Freiheit ist eines der am häufigsten beschworenen und geradezu inflationär gebrauchten Substantive. Doch meistens wird es falsch benutzt. Und das auch noch mit Absicht. Denn die Leute, die uns die falsche Freiheit einreden wollen, verfolgen damit fast immer egoistische Ziele. Sie wissen, wie hochemotional der Begriff Freiheit für alle Menschen ist. Und viel zu oft lassen wir uns davon narren – und bekommen stattdessen Hass, Ausgrenzung, Spaltung und Tyrannei. Höchste Zeit, das Wort einmal ernst zu nehmen.
Und das tut Timothy Snyder in diesem Buch. Eigentlich ist es sein Lebensthema. Das merkt man in allen seinen zu Bestsellern gewordenen Büchern – von den „Bloodlands“ (2010) bis zu „On Tyranny“ (2017). Nicht zu vergessen „The Road to Unfreedom“ (2018). Wir verschlingen diese Bücher, weil wir einfach nicht verstehen, wie ganze Länder – auch die großen Demokratien des Westens – abstürzen können in neue autoritäre Diktaturen. Was ist da los? Was haben wir nicht begriffen?
Auch wir Ostdeutschen. Freiheit war doch nun einmal das zentrale Thema unserer Friedlichen Revolution. Wir sind auf die Straße gegangen, weil wir frei sein wollten. Und haben dann offenbar doch die falsche Abzweigung genommen, weil wir über Freiheit falsch gedacht haben.
Körper und Leib
Es ist übrigens nicht nur ein ostdeutsches Thema, auch wenn Snyder die Friedliche Revolution zumindest am Rande erwähnt. Aber andere Revolutionen von 1989 und 1990 interessieren ihn viel mehr. Auch weil sich führende Köpfe in diesen Ländern viel gründlicher Gedanken gemacht haben darüber, worum es beim Menschsein eigentlich geht. Um nur einige der wichtigsten Akteure zu nennen, die Snyder in seinem Buch erwähnt: Václav Havel, Leszek Kołakowski, Adam Michnik.
Wobei er den Bogen noch viel größer schlägt und Philosophinnen zu Rate zieht, die viel zu selten erwähnt werden, obwohl sie viel gründlicher und realitätsnäher als ihre männlichen Kollegen auf die Essenz menschlicher Freiheit eingegangen sind – Edith Stein und Simone Weil.
Von Edith Stein, die die Nazis 1942 im KZ Auschwitz ermordeten, hat er ein ganz wichtiges Wort geliehen, das es so im Englischen nicht gibt und das eine Unterscheidung ermöglicht. Denn neben dem Wort Körper haben wir auch noch das viel seltener benutzte Leib, ein Wort, das mehr bezeichnet als nur den Körper, den wir besitzen. Denn zum Leib wird der Körper erst durch sein Beseeltsein, seine Fähigkeit, sich selbst wahrzunehmen, Gefühle zu spüren, aktiv zu sein. Und freie Entscheidungen zu treffen.
Was dann im Lauf seiner Untersuchung immer wichtiger wird, denn genau hier scheiden sich Autokratie und Demokratie, die Verfügung über Menschen(-körper) einerseits, und das Verfügen von Menschen über ihr Leben. Überall, wo Menschen zu Körpern gemacht werden, wo ihnen das Selbstverständnis des eigenen Bestimmtseins genommen wird, werden sie zu (wert-losen) Objekten gemacht.
Eine Extremform: Kanonenfutter für den Krieg eines Autokraten, dem Menschenleben egal sind, Wünsche und Hoffnungen der Menschen erst recht. Überall, wo Menschen zum Objekt gemacht werden, verlieren sie ihre Freiheit. Konkreter: ihre positive Freiheit.
Negative und positive Freiheit
Eigentlich ist das eine Unterscheidung, die in der Philosophie schon länger bekannt und selbstverständlich ist. Nur scheint sie in der realen Politik und in den Köpfen der Politiker überhaupt keine Rolle zu spielen. Als würden sie nicht einmal den Unterschied begreifen.
Oder mit Snyder: „Wenn wir davon ausgehen, dass Freiheit etwas Negatives ist, die Abwesenheit von diesem und jenem, glauben wir, dass wir nur ein Hindernis beseitigen müssen. In dieser Denkweise ist die Freiheit der Normalzustand des Universums, der uns von einer höheren Macht gebracht wird, wenn wir den Weg frei machen. Das ist naiv.“
Es führt sogar in die Irre. Und macht die Betroffenen manipulierbar, weil sie glauben, sie müssten sich nur von all den Dingen befreien, die sie scheinbar daran hindern, frei zu sein. Grenzen, Regeln, Gesetze, Abgaben, Regierungen.
