Kalender des Scheiterns sind eine Spezialität aus dem Hause Voland & Quist. Nico Semsrott war es, der zwei solcher Kalender zusammengestellt hat. Kalender, die gleich auf mehrfache Weise nicht veralten können. Sie sind an kein Jahr gebunden. Und die Spezies Mensch gibt sich ja alle Mühe, jedes Jahr neue Paradebeispiele kläglichen Scheiterns zu produzieren. Nun hat sich Francis Nenik in die Materie gestürzt und beweist, dass der menschliche Glaube, gescheit zu sein, das Scheitern geradezu nach sich zieht.
Ja, im Grunde dazu führt, dass die gesamte menschliche Zivilisationsgeschichte im Grunde eine Geschichte des Scheiterns ist. Nur dass gewöhnliche Historiker das in der Vergangenheit immer anders erzählt haben. Der Glaube, die Menschheit wäre auf einem unaufhaltsamen Weg des Fortschritts, hat sich festgefressen in den Köpfen. Er ist Grundlage von Politik, Wirtschaft und Heilslehren. Und nicht einmal den Redaktionen in den größeren Zeitungen fällt auf, dass mindestens die Hälfte aller ihre Nachrichten eigentlich vom Scheitern erzählen.
Mal aus Übermut, mal als Folge des Dunning-Kruger-Effekts, mal aus purer Eitelkeit, aus Größenwahn, Herrschsucht oder aus der simplen Unfähigkeit, die Folgen des eigenen Tuns kalkulieren zu können. Das passiert auf allen Ebenen. Und das Verblüffende ist, dass etliche dieser Versager trotzdem als Helden dargestellt werden.
Die Allmachtsträume der Unfähigen
Für gewöhnlich findet man die Geschichten des Scheiterns im Kurzmelder-Teil der Zeitungen: Erzählungen von stolzen Flugpionieren, die mit ihrer fliegenden Kiste abgestürzt sind, missglückte Spiele mit Feuerwerken, Rockstars, die sich beim Spiel mit der Pistole das Gehirn wegballern, Kriegsschiffkapitäne, die die Boote der Verbündeten abschießen, Rohstoffunternehmen, die beim wilden Bohren in der Pampa eine Umweltkatastrophe auslösen, oder Football-Spiele, die außer Rand und Band geraten, weil das Bier für 10 Cent verkauft wird oder ein durchgeknallter DJ unbedingt Katastrophenmusik spielen muss.
Das findet man natürlich in Neniks Kalender. Wenn es nur das wäre, könnte man vielleicht noch beruhigt schlafen. Das gehört zur alltäglichen menschlichen Komödie. Und dafür gibt es dann in der Regel den berühmten Darwin Award. Der zwar das Gegenteil dessen auszeichnet, was Charles Darwin mit seiner Evolutionstheorie gemeint hat. Aber auch Darwin hatte seine Erlebnisse des Scheiterns. Deswegen kommt auch er ein paar Mal vor in Neniks Kalender.
Der eigentlich ein Buch des Scheiterns ist. Weswegen es vielleicht nicht so gut ist, die Kalenderblätter tatsächlich abzureißen, denn ganz unten, da, wo abgerissen wird, stehen die ganzen Quellen, auf die Nenik zugegriffen hat. Gerade weil der Großteil seiner Beispiele des menschlichen Scheiterns aus der menschlichen Geschichte stammt. Aus der ja bekanntlich alle was lernen wollen, weil sie den Stoff aber nicht kennen, trotzdem nichts draus lernen.
Dummheit ist nun einmal beständiger und macht nicht so viel Mühe. (Und verkauft sich besser.) Man darf sich einfach blöd stellen, muss nur ordentlich Tünche auftragen und schon wird man US-Präsident. Das ist kein Problem. Demokraten sind da überhaupt nicht zimperlich, auch den größten Clown zum Chef-Experimentator zu machen und dann mal in närrischer Neugier zu warten, bis der Kerl den Laden in die Luft sprengt.
