Der Titel klingt etwas nüchtern. Aber er passt natürlich zu dem Foto auf dem Cover, das auch in einer Ausstellung im Zeitgeschichtlichen Forum in Leipzig im Jahr 2001 schon für Aufsehen sorgte. Denn es zeigt einen Ausschnitt aus der Geschichte der DDR, den viele ältere Ausstellungsbesucher genau so noch bestens in Erinnerung hatten. Ein Land quasi auf den Punkt gebracht. Und damit steht das Foto exemplarisch für die Arbeit von 32 Fotografinnen und Fotografen, die mit diesem Buch gewürdigt werden.

Erstmals in dieser Form, auch wenn sie alle schon ihre repräsentativen Fotobände bekommen haben. Nicht in der DDR. Da waren alle diese Fotos vom realen Leben im „realen Sozialisamus“ offiziell nicht gern gesehen. Nicht in den Magazinen des Landes, nicht in Ausstellungen und nicht in Büchern. Diktaturen brauchen den schönen Schein, klatschen ein Land mit bunten Heldenbildern voll. Und glauben am Ende selbst an ihre Märchen vom Sieg der frohe Hoffnungen.

Aber in der DDR gab es über 100 Fotografinnen und Fotografen, die sich diesem Verdikt der schönen Heldenbilder nicht fügten und den Alltag im Land auf höchstem Niveau im (Schwarz-Weiß-)Foto festhielten. Vorbild dafür war in vielen Fällen die französische Dokumentarfotografie, die immer auch einen Eigenauftrag des Fotografen beinhaltete: Das Leben und die Wirklichkeit so zu zeigen, dass die Wirklichkeit darin auf den Punkt gebracht wurde. Nicht als Inszenierung, wie das in der offiziellen Fotografie erwartet wurde, sondern als aufmerksame Momentaufnahme des Alltags.

Das pure Leben

Das Ergebnis ist schon lange, dass niemand mehr in den Bilderwelten der einstigen DDR-Publikationen das Bild des wirklichen Lebens in der DDR sucht. Längst haben die im Selbstauftrag entstandenen Arbeiten der Fotograf/-innen diesen Raum gefüllt – in frappierender Dichte und Ernsthaftigkeit. Und es ist eine Fülle, die immer wieder verblüfft. Denn selbst wenn die Fotografen offiziell für Zeitschriften wie etwa die „Neue Berliner Illustrierte“ arbeiteten, blieben all ihre Aufnahmen, die sie neben den offiziellen Aufträgen sammelten, fast immer bis nach der „Wende“ unter Verschluss.

Der Kulturhistoriker Bernd Lindner skizziert in diesem Buch, wie die hier versammelten Fotografinnen und Fotografen arbeiteten und ihre Bildarchive anlegten, ohne zu wissen, wann alle diese Bilder jemals das Licht der Öffentlichkeit erblicken würden. Aber sie nahmen den Auftrag, den sie sich praktisch alle selbst erteilt hatten, ernst, gingen dorthin, wo das „pure Leben“ zu sehen war. Ein Buchtitel, den ja der Lehmstedt Verlag für zwei große Auswahlbände mit Fotografien aus der DDR wählte.

Auch wenn eine vollumfassende Übersicht selbst zwei dicke Fotobände sprengen würde. Auch Bernd Lindners Auswahl kann nur ein Ausschnitt sein, auch wenn er natürlich mit Arno Fischer, Gerhard Gäbler, Gerd Danigel, Roger Melis, Helga Paris, Evelyn Richter usw. die bekanntesten Fotograf/-innen dieses faszinierenden Genres vorstellt. Darunter natürlich viele Künstler, die einst an der HGB in Leipzig studierten, als hier die „künstlerische“ Fotografie zu einem festen Ausbildungsbestandteil wurde.

Die Kunst der Fotografie

Und als Künstler, also Foto-Grafiker, mussten sie sich lange Zeit verkaufen, wenn ihre Arbeiten überhaupt in offiziellen Ausstellungen gezeigt werden sollten. Und der Blick auf die von Lindner ausgewählten Fotografien bestätigt natürlich, dass Kunst dabei keine zu unterschätzende Rolle spielte. Denn einfach „draufdrücken“ und irgendetwas im Foto festhalten, das schafft keine Bilderwelten, die ihre Betrachter in den Bann ziehen. Gute Fotos, die so über die Zeit ihres Entstehens hinaus die Betrachter ansprechen sollen, sind mit dem Blick für das Ereignis aufgenommen, erzählen Geschichten. Und zwar sogar dann, wenn der Betrachter die genauen Umstände der Aufnahme und der Zeit gar nicht kennt. Umstände, die Lindner in den beigegebenen Texten mitliefert, die deutlich machen, warum diese Bilder aus dem Alltag, der Arbeitswelt, den Wohnverhältnissen oder der Jugendkultur noch weit mehr erzählen, als was man auf den Bildern sieht.

Da spricht der Historiker. Und hat natürlich recht: Neben der ästhetischen Faszination dieser Fotos, die die Menschen in ihrem konkreten Leben in Szene setzen, erzählen manchmal simple Details dem historisch Bewanderten, welche zusätzlichen Botschaften in diesen Bildern stecken. Oft ganz menschliche. Denn viele dieser Bilder entstanden im engsten Kontakt mit den Dargestellten, ob in den heruntergewirtschafteten Fabriken, in den Dörfern, auf der Straße.