Es ist kein Zufall, dass sich in Snyders Analysen sehr schnell herausstellt, dass der moderne Neopliberalismus, der mit Ronald Reagan, Margaret Thatcher und allen ihren Nachbetern zur Leitpolitik im Westen geworden ist, eine Menge mit dem autoritären Verwalten der einstigen kommunistischen Regime zu tun hat. Die ja den Menschen auch eine Freiheit versprachen – später irgendwann, wenn man endlich im richtigen, einzigen Kommunismus angelangt wäre. Nur eben leider jetzt nicht. Jetzt müssen noch alle gehorchen, schuften und auf ein freies Leben verzichten. Leider.
Weshalb sich Dissidenten wie Havel eben nicht Gedanken über die negative Freiheit gemacht haben, sondern über die positive – die Freiheit zu einem menschenwürdigen Leben, einem Leben, in dem der Mensch seine Möglichkeiten ausschöpfen und sein eigenes Leben als wandelbar und selbstbestimmt begreifen kann. Was Snyder mit Bildern aus seiner eigenen Kindheit unterlegt.
Denn genau dort lernt man es – entweder sich anzupassen, das „Alternativlose” zu akzeptieren und die Schuld für das Nichtgelebte immer bei Anderen zu suchen. Oder die Welt so nüchtern und realistisch zu sehen, wie sie ist, die eigenen Möglichkeiten kennenzulernen und das eigene Leben als ein Leben in Alternativen, in überraschenden Möglichkeiten zu denken.
Man merkt schon da: Das sind grundlegend verschiedene Welten. Das eine ist nur die enge Freiheit von etwas, das andere die Freiheit zu etwas. Letztlich zu einem selbstgestalteten Leben.
Im Griff der falschen Freiheit
Aber Snyder ist auch zu sehr bewusst, dass viele Menschen diese Freiheit gar nicht haben. Es geht ums Eingemachte. „Nur Menschen können frei sein“, schreibt er. „Wenn wir glauben, dass etwas anderes uns frei macht, lernen wir nie, was wir tun müssen. In dem Moment, in dem wir glauben, dass Freiheit gegeben ist, ist sie weg.“
Und Snyder macht sich auf vielen Seiten Gedanken darüber, warum sein Heimatland, die USA, derart im Griff der falschen Freiheit ist, die ganz offensichtlich für Millionen Menschen tatsächlich Unfreiheit ist. Was er in fünf Kapiteln zu den fünf Formen der Freiheit deutlicher macht. „Diese Formen schaffen eine Welt, in der die Menschen auf der Grundlage von Werten handeln können.“ Es sind die fünf Formen, die uns überhaupt erst einmal klarmachen, dass Freiheit Grundbedingungen braucht. Ohne diese sind wir – nicht frei.
Und dazu gehört nicht nur das Erleben von Souveränität (der erlebten Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen) und die erreichbare Unberechenbarkeit – Unberechenbarkeit auch für Mächtige aller Art, weil wir unser Denken verändern, dazulernen, uns neu justieren, anders handeln lernen können. Aber da ist man schnell bei einem Wort, dass beim ganzen Freiheitsgerede bestenfalls mal mit unbeschränkter Raserei auf der Autobahn in Verbindung gebracht wird: Mobilität.
Was eben nicht nur mit dem so gern beschworenen Pendeln zur Arbeit zu tun hat (was mit Mobilität eher nichts zu tun hat), dafür viel mit Unfreiheit. Mobilität umfasst alle unsere Möglichkeiten, den Ort verlassen zu können, an dem wir sind – im Raum, in der Zeit, aber auch im Status. Daraus leiteten die westlichen Demokratien über Jahrzehnte ihre Kraft ab, indem sie den Menschen ermöglichten, mobil zu sein, ihre Fähigkeiten zu entfalten und ihren Status in der Gesellschaft aus eigener Kraft zu verbessern.
Demolierte Versprechen
Nur: Dieses Versprechen lösen die USA schon lange nicht mehr ein und Länder wie Deutschland auch immer weniger. Immer mehr Menschen erleben, dass ihre Aufstiegschancen gleich null sind, dass sie in nicht selbst gewählten Verhältnissen feststecken und ihre Träume vom Leben nicht erfüllen können. Und das hat mit der nächsten Form der Freiheit zu tun: der Solidarität. Die heutzutage so gern verhöhnt wird, als des Teufels bezeichnet wird, als irgend so ein linkes Ding.
Obwohl die Erfahrungen der Goldenen Jahre der westlichen Demokratien – die Zeit der Sozialen Marktwirtschaft – gezeigt haben, dass Solidarität die Grundlage dafür ist, dass mehr Menschen ihre Freiheit leben konnten. Es hat direkt mit dem Sozialstaat zu tun, den die heutigen Neoliberalen nicht nur verhöhnen, sondern gezielt angreifen.
Für sie ist er blanker Kommunismus, genauso wie ein starker Staat, der das Steuergeld ins Gemeinwohl und in die von allen genutzten Infrastrukturen steckt, und das Steuerzahlen sowieso. Wer tatsächlich glaubt, dass der Steuerzahlerbund die Interessen des gemeinen Steuerzahlers vertritt, der ist auf dem Holzweg. Denn wie so viele Lobbyorganisationen der Reichen hat er nur ein Ziel: dem „verfressenen“ Staat die Steuern zu entziehen und ihn an der „Verschwendung“ (für Sozialausgaben) zu hindern. Wofür übrigens auch das neoliberale Projekt der „Schuldenbremse“ dient.
Denn es geht immer um die Frage: Wie viel Geld steht eigentlich zur Verfügung, der nicht-reichen Mehrheit im Land ein freies, selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen? Dass es damit gerade in den USA schon lange nicht mehr gut bestellt ist, führt Snyder gerade im letzten Kapitel sehr detailliert aus. Denn zur Ermöglichung von Freiheit gehören nun einmal so simple Dinge wie ein für jeden zugängliches Gesundheitssystem, kostenlose Bildung und die Chance, ohne Barriere auch zu höheren Bildungsabschlüssen zu kommen, ein funktionierendes Justizwesen, das auch den Armen Recht zuteilwerden lässt, aber auch freie Wahlen, von denen keine Bevölkerungsgruppe ausgeschlossen wird.
Die enthemmte Freiheit der Reichen
Auf einmal wird deutlicher, dass kein politisches Projekt jemals so sehr vom Freiheitsgedanken getragen war wie das Projekt eines funktionierenden Sozialstaates. Das mit dem Aufkommen der Neoliberalen im Westen ab den 1980er Jahren systematisch entkernt und abgebaut wurde. Stets mit dem Mäntelchen der Freiheit versehen, das im Grunde nur eine Freiheit wirklich zum Inhalt hatte: die Freiheit, ungehemmt Profite machen zu dürfen und dabei alles zu zerstören, was beim Profitmachen im Wege stand. Und steht.
Mit Folgen, die viele Menschen gar nicht mit dem Wort (Un-)Freiheit in Verbindung bringen: der Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen und des Klimas. Was binnen weniger Jahrzehnte dazu führen wird, dass unsere Kinder und Enkel in einem viel größeren Ausmaß unfrei sein werden als wir.
Denn wenn die Lebensgrundlagen zerstört werden, bleibt nicht viel Freiheit.
Was mit der nächsten Lüge der Technokraten zu tun hat, die uns immerzu versprechen, ihre Technologien würden uns mehr Freiheiten verschaffen. Obwohl genau das Gegenteil der Fall ist, wie Snyder am Beispiel der digitalen Geräte demonstriert, deren Algorithmen darauf angelegt sind, uns zu manipulieren und davon abzuhalten, unser Leben selbst zu gestalten. Oder überhaupt darüber nachzudenken, was wir denn im Leben eigentlich sein möchten. Das lässt sich nämlich nicht berechnen. Die Algorithmen bedienen nur das Berechenbare, das, worin wir allesamt unfrei sind.
Ich habe noch nicht erwähnt, dass dieses Buch ein Lesevergnügen ist. Snyder selbst empfiehlt, es lieber jeden Tag in kleinen Happen zu lesen. Denn es ist auch noch dicht auf eine Weise, die nur wenige philosophische Bücher sind. Auf einmal dar man die vielen miteinander verketteten Themen entdecken, die alle mit unserer Freiheit zu tun haben.
Ein Land zum Lernen: die Ukraine
Und dass er vier Jahre an dem Buch gearbeitet hat, zeigt Snyder auch. Einige Kapitel hat er bei seinen diversen Aufenthalten in der Ukraine ab 2022 geschrieben – Kapitel, in denen er direkt aus einem vom Krieg gezeichneten Land beschreiben kann, was (positive) Freiheit tatsächlich ist. Was einem die Bewohner eines so verheerten Landes sogar sehr anschaulich zeigen können.
Beim ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj angefangen, der im Februar 2022 etwas tat, was auch die westlichen Politiker nicht erwartet hätten (weil sie den falschen Freiheitsbegriff im Kopf hatten und haben): Er flüchtete nicht aus dem Land, sondern blieb in Kiew und zeigte es noch in der ersten Kriegsnacht allen Ukrainern: Wir sind hier. In Kiew.
Freiheit ist, wenn man sich frei entscheidet zu widerstehen und sich nicht einschüchtern lässt. Das haben viele westliche Politiker bis heute nicht begriffen. Die Ukrainer erleben es täglich. Bis hin zu der alten Frau, deren Haus von den Russen zerstört wurde, und die einfach weitermacht und das Leben so nimmt, wie es ist. Wer aufgibt, ist nicht mehr frei.
Und wer die Welt nicht so sieht, wie sie ist, ist auch nicht frei. Das ist die noch fehlende Form der Freiheit, die Snyder Faktizität nennt. Und die er nicht ganz grundlos mit dem Lokaljournalismus in Verbindung bringt. Richtig gelesen: Lokaljournalismus. Denn Lokalreporter berichten darüber, was in der direkten Umgebung der Menschen passiert.
Über Skandale, politische Entscheidungsträger, dubiose Unternehmen, die Sammelleidenschaft von Farmersfrauen, eingestellte Bahnstrecken und geschlossene Bahnhöfe. Sie zeigen den Menschen, die selbst gar nicht die Zeit haben, dem allen nachzuspüren, was vor ihrer Nase vor sich geht. Und befähigen sie damit zu realistischen Entscheidungen.
In gefälschten Welten
Nur ist das Sterben der Lokalzeitungen in den USA längst viel weiter fortgeschritten als in Deutschland. Hier haben die großen IT-Konzerne viel früher und verheerender zugeschlagen und sämtliche Werbeerlöse an sich gerissen, von denen vorher noch tausende Lokalzeitungen im ganzen Land finanziert werden konnten. Und gleichzeitig mit ihren „social media“ eine Welt geschaffen, in der Lügen, Verschwörungen, Radikalisierungen, Hass und Hetze dominieren.
Befördert von Algorithmen, denen scheißegal ist, ob es sich um belastbare Nachrichten handelt oder nur um eine in Moskau fabrizierte Lüge, die die Nutzer bestärkt in dem Glauben, in der Welt herrschten Verschwörungen und Chaos und die Katastrophe sei unabwendbar.
Wer sich über den neuerlichen Wahlsieg Donald Trumps wundert, findet genau hier einen wichtigen Grund: Menschen, die die Realität nicht mehr sehen können, weil sie in ihrer nüchternen Faktizität in ihrer Medien-Blase nicht mehr vorkommt, sind nicht mehr frei. Sie folgen den Algorithmen und wählen der größte Feind ihrer Freiheit zum Präsidenten.
Auch weil sie die versprochenen Freiheiten so glauben, wie sie ihnen verkauft werden, auch wenn sie von Steuersenkungen für Konzerne, einer weiteren Deregulierung der Wirtschaft und einer Demontage des Staates und des Sozialsystems gar nichts haben. Aber sie sind alle erzogen worden im Glauben an die negative Freiheit. Worüber sich Snyder jede Menge Gedanken macht. Weil er auch aus der Außenperspektive sieht, wohin ein Land gerät, das so verbissen nur an die negative Freiheit vom „freien Markt“ glaubt.
Da muss er nicht einmal betonen, dass nur Menschen frei sein können. Märkte sind keine Menschen. Und sie funktionieren nur für die Freiheit aller Menschen, wenn sie reguliert sind, wenn der Staat dafür sorgt, dass „die Märkte“ nicht alles zerstören, was für unser Überleben unersetzlich ist.
Worum es eigentlich im Leben gehen sollte
Aber diese Außensicht hat Snyder eben auch, weil er sich seit über 30 Jahren intensiv mit der (ost-)europäische Dissidenz beschäftigt hat, mir Leuten wie Havel, die sich in der lethargischen Endphase des Sozialismus Gedanken darüber machten, worum es eigentlich im Leben gehen sollte. Was Staaten also ermöglichen sollten, damit allen Menschen ein erfülltes Leben offensteht. Gedanken, die eine spätsozialistische Parteienherrschaft nach der anderen in Osteuropa implodieren ließ. Und die heute noch immer genauso aktuell sind.