Staatsmännische Blödheitskunst
Und hinterher will es nie einer gewesen sein. Dann wird eben aufgeräumt – zumindest, wenn man das Experiment heil überlebt hat.
Dass das Scheitern eigentlich als klug eingeschätzter Staatsmänner einfach dazugehört, machen viele, sehr viele schöne Kalenderblätter deutlich – da scheitert ein Gorbatschow beim militärischen Versuch, Litauen kleinzukriegen. Da geht eine Bundesregierung aus Angst vor Ölknappheit eine verhängnisvolle Abhängigkeit von russischen Öl- und Gaslieferungen ein. Da blamiert sich ein Donald Trump, indem er mal wieder den Dänen Grönland abkaufen will, das die Dänen aber gar nicht verkaufen wollen. Da geht ein Napoleon mit ungenauen Karten in die Schlacht von Waterloo und wird vernichtend geschlagen …
Was einen daran erinnert, dass dieser kleine Gernegroß ja vorher schon lauter Patzer produziert hat, man denke nur an sein gescheitertes Moskau-Abenteuer. Das in diesem Kalender freilich nicht vorkommt.
Was aber auffällt, ist: Es sind fast alles Männer, die mal mehr, mal weniger grandios eigene und fremde Katastrophen heraufbeschwören und sich hinterher immer noch im Recht glauben. Kapitäne, die zu blöd sind, bei einer Schiffshavarie den Anker zu werfen, Präsidenten, die ihre komplette Dissertation bei anderen abgeschrieben haben und glaubten, das würde keiner merken. Piloten, die bei einem Flug über Sibirien ihre Kinder ans Steuer des Flugzeugs lassen. Polizeipräsidenten, die ein Frauentagsplakat verbieten und damit erst recht die wütenden Frauen auf die Straße bringen.
Nenik hat dutzende solcher Beispiele aus der Geschichte zusammengetragen. Und während die Vorderseite des Kalenderblattes die Geschichte knapp in ein paar Zeilen fasst, bietet die Rückseite dann die ganze Geschichte. Denn manchmal muss man auch noch die Genese des Vorfalls erzählen, damit man versteht, warum am Ende wieder ein Toter vermeldet werden musste. Oder ein Automodell scheitert, weil der gewählte Name zu blöd war. Oder ein Halloween-Spaß mit einem Blackout für 8.000 Haushalte endete.
Aber macht nur, möchte man sagen.
Dummheit produziert Schlagzeilen
Wobei so manches Scheitern auch davon erzählt, dass Mehrheiten von heute nicht die Mehrheiten von morgen sind – so wie bei dem von 1,2 Millionen DDR-Bürgern unterzeichneten Aufruf „Für unser Land“ aus dem Jahr 1989, der mit den März-Wahlen von 1990 schon Null und nichtig war.
Mal brennt ein Parlament ab, mal verirrt sich ein Wildnis-Forscher in der langweiligen Landschaft von Südengland, mal feiert das sächsische Innenministerium den Tag der deutschen Einheit mit dem SED-Händedruck. Momente, bei denen man merkt, wie sehr Gedankenlosigkeit und Leichtsinn bis in oberste Regierungsetagen zu finden sind und dort genauso ihr folgenreiches Leben führen wie unten bei den Narren, die sich mit giftigen Cocktails selbst medikamentieren oder auf U-Bahn-Schienen wilden Sex miteinander haben, weil sie sicher sind, dass hier kein Zug langkommt.
Manche dieser Peinlichkeiten sorgen dann für Monate für Schlagzeilen in den Medien – sei es der Abdruck der Hitler-Tagebücher im „Stern“, die dann als Fälschungen aufflogen, oder seien es die Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus 2021, die just am selben Tag stattfanden wie der Berlin-Marathon, der ganze Straßenzüge lahmlegte. Die Landeswahlleiterin wurde dann gefeuert. Aber was ist mit dem Burschen, der den Marathon organisiert hat?
Eine berechtigte Frage. Denn in der Regel muss man fragen „Wo steckt der Mann?“, wenn es um heillos missglückte Vorhaben geht. Denn es sind Männer, die so gern auf die zusätzliche Prüfung pfeifen, die es „einfach mal riskieren“ oder „drauf ankommen lassen“ wollen. Die ihren Plan einfach durchziehen. So wie bei der Eröffnung der ersten Bahnlinie zwischen Liverpool und Manchester 1830 – ohne vorher auszuprobieren, ob die Loks überhaupt den Berg hochkommen.
Scheitern als Grundmotiv der Geschichte
Letztlich wird Neniks Ausflug in die Geschichte des menschlichen Scheiterns eine anekdotische Untersuchung menschlicher Hybris. Und viele dieser Geschichten enden mit solchen beherzigenswerten Sätzen wie diesem: „Im Grunde ist es eine Frage der Perspektive, und die schließt, wenn sie für die Realitäten nicht taub ist, das Scheitern immer mit ein.“
Wenn man so auf die menschliche Geschichte schaut, wird man vorsichtiger. Und wundert sich nicht mehr, dass so viele unfähige Männer die einzelnen (Ruhmes-)Kapitel beherrschen. Eigentlich wünscht man sich dabei tatsächlich einmal ein richtig dickes Buch, in dem das Scheitern als Grundmotiv der menschlichen Zivilisation beleuchtet wird. Denn eins ist sicher: Selbst die allgemein bekannten Ereignisse mehr oder weniger grandiosen Scheiterns würden eine komplette Menschheitsgeschichte ergeben. Und die Leser – so wie mit diesem Kalender – vielleicht ein bisschen klüger machen.
Denn überlebt haben in der Regel die Vorsichtigen, die auch erst mal ein paar Leute um Rat gefragt haben und nicht gleich wie blöde losmarschiert sind, weil sie sich für unbesiegbar hielten. Oder die Sache einfach mal durchgerechnet hätten, bevor sie zum Beispiel den Wechsel des Kalenders beschlossen – so wie Karl XII. von Schweden 1712. Ja, das ist derselbe, der August den Starken besiegte und hinterher in Russland sein großes Scheitern erlebte.
Die chaotische Einführung des gregorianischen Kalenders in Schweden verursachte auch den schönen 30. Februar, den die Schweden damals bekamen und der diesen Kalender auf sagenhafte 367 Tage bringt. Karl XII. wird hier kurz mal zu Karl XIII. Aber dieser nun ging nicht als scheiternder Abenteurer in die Geschichte ein, sondern als der König, der lieber den französischen Marschall Bernadotte adoptierte, mit dem das schwedische Königshaus bis heute gesichert wurde (und Schweden 1813 bei der Völkerschlacht auf der richtigen, der Gewinnerseite stand – anders als die Sachsen).
Man merkt schon, dass Francis Nenik seinen Spaß mit den tatsächlichen Ereignissen der Geschichte hat. Und zwar gerade mit jenen Momenten, in denen die viel gefeierten Männer kläglich (aber erwartbar) scheiterten. Eigentlich eine Lektion, die man früh im Leben lernen könnte, wären wir nicht alle so besessen von den ganzen Siegern, Helden, Glorreichen und Narren, die auch in unseren Medien immerfort hofiert und gefeiert werden. Selbst dann noch, wenn sie lauter Bullshit zustande bringen. Nie gelernt haben, Fehler einzugestehen. Und mit Ihresgleichen trotz immer neuer Beweise der Unfähigkeit immer wieder gewählt und gehypt werden.
Mit diesem Nenik-Blick auf die Wirklichkeit bleibt einem das Lachen trotzdem im Halse stecken. Denn man weiß ja, dass das immer so weitergeht. Und zumindest ein beträchtlicher männlicher Teil der Menschheit nicht wirklich geneigt ist, etwas draus zu lernen.
Francis Nenik „Der gescheite(rte) Kalender“, Voland & Quist, Berlin 2024, 24 Euro
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