusköpfig, 2015“, für das schon der Titel verrät, wie verstört ein einfühlsamer Dichter auf das reagierte, was 2015 im Lärm der Lauten und Vielzitierten begann – die aufkeimende Unmenschlichkeit im selbstgefälligen Gerede von Politikern, die schon mitten in der Ankunft der Geflüchteten begannen, die Feuer der Angst und des Hasses zu schüren: „Glaubwürdigkeit von Stacheldraht erdrückt.“

Wie die Bilder sich gleichen

Es ist ein Gedicht, so aktuell wie 2015. Als hätte der Dichter geahnt, dass die um Gunst und Wähler buhlenden Selbstgerechten nicht mehr einhalten würden, weil sie ihr Thema gefunden hatten, mit dem sie die daheim in ihren Sesseln Hockenden permanent in Ängste reden konnten. Wer Angst hat, denkt nicht mehr nach. Der will auch die Wirklichkeit nicht sehen, wie sie ist – beklemmend schön zuweilen, wie der Frühling 2022, der mit „züngelnder Flamme“ erwachte „auch neben den Toten“.

Rischer muss gar nicht Namen und Länder nennen. Jeder erinnert sich. Jeder erinnert sich anders. Erst recht, wenn er die Welt mit diesem schmerzlichen Verstehen betrachtet wie der Dichter im einstigen Grenzland. Der sich noch erinnert, dass die Bilder, die heute über die Bildschirme flimmern, so auch in seiner Jugend zu sehen waren: „der verzerrte Blick eines kleinen Jungen / mit einer Plastiktüte“, der Rischer an einen Neunjährigen auf der Flucht erinnert „vor dem donnergrollenden Moloch hinterm Horizont“.

Der Krieg hat nur ein Gesicht. Es ist immer dasselbe. Und es bleibt denen im Gedächtnis, die es erlebt haben. Manchen als Mahnung. Andere stellen sich dumm und vergesslich. „Auch dieser Augenblick ist nicht vorüber“, lautet der letzte Vers in Rischers Gedicht „Die Wiederkehr der Bilder“, der auf dem Buchtitel noch nicht verrät, was in ihm steckt.

Wie man Wirklichkeiten schafft

Neben der Tatsache, dass dieser Band Rischers Gedichte seit 2015 versammelt. Und nicht nur das. Denn wenn einer so intensiv über das schreibt, was er sieht, dann bietet es sich geradezu an, den Band auch mit Fotos zu bebildern, die dieses Sehen auf andere Weise sichtbar machen: Fotos von Rischers Sohn Alexander Rischer, der die filigrane Poesie der Natur einzufangen versteht, aber auch Bilder von Karsten Fischer, die das Traumhafte in Rischers Poesie deutlich machen.

In einem Nachwort würdigt der Leipziger Dichter Ralph Grüneberger seinen älteren Kollegen. „Mit seinen Gedichten schafft Wolfgang Rischer seinerseits Wirklichkeiten“, stellt er fest.

Und merkt damit an, worin – auch für ihn – eigentlich Poesie besteht. Dieser Stoff, der in Schulen gern so herzlos vermittelt wird, ohne dass die Kinder lernen, dass es ihr eigenes Sehen und Fühlen und Wahrnehmen ist, das begabte Dichter in Worte zu fassen vermögen. In Sprache, die zu Bildern wird, zu Bildern von Welt. Und gerade da, wo sie durchscheinend wird, wird die Tiefe unseres Da-Seins spürbar. Darf man merken, dass in all unseren Bildern von Welt immer mehr steckt als der wahrgenommene Moment.

Aber dazu braucht man die Besinnung, das Einlassen auf das Zuhören und Mit-Schauen. Dass man lernen kann, wenn man sich mit einem wie Rischer in den Garten begibt. Die Jahreszeit ist egal. Denn die Worte, die das Unerhörte streifen können, haben wir alle gelernt. Nur nicht, sie so ernsthaft zu benutzen wie die Dichter, die die „Wörter geduldig“ prüfen und wägen. Bis die richtigen an der richtigen Stelle stehen und ein Bild entsteht, vielleicht mit einem Bussard, der in seinen Warteschleifen „auf Klugheit & einen langen Atem“ setzt.

So entdeckt sich der Schauende selbst im Bild. Näher kann man all dem, was um uns geschieht, kaum kommen.

Wolfgang Rischer „Die Wiederkehr der Bilder“ Dr. Ziethen Verlag, Oschersleben 2024, 20 Euro.

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