Die Krisen von heute sind die Versäumnisse von gestern. Und der wieder wohlfeil dargebotene Nationalismus ist ein Korsett, das zusammenbinden soll, was gar nicht zusammengehören will. Deutschland ist längst ein zutiefst gespaltenes und zerstrittenes Land. Und selbst all jene, die von deutscher Kultur und deutschen Werten fabulieren, stranden in der Regel im Sumpf des Ungefähren. Aber wer sind wir dann, wenn wir uns als Deutsche irgendwie definieren wollen?
Der Kölner Autor Thomas Hilger hat sich der Frage gestellt. Gründlich und kritisch. Und er fängt gar nicht erst an, wo die gewöhnlichen Spurenleser anfangen, ein besonderes deutsches Wesen aus einer ziemlich diffusen Geschichte herauszudestillieren. Oder gar bei Schwerdenkern wie Nietzsche zu suchen, was die wohl dachten, was am Deutschen so Außergewöhnliches wäre.
Obwohl der simple Blick in jede Tagesberichterstattung zeigt, dass es nicht wirklich viel gibt, was dieses Völkchen zusammenbindet, nicht einmal die „Bio-Deutschen“ selbst. Eher scheinen alle in unterschiedliche Richtungen zu zerren und zu ziehen. Und selbst dann, wenn es eigentlich darum ginge, mal gemeinsam anzupacken und auch nur ein einziges der sich zunehmend anhäufenden Probleme zu lösen, bemühen sich die Meisten, den Karren gar nicht erst flott bekommen zu wollen. Ein großes Gemeinsames ist nicht in Sicht. Nicht einmal seit 1990. Die Ostdeutschen können ein Lied davon singen.
Sie erleben noch allemal, wie das ist, wenn man in dem scheinbar Gemeinsamen zum Anderen erklärt und herausdefiniert wird. Und sie sind nicht die Einzigen. Und das hat Gründe. Tiefliegende Gründe. Man könnte bis ins 19. Jahrhundert zurückgehen. Oder noch weiter. Aber Hilger belässt es bei der Nachkriegszeit, die genug Stoff bietet, über dieses fehlende Wir nachzudenken.
Ein Wir, das es zu erarbeiten gegolten hätte. Aber daran verschwendete nach dem Krieg niemand wirklich einen Gedanken. Man hatte ja das heute so gern beschworene Grundgesetz, das zumindest dem deutschen Westen eine gewisse Grundlage gab, sich auf gemeinsamen menschlichen Werten wieder zusammenzufinden – und gleichzeitig die Vergangenheit bestmöglich auszublenden. Man war ja – potzblitz! – über Nacht zum Demokraten gewandelt. Das Grauen und die Grausamkeiten waren abgespalten.
Beruhigungspille Wohlstand
Man besann sich lieber auf scheinbar unverfängliche Werte wie Ordnung, Disziplin und Fleiß. An die Stelle einer größenwahnsinnigen Ideologie, die das Land zwölf Jahre lang in Geiselhaft gehalten hatte, trat ein scheinbar völlig unverfänglicher Kanon der Belohnung: Fleiß und Zielstrebigkeit mündeten in einen wohlverdienten Wohlstand, der alle Gemüter beruhigte. Eine scheinbar durch und durch pragmatische Republik schien ihre Erfüllung im gemeinsamen Schaffen allgemeiner Zufriedenheit gefunden zu haben.
Dass das kein Kitt war, der wirklich hielt, machte die erste größere Wirtschaftskrise sichtbar. Genauso wie die Tatsache, dass es das große allgemeine Wir nicht gab. Aber es sollte noch schlimmer kommen. Und das zeichnet Thomas Hilger sehr akribisch am Beispiel dreier Kanzlerschaften nach, die die Bundesrepublik prägten und veränderten. Kanzlerschaften, in denen das diffuse Wir nur zu gern und nur zu oft beschworen wurde, in Wirklichkeit aber selbst das, was es zuvor noch an Verbindendem gegeben hatte, gründlich zerstört und abgewickelt wurde.
Mehrmals im Buch fallen die beiden Worte Gemeinsinn und Gemeinschaft. Das, worauf ein politisch artikuliertes Wir eigentlich hätte beruhen und das sie hätte stiften müssen. Denn das ist ja doch eigentlich Sinn von Politik: das Gemeinsame zu stärken, das Gemeinwohl zu pflegen.
Am Beispiel von Helmut Kohl demonstriert Hilger ausgiebig und genau, wie der ins Amt intrigierte große Kanzler die alte Bundesrepublik schon bis zur Unkenntlichkeit veränderte, mit zwei Strategien, die beide nicht darauf zielten, ein großes Gemeinsames zu stiften. Das eine war seine sogenannte „Geistig-moralische Wende“, das andere eine Wirtschaftspolitik, die mit dem Erhardschen Slogan „Wohlstand für alle” nichts mehr zu tun hatte.
Mit ihm zog der neoliberale Geist der Zeit ein in die Bundespolitik ein – und damit das, was die Nutznießer dieser Lehre des entfesselten Marktes bis heute als Wettbewerb verkaufen, von dem alle profitieren. Obwohl schon Ende der 1980er Jahre klar war, dass ein derart radikalisierter Wettbewerb nur Wenigen zugutekommt, dafür viele erleben, was es heißt, in einem rabiaten Spiel immer nur Luschen auf der Hand zu haben.
Die späten Folgen rabiater Weichenstellungen
Die Bundesrepublik von 1990 war schon lange nicht mehr die nach außen so gemütlich wirkende Republik der 1960er oder 1970er Jahre. Sie steckte längst in veritablen Sinnkrisen und noch im Herbst 1989 stand Kohls Kanzlerschaft auf wackligen Füßen, rebellierte selbst die CDU gegen Kohl.
Hilger erweist sich als aufmerksamer Zeitbeobachter, der nicht vergessen hat, wie sich Puzzle-Teil um Puzzle-Teil zusammenfügte – anders als die meisten Kommentatoren in Funk und Presse, für die die Geschichte augenscheinlich mