Auch Leipzig gehört zu den Städten, die um das Jahr 1200 in Deutschland gegründet wurden. Fast alles Städte, die bis heute das Leben und die Geschicke des Landes bestimmen. Was natürlich verblüfft: Wussten denn die Stadtgründer damals schon, worauf es ankommt, eine florierende Metropole aus der Taufe zu heben? Gisela Graichen und Matthias Wemhoff versuchen in diesem Buch, die Lösung zu finden. Natürlich mit jeder Menge Archäologie, denn das ist ihr Steckenpferd.
Gisela Graichen ist als Fernsehjournalistin bekannt geworden durch die von ihr begleiteten historischen Dokumentationen. Matthias Wemhoff ist nach Stationen in Münster, Freiburg und Paderborn seit 2008 Landesarchäologie in Berlin. Und damit sind schon vier dieser Städte benannt, die damals gegründet wurden, die Wemhoff aus eigenem Erleben kennt und in denen vor allem in den vergangenen Jahren Aufsehen erregende Ausgrabungen stattfanden, die eine Menge über die Gründung dieser Städte erzählen.
Wobei Graichen und Wemhoff zum Einstieg natürlich noch ein anderes Phänomen beleuchten. Denn die Städtegründungen um 1200 sind ja nicht die frühesten Städtegründungen in Deutschland. Einige noch von den Römern gegründete Städte konnten längst ihren 2.000. Geburtstag feiern – Städte wie Köln, Trier, Aachen und Regensburg etwa, die natürlich auch beleuchtet werden in diesem Buch.
Denn auch sie erlebten eine neue Blütezeit genau in diesen drei, vier Jahrhunderten, die wir heute Mittelalter nennen – und das gern abschätzig, weil in unseren Leitgeschichten das „finstere Mittelalter“ tief verwurzelt ist.
Eine Zeit des Beginnens
Auch wenn es die Vorurteile der Neuzeit sind, die hier in eine Vergangenheit projiziert wurden, die ganz und gar nicht finster war. Im Gegenteil: Es war eine Zeit des Beginnens. Ganz Europa schien zu erwachen, gründete Städte, machte Erfindungen, begann beeindruckende Bauwerke, die bis heute faszinieren.
Und das war kein Zufall, denn es war auch genau die Zeit des mittelalterlichen Klimaoptimums, eines deutlich wärmeren Klimas, das so warm war, dass die Wikinger auf Grönland siedeln konnten und mit ihren Booten bis Amerika kamen. Die Weinanbaugrenze rückte bis nach Skandinavien vor. Die Landwirtschaft erbrachte deutlich höhere Erträge, mit denen mehr Menschen versorgt werden konnten. Die Bevölkerungszahl stieg.
Die Fürsten und Bischöfe konnten also daran gehen, das Land auszubauen. Und sie taten es auch. Sie ließen die riesigen Wälder fällen, die bis dahin das heutige Deutschland noch bedeckt hatten. Und sofort ist man mittendrin in der ökonomischen Dimension dieser Städtegründungen. Denn die frühen Städte verschlangen Unmengen an Holz – vor allem zum Bau der Häuser.
Denn es waren Städte aus Holz. Aber Holz wurde auch zum Heizen gebraucht, zum Bau von Schiffen, Kirchen und Karren und für den Bergbau – nicht nur als Stützholz für den prosperierenden Silberbergbau im Harz und im Erzgebirge, sondern auch (in noch größeren Mengen) zum Verhütten der Metalle.
Denn nun waren auch Metalle gefragt, nicht nur jede Menge Silbermünzen, mit denen die Fürsten ihren Landausbau finanzierten. Es wurden regelrechte Werbeagenturen gegründet, um Menschen anzuheuern, die zum Beispiel in die neuen Städte des damaligen Ostens zogen. Weshalb die jüngsten Ausgrabungen in Berlin so spannend sind, weil sie die Anfänge der Doppelstadt Berlin-Cölln sichtbar machen. Und eben auch dort zeigen, wie planmäßig die Städte damals angelegt wurden.
Die Konkurrenz der neuen Städte
Denn was eine richtige Stadt alles brauchte, um attraktiv für ihre Bewohner, für Handel und Wandel zu sein, das wusste man schon. Man lernte ja voneinander. Man musste voneinander lernen. Denn schnell hatten die Fürsten begriffen, dass nicht Burgen der Motor für den Reichtum ihres Landes waren, sondern Städte, die aus guten Gründen anfangs wie Burgen gebaut wurden – nämlich mit einer gut zu verteidigenden Stadtmauer. Denn wer über die entscheidenden Städte herrschte, der beherrschte das Land.
Was in diesem Buch besonders am Beispiel Heinrichs des Löwen und der Stadt Lübeck durchexerziert wird, die später auch zur führenden Stadt in der Hanse wurde, dem ersten mächtigen Städtebündnis, in dem das selbstbewusste Handelsbürgertum zeigte, dass weltliche Macht ihre Grenzen hatte, wenn reiche Handelsherren sich zusammentaten. Man staunt. Man darf staunen. Es ist nicht der einzige rote Faden, der bis in die Gegenwart reicht.
Das Wort planmäßig sitzt hier übrigens nicht an der falschen Stelle. Alle diese frühen Städte besitzen in der Regel noch heute ein geometrisches Straßenraster, an dem ablesbar ist, wie schon vor dem Bezug durch ihre neuen Bewohner die ganze Grundstruktur der Stadt festgelegt wurde – mit einheitlichen Parzellen und Quartieren und Platz für die Dinge, die jede neue Stadt haben musste: einen Markt, eine Stadtkirche, einen Friedhof.
Wobei einige Städte – wie etwa Münster – zeigten, dass die Stadtgründer auch dazulernten. Denn in Münster hatte man anfangs mit einem Straßenmarkt gleich an der wichtigsten Einfallstraße geplant – der aber schnell so überlaufen war, dass der Handel hier den Städtischen Verkehr regelrecht lahm legte. Andere Stadtplaner waren klüger und legten gleich einen großen rechteckigen Platz an, auf dem auch gleich noch die Buden und Lauben mit eingeplant wurden.
Die frühe Stadt und das (Bürger-)Recht
Eine Laube war dabei die wichtigste – auch wenn sie nur in wenigen Städten wirklich überdauert hat: die Gerichtslaube. Denn Gerichtsverhandlungen fanden im gesamten Mittelalter öffentlich statt – auf den Dörfern unter der berühmten Gerichtslinde, in den Städten in der Gerichtslaube, die sich zum Markt hin öffnete.
Es ist kein Zufall, dass auch Eike von Repgow, der Autor des „Sachsenspiegel“, seinen Platz im Buch findet. Denn in einem Land, in dem immer mehr wichtige Handelsrouten die blühenden Städte miteinander verbanden, war eine Angleichung der Rechtsprechung bitter nötig. Und die gelang Eike schon dadurch, dass er das bis dahin mündlich weitergetragene Recht der Zeit zusammenfasste und vereinheitlichte. Ein Schritt, der deutsches Recht bis heute prägt.
Und der natürlich wieder mit Handel und Wandel zu tun hat – und mit dem Stadtbürger, der von Anfang an mehr (Freiheits-)Rechte als der in der Regel leibeigene Bauer hatte. Denn die Mauern der Städte schützten nicht nur ihre Bewohner. Sie trennten auch das Äußere vom Inneren. Wer in der Stadt lebte, hatte Bürgerrechte (oder konnte sie, wenn er es schaffte, mehr als ein Jahr in den Mauern zu bleiben, erwerben).
Rechte, die von Anfang an stets mit (Grund-)Besitz verflochten waren. Denn vollwertiger Bürger wurde man erst, wenn man ein Haus in der Stadt besaß.
Selbstbewusste Bürger
Stück für Stück weiten Graichen und Wemhoff den Blick und zeigen, wie das neue Stadtrecht eben auch dazu führte, dass ein völlig neuer Stand entstand und auch entsprechend selbstbewusst auftrat: das Bürgertum, das sich ziemlich bald auch das Recht erkämpfte, eine eigene Stadtregierung bilden zu dürfen und den Fürsten in diesem Recht deutlich zu beschneiden.
Das war die Zeit, als die ersten Bürgermeister in den Akten auftauchten und am Markt die erst Rathäuser erschienen, meist hervorgegangen aus einem alten Handelskontor – so wie in Leipzig aus einem Haus der Tuchmacher. Die neuen (reichen) Bürger bestimmten jetzt die Stadtpolitik und schufen das Modell einer in Ansätzen demokratischen Selbstverwaltung, das viel, viel später auch zum Regierungsmodell des ganzen Landes wurde.
Aber Archäologen interessieren sich nicht nur für alte Urkunden. Viel interessanter sind für sie die Überbleibsel im Boden: die frühen Friedhöfe, auf denen man die ältesten Bewohner der Stadt samt ihren Grabbeigaben finden kann (und ihren Knochen, die ihre Essgewohnheiten und ihre Krankheiten verraten), die alten Keller, die sich oft unter dem Schutt späterer Stadtbrände erhalten haben, und vor allem die Latrinen, die oft wahre Fundgruben für die Forscher sind.
Denn da fielen oft nicht nur Dinge hinein, die ihre Besitzer schmerzlich vermisst haben dürften. Sie erzähle auch von den Seuchen der Zeit, von vertilgten Speisen und von der Hygiene dieser Zeit, die von den Stadtbürgern ja regelrecht wiedererfunden werden musste.
Auf die harte Tour, wie wir wissen. Alle Epidemien, die später die Städte heimsuchten (und das Ende des Hochmittelalters einläuteten), hatten mit dem fehlenden Wissen über Hygiene zu tun. Auch wenn manche dieser hygienischen Entdeckungen zum Beispiel über die Kreuzzüge ihren Weg nach Europa fanden – zum Beispiel die Badestuben, die dann in den Städten entstanden und Lust und Freud in die Mauern brachten. Schwerer taten sich die Städte mit der Fäkalienentsorgung, ein Thema, das sie tatsächlich erst im 19. Jahrhundert großflächig angingen.
Kirchen, Mediziner, Bettelorden
Vorher gehörte die Kloake hinterm Haus zum Normalerleben von Stadt – mit entsprechender Geruchsbelästigung. Gut gerochen hat es in den alten Städten wohl kaum. Und das Wasser aus dem Brunnen hinterm Haus trank man besser nicht. Fast beiläufig wird zudem das frühe Beleuchtungsproblem der Städte beleuchtet – mit einigen überlieferten Todesfällen von Leuten, die in der Dunkelheit die Grube stürzten und elendiglich zu Tode kamen.
Was mit dazu beitrug, dass das durchschnittliche Leben der Stadtbewohner relativ kurz war, geistlicher Beistand also bitter nötig. Und so beleuchten Graichen und Wemhoff auch die Genese der Stadtkirchen, der Friedhöfe, aber auch die der Bettelorden, die damals entstanden und sich mit Klöstern in den Städten ansiedelten.
Und weil so eine Stadtgeschichte auch heute noch männerlastig zu werden droht, widmen die beiden ein ganzes Kapitel den Frauen in dieser Zeit, die nicht nur als Nonnen und „Hübschlerinnen“ eine Rolle spielten, sondern ebenfalls neue Rechte gewannen und als Handwerksmeisterinnen und Handelsfrauen eine bedeutende Rolle spielen konnte. Als schriftkundige Nonnen natürlich auch. Da war Hildegard von Bingen nicht die einzige. Sie kommt im Kapitel der sich entwickelnden Medizin vor, die sich damals überhaupt erst einmal begann zu professionalisieren und zu verschulen.
Es war ja auch die Zeit der ersten entstehenden Universitäten, wenn auch noch nicht auf deutschem Boden, sondern in Italien. Aber diese Entwicklung war angestoßen und die ersten professionellen Ärzte tauchten an Fürstenhöfen und selbst bei reichen Kaufleuten auf, während sich das gemeine Volk mit einem Angebot aus Apothekern, Wundärzten und Barbieren bescheiden musste.
Wie Städte Landschaft prägen
Anfänge sind oft sehr chaotisch. Und manche Stadtgründung blieb auch in den Anfängen strecken, etwa wenn die Gründer die Strahlkraft ihrer Gründung überschätzt hatten oder den Neid des Nachbarn, der die Stadt vor seiner Nase nicht dulden wollte, unterschätzen. Eine der berühmtesten Städte, die dieserart in Flammen aufgingen, war ja Corvey.
