Die DDR entfernt sich immer weiter in die Tiefen der Geschichte. Damit verschwinden aber auch die Erinnerungen der Menschen, die in diesem Land gelitten haben. Die ins Zermürbungssystem der Stasi gerieten – so wie Peter Volkmann, der nach einem Physik-Studium in der DDR 1973 in den Westen floh. Doch was vor seiner Flucht geschah, das hat ihn nicht losgelassen. Aber wie verarbeitet man das, um der Geister der Vergangenheit Herr zu werden?
Er hat die Form des Romans gewählt und seine Geschichte stark verfremdet. Denn was ihm und seinen Freunden geschah, geschah so oder so ähnlich vielen anderen jungen Menschen in der DDR. Wobei er – im Unterschied zu vielen anderen Büchern zu diesem Thema – den Fokus verschiebt. Oder eher: den Blick weitet, sich nicht nur auf die Geschichte seines Helden Wolfram und seiner Freunde aus der Uni beschränkt, sondern auch die Stasi-Mitarbeiter handeln lässt, die im Hintergrund mit den Schicksalen der Menschen spielten wie mit Schachfiguren.
Ein Aspekt, der oft vergessen wird, wenn Autoren den Machtapparat des MfS zu einer großen dämonischen Maschine stilisieren, aber wenig Lusg verspüren, die hauptamtlichen Mitarbeiter dieses Überwachungsapparates selbst als handelnde und verantwortliche Menschen zu zeigen. Genau jene Menschen, die die Operationsprotokolle des MfS bis heute sichtbar machen, all diese Majore, Hauptmänner, Oberleutnants, die das Misstrauen, aus dem der Überwachungsapparat seine Existenzberechtigung zog, selbst produzierten.
Wahrscheinlich ganz ähnlich, wie es Volkmann in all den Kapiteln schildert, in denen er die Stasi-Leute erst die „konterrevolutionäre Gruppe“ von Studenten konstruieren lässt, um damit eine Handhabe zu bekommen, jedes einzelne Mitglied der Freundesgruppe dann ihren „Maßnahmen“ zu unterziehen.
Marionettenspieler
Das verbindet sich in Volkmanns Roman mit der Geschichte des Jungen Manfred, der im Kinderheim landet, nachdem seine Mutter schwer erkrankt ist. Es ist – das begreift er erst später – ein Stasi-Mitarbeiter, der ihn quasi adoptiert, nachdem seine Mutter gestorben ist. Und der ihn systematisch darauf vorbereitet, selbst Mitarbeiter der Stasi zu werden – und zwar als Informeller Mitarbeiter (IM) im Ausland.
Dazu braucht der junge Mann aber eine Legende. Und die Flugblattaktion seiner Freunde bietet sich geradezu an, ihm diese Legende eines Widerstandskämpfers zu verschaffen.
Zumindest ist sein Betreuer beim MfS der Überzeugung, dass das eine gute Gelegenheit ist, ihm genau diese Legende zu verschaffen. Mit Volkmann sitzt man regelrecht am Tisch der MfS-Offiziere, wenn sie ihre Pläne schmieden und gleichzeitig das Misstrauen vor Ihresgleichen ausleben. Denn dieser Apparat funktionierte wie ein sozialistischer Musterbetrieb: Er hatte seine Planzahlen und seine Belohnungen. Und Karriere machte man darin, wenn man genügend „Klassenfeinde“ entlarvte oder möglichst viele DDR-Bürger dabei ertappte, dass sie die Republik verlassen wollten. Und sie dann hinter Schloss und Riegel brachte. Bekanntlich seit den 1970er Jahren ein lukratives Geschäft für die DDR: Sie „verkaufte“ ihre politischen Gefangen regelrecht an den Westen.
So wie es Wolfram und seinen Freunden am Ende auch ergeht, nachdem sie bei dem Versuch, mit einem polnischen Fischerboot nach Dänemark zu fliehen, geschnappt wurden, noch am Anleger verhaftet von polnischen Grenzern, die ganz offensichtlich bestens Bescheid wussten über die Aktion. Es musste also einen Verräter in der Gruppe gegeben haben, auch wenn es noch viele Jahre dauern würde, bis Wolfram und seine Freundin Christine überhaupt verstehen würden, was für ein mieses Spiel da mit ihnen getrieben worden war.
Dem Apparat ein Gesicht geben
Ein Spiel, das ihnen nicht nur die bekannten nächtlichen Verhöre durch die Stasi-Offiziere einbrachte und eine dreijährige Haftstrafe. Es sorgte auch dafür, dass sie einander misstrauten. Denn: Wer hat hier eigentlich wen verraten? Wer hat sich dem MfS angedient und damit seine Freunde ans Messer geliefert? Und damit letztlich auch die Liebe von Wolfram und Christine zerstört? Und zwar mit Absicht. „Zersetzen“ hieß das im Jargon der Stasi.