Viele dieser „Straßenbilder“ stammen zum Beispiel aus Leipzig, wo Mahmoud Dabdoub und Harald Kirschner unterwegs waren, all jene Menschen abzulichten, die dort Schlange standen, ihre Trabis reparierten, Kohlen schleppten oder im engen Hinterhof Wäsche aufhängten. Rollenbilder werden sichtbar. Manchmal aber einfach nur die raue Rückseite dessen, was offiziell so gern als „Errungenschaft“ gefeiert wurde.

Und dazu kommt, dass die meisten dieser Bilder ganz und gar nicht entstanden, um den Traum vom Sozialismus vorzuführen. Die meisten leben von der unübersehbaren Neugier auf das, was wirklich geschah im Land, auf Menschen, die sich unter oft bedrückenden Verhältnissen trotzdem ihren Stolz bewahrten und sich mit simplen Mitteln ein lebenswerte Umfeld schufen. Dass der Mangel bis zum Schluss zum Alltag gehörte, war gar nicht die Frage.

Respekt und menschliche Würde

Aber die Fotoauswahl zeigt eben auch, dass es den Bewohnern dieses kleinen Landes – egal, ob es eine Erntebrigade älterer Frauen war oder eine Gruppe Schülerinnen im „Unterricht in der Produktion“ – letztlich immer um menschlich Würde ging. Den Respekt, den sie dafür erwarteten, dass sie sich in die Arbeit knieten. Vielleicht ist das sogar das Frappierendste, was viele dieser Fotos bis heute zeigen: dass es in einer Gesellschaft, egal wie arm sie ist, eigentlich immer um menschliche Würde geht. Das gilt bis heute.

Und dass Gesellschaften in die Krise geraten, wenn Menschen zunehmend das Gefühl bekommen, dass ihnen dieser Respekt nicht mehr entgegengebracht wird. Kaufen kann man ihn sich nicht, auch wenn das scheinbar 1990, im Jahr der deutschen Einheit, eine so zentrale Rolle spielte. Und gerade die Fotografien von den Arbeitsplätzen der Männer und Frauen zeigen, dass diese Würde aufs engste mit der Rolle der Arbeit verknüpft ist. Jene so gern propagierte Würde der Arbeit, die sich aber in der Parteipropaganda letztlich als leere Hülse erwies. Während selbst ausgelassene Betriebsfeiern davon erzählen, dass die Abgelichteten sich in ihrem Umfeld als Menschen fühlten, akzeptiert und respektiert.

Wenn man das weiter denkt, bekommt man eine Ahnung davon, warum die Treuhand-Politik derart zerstörerische Folgen hatte – nicht nur für das Selbstbewusstsein der Menschen, die bislang auch unter schäbigsten Bedingungen den Laden am Laufen gehalten hatten, jetzt aber aussortiert wurden, als wäre das alles nichts wert. Verständlich eigentlich, das für viele Ältere die DDR wie ein Gegenbild wirkt gegen eine Gesellschaft, die die Menschen in Mehr- und Minderleister teilt und die „Schuld“ für eine zerbrochene Berufskarriere den Betroffenen zuschiebt.

Auf Augenhöhe

So gesehen erzählt die Alltagsfotografie aus der DDR auch von einem Gegenentwurf, den der Arbeiter-und-Bauern-Staat selbst nicht erfüllen konnte. Der aber eigentlich das lebendige Herz dieses Landes war, in dem die Menschen sich eben nicht – wie das nach 1990 so gern behauptet wurde – „in ihren Nischen“ eingerichtet hatten. Diese Nischen gab es natürlich auch. Aber oft waren das – wie die im Buch vertretenen Berliner Kneipen – schlichtweg Orte, an denen man ohne Maske und Verstellung Mensch sein konnte. Und davon gab es eine Menge. Allein schon die Fotografien von Festen und Feiern in der DDR würden Bände füllen und eine Geschichte erzählen, die zu jüngeren Haupterzählungen über den Osten schlichtweg nicht passt.

Aber letztlich lädt Lindners Übersicht erst einmal ein, einen Teil der besten Dokumentarfotografinnen und -fotografen der DDR kennenzulernen, wenn man sie über die einschlägigen Bildbände noch nicht kennengelernt hat. Jeden und jede in den ganz persönlichen Handschriften und Haltungen gewürdigt, die Schwerpunkte der jeweiligen Arbeit herausstellend. Denn so vielfältig wie die hier vertretenen Persönlichkeiten waren auch ihre fotografischen Erzählweisen. Auch wenn sich alle in dem Wunsch vereinten, vom wirklichen Leben in diesem „untergegangenen Land“ zu erzählen.

Und das zu einer Zeit, als eine solche dokumentarische Fotografie im Westen kaum noch gepflegt wurde. Was nun einmal auch mit den ganz simplen menschlichen Beziehungen zu tun hat. Der berühmten „Augenhöhe“, mit der sich Menschen begegnen konnten. Die auch die hier vertretenen Fotografen erst aufbauen mussten. Vertrauen gab es auch in der DDR nicht geschenkt. Aber wo man offen und ehrlich miteinander umging, war dieses Vertrauen dann – wie man sehen kann – die Basis für Fotos, die eine sehr lebendige Welt zeigen mit Menschen, die sich gar nicht als Star auf der Bühne gerieren mussten, um dennoch in Würde zum Mittelpunkt aufmerksamer Aufnahmen zu werden.

Bernd Lindner „Die DDR im Gebrauchszusammenhang zeigen. Fotos aus einem untergegangenen Land“, Landestentrale für politische Bildung Thüringen, Erfort 2024. Das Buch kann unter www.lztthueringen.de/publikationen/ bestellt werden.

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