Und natürlich stellen sich Graichen und Wemhoff die Frage, warum es ausgerechnet diese Städte aus der Zeit um 1200 waren, die bis heute die Landschaft in Deutschland prägen und in ihren Regionen die dominierenden Wirtschaftszentren sind. Hat ihre Lage ihre 800-jährige Laufbahn begünstigt? Oder ist es sogar andersherum: Haben diese Städte die Landschaft geprägt? So sehr geprägt, dass wir uns ein Deutschland ohne diese Städte gar nicht vorstellen können, weil diese Städte Deutschland sind.
Anders als die vielen kleinen Städte, die in den Folgejahrhunderten entstanden sind und den Raum zwischen diesen frühen Stadtgründungen auffüllten, die aber über die Rolle als Marktflecken und Ackerbürgerstadt selten hinauskamen. Gerade das ist die stille Spannung in dieser Erkundungsfahrt, die mit diesen frühen Stadtgründungen eigentlich erst sichtbar macht, wie unser heutiges Verständnis von Stadt, Freiheit und (Bürger-)Recht in dieser Phase des Hochmittelalters erstmals Struktur gewann.
Die meisten Stadtmauern sind zwar verschwunden, die Bürger leben nicht mehr in einer Burg. Aber viele Dinge, die damals entstanden, gehören bis heute zu unserem Selbstverständnis von Stadt und Bürger. Und vor allem merkt man, dass es viel spannender ist als auf alte, bröckelnde Burgen zu steigen, in diesen alten Städten nach Rathaus, Gerichtslaube, Marktplatz und dem Ort zu suchen, wo die jüngsten archäologischen Ausgrabungen gezeigt werden.
Stadt und Krisen
Manchmal findet man diese Ausgrabungen in ganzen zu besichtigenden Komplexen wie in Köln. Manchmal auch als Erinnerung an die damaligen jüdischen Gemeinden, die von Bischöfen und Fürsten regelrecht eingeladen wurden, in ihren Städten zu siedeln, weil sie die Profis des mittelalterlichen Handels waren. An dieser Stelle begreift man tatsächlich, dass der künstlich geschürte Antisemitismus von Anfang an einen ökonomischen Grund hatte: Man wollte die reiche Konkurrenz vernichten. Das hat sich im gesamten Antisemitismus bis heute nicht geändert.
Und den damaligen Brandstiftern fiel es leicht, den Leuten all die Schauermärchen in die Köpfe zu pflanzen, die bis heute immer wieder kolportiert werden. Noch so ein roter Faden bis heute. Kein angenehmer. Der aber eben auch sehr viel mit dem Ende des Hochmittelalters zu tun hat und der Panik in den Köpfen der Menschen, als die Krisen mit den hereinbrechenden Seuchen und der beginnenden Kleinen Eiszeit auch die Städte unter Druck setzten. Wobei zur Erkenntnis gehört, dass nicht alle Städte so leichtfertig den antisemitischen Panikmachern auf den Leim gingen.
Aber wer sich noch nie wirklich mit der Entstehung unserer heute so berühmten Städte beschäftigt hat, der findet hier eine sehr umfassende Handreichung, bei diesen mittelalterlichen Stadtgründungen geradezu dabei zu sein – vom ersten Tag an, wenn der vom Fürsten beauftragte Vermesser das Raster der Stadt auf den Acker zeichnet und der Fürst sich schon mal über all die Freiheiten Gedanken macht, mit denen er Handwerker und Händler in seine Stadt locken kann. Bis hin zu dem Versprechen, das dann sprichwörtlich geworden ist: „Stadtluft macht frei.“
Das vergisst man viel zu oft in unseren heutigen Städten, die ihre eigenen Krisen erleben, aber im Kern noch ganz ähnlich ticken wie die Städte des Hochmittelalters.
Gisela Graichen, Matthias Wemhoff „Gründerzeit 1200. Wie das Mittelalter unsere Städte erfand“, Propyläen, Berlin 2024, 29 Euro.
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