Und bei Wolfram wirkt das lange nach. Es ist die Hartnäckigkeit von Christine, die ihm am Ende die Augen öffnet. Sie hat nach der Friedlichen Revolution keine Ruhe gegeben und alle erreichbaren Stasi-Dokumente gesammelt, um die Frage zu klären, die ihre Liebe zerstört hat. Sie war ja im Osten geblieben, während Wolfram sich im Westen eine neue Karriere aufgebaut und eine eigene Familie gegründet hatte. Und Wolfram reagiert hart und abweisend, als ihm Christine erstmals versucht klarzumachen, dass nicht sie die Verräterin war, auch wenn sie im Prozess zu dieser Aussage gezwungen worden war.
Am Ende begreifen sie dann, wer in ihrer Gruppe derjenige war, dem die Stasi mit dieser getürkten Aktion ein Alibi verschafft hat. Sie rücken sogar einem der damaligen Stasi-Offiziere auf die Pelle, just jenem Mann, der einst den kleinen Manfred unter die Fittiche genommen hatte. Aber die wesentliche Geschichte haben im Grunde schon die Stasi-Protokolle selbst erzählt. Die Volkmann freilich nicht einfach abdruckt, wie das in dokumentarischen Arbeiten meist der Fall ist.
Er versucht auch den Offizieren ein Gesicht zu geben, die hier über die Schicksale eine Gruppe von Studenten entscheiden, als wären Menschen für sie tatsächlich nur Marionetten, die man gebrauchen kann, wie es einem gerade in die Strategie passt. Nur zeichnet er diese Männer nicht alle in einem Schwarzweißschema, sondern lässt einige von ihnen auch zweifeln an dem, was sie tun, lässt sie um ihre Karriere bangen und sich vor ihren Vorgesetzten fürchten. Es ist gut möglich, dass es an den Beratungstischen des MfS ganz ähnlich zuging. Was die Struktur betrifft, ganz bestimmt.
Die Skrupellosigkeit der Macht
Und auch was die Methoden betrifft, mit denen Beziehungen zerstört, Misstrauen gesät, Lebenswege demoliert wurden. Volkmann mystifiziert den MfS-Apparat nicht. Aber er zeigt, wie die Macht, die diesem Apparat gegeben wurde, eben auch dessen Mitarbeiter korrumpierte und ihren Blick auf die Welt prägte.
Als Teil und Sachwalter der Macht waren sie ja regelrecht programmiert darauf, jede menschliche Regung als Angriff auf den Staat zu interpretieren. Und letztlich alle Skrupel zu unterdrücken, wenn sie die zu „Vorgängen“ gemachten Menschen drangsalierten und ihre Lebensträume zerstörten.
Kein Wunder, dass das Peter Volkmann auch Jahrzehnte später noch umtreibt. Ein Mann, dem eigentlich in der DDR eine ganz andere Karriere möglich schien. Denn geboren wurde er als Sohn einer Emigrantin und eines russischen Offiziers im berühmten Hotel Lux in Moskau. Er gehörte also eigentlich zur kommunistischen Elite des Ostens.
Und geriet trotzdem ins Visier der Stasi. Wobei sein Roman eben zeigt, wie sich so ein Gesinnungsapparat verselbstständigt, wenn ihm unumschränkte Machtbefugnisse verliehen werden. Und wie seine Mitarbeiter nicht einmal mehr Skrupel zeigen, wenn sie ihr Plansoll an „Diversanten“ und „Republikflüchtlingen“ erfüllen wollen.
Die stärkste Figur ist am Ende Christine, die sich von all dem nicht hat brechen lassen und sich auch nicht damit abfindet, dass Wolfram sie noch immer für eine Verräterin hält. Und damit wird sie eigentlich exemplarisch für die Menschen, die dann am Ende das ins Rollen gebracht haben, was wir Friedliche Revolution nennen. Die sich nicht haben verbiegen lassen.
So gesehen ist das auch ein Roman über eine Liebe, die auch die finstersten Zeiten überdauert hat. Und über eine herausfordernde Menschlichkeit, die auch nach dem Ende des grauen Ländchens nicht obsolet geworden ist. Im Gegenteil: Solche Menschlichkeit wird immer gebraucht. Gerade dann, wenn die Menschen mal wieder beginnen, die Schatten der autoritären Vergangenheit zu vergessen.
Peter Volkmann„Der Freund. Im Visier der Stasi“ Ellert & Richter Verlag, Hamburg 2024, 19,95 Euro.
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