Das zeigen Snyder letztlich all seine Reisen in die Ukraine und die Gespräche mit den Menschen dort. Die sehr genau wissen, dass sie viel mehr verteidigen als nur ihr Land – nämlich die so schwer errungene Freiheit, ihr Leben selbst zu gestalten und dabei nicht von einem mächtign Autokraten gegängelt, schikaniert und verfolgt zu werden.
Das ist genau die Freiheit, die viele Westeuropäer einfach vergessen zu haben scheinen. Konservative Parteien haben sie von ihrer Agenda gestrichen und verstärken lieber das Gebrüll der autoritären Krachmacher, die den Leuten einreden, Schuld an ihrer empfundenen Unfreiheit seien andere Gruppen – Ausländer, Linke, Grüne, Schwule, Woke …. Die Label sind ja unendlich, mit denen diese Parteien immer neue Feindbilder schaffen – und dabei die Sicht auf die Wirklichkeit zukleistern, bis am Ende alle glauben, unsere Probleme wären gelöst, wenn wir nur alle „illegalen“ Migranten aus dem Land schmeißen.
Für wie blöd halten die uns eigentlich?
Es ist die negative Freiheit – ins Extrem gesteigert. Und Snyder zeigt auch – da ist er nun einmal ganz Historiker – wie so ein Denken in die Tyrannei des Faschismus und des Stalinismus geführt hat. Und zur Katastrophe für Millionen Menschen wurde, die von diesen Regimen entmenscht wurden – zu reinen Körpern gemacht. Ausgeschlossen, weggesperrt, umgebracht. Und da erkennt man nun einmal einen Mechanismus, mit dem Autoritäre Menschen zu Aussätzigen machen: Sie entmenschen sie, degradieren sie zu gesichtslosen Gruppen von Körpern (und schwadronieren gleichzeitig von einem Abstraktum wie dem Volkskörper). Der Hass entsteht aus dem Nicht-Berühren.
Neue Oligarchen
Und statt um echte politische Repräsentation für alle zu kämpfen, unterstützt man die Zerstörer einer repräsentativen Demokratie. Und die Heilsverkünder eines „freien Marktes“, die tatsächlich schon seit über 40 Jahren etwas vorangetrieben haben, was uns heute alle lähmt: Sie haben den Sozialstaat entkernt und die Umverteilung des Reichtums beschleunigt.
Sodass sich auch westliche Gesellschaften heute einer Clique Superreicher gegenüber sehen, die so reich sind, dass sie sich Macht geradezu kaufen können. Das, was man seit den alten Griechen Oligarchen nennt. Und die gibt es längst nicht mehr nur in Russland, sondern auch in den USA.
Sie haben auch die Macht, den gesellschaftlichen Diskurs zu zerstören und die Gesellschaft zu spalten. Oder um Snyder zu zitieren: „Unsere politischen Spaltungen ziehen uns von der Freiheit als Prinzip weg und erschweren es, zur Freiheit als Praxis zu gelangen. Diese Gräben haben sich durch den Zusammenbruch der Lokalberichterstattung, den Aufstieg der Oligarchie und die Reichweite der sozialen Medien verfestigt. Die Algorithmen treiben uns in sinnlose Kontroversen und weg von einer sinnvollen Diskussion über Prioritäten.“
Wer nicht mehr dazu kommt darüber nachzudenken, was er eigentlich aus seinem Leben machen könnte und was das Land lebendiger und gerechter machen könnte, der ist nun einmal unfrei und immobil, egal, wie schnell er über eine Autobahn rast. Der wird in dem Gefühl kleben bleiben, dass immer andere an seinem Schicksal schuld sind und allen möglichen Verschwörungstheorien auf den Leim gehen.
Und man fragt sich zu recht: Warum wird dann diese Fähigkeit zur Freiheit in den Schulen nicht gelehrt? Eine Frage, die sich auch Snyder gestellt hat. Der freilich auch weiß, dass kaputtgesparte Schulen diese Ermöglichung nicht bieten können. Schon gar nicht, wenn autoritäre Cliquen die Lehrpläne bestimmen und die Wissenschaft in Verruf bringen und für bloße „Meinung“ erklären.
Und vielleicht als abschließender Satz (obwohl sich hunderte aus diesem Buch dazu eignen würden): „Wir können nicht zur Freiheit gelangen, ohne mit den schlechten geistigen Gewohnheiten zu brechen und uns um die physischen Grundbedürfnisse zu kümmern.“
„Pflichtlektüre“, sagt Thomas Piketty zu diesem Buch. Dem darf man sich anschließen.
Timothy Snyder „Über Freiheit“ C. H. Beck, München 2024, 29,90 Euro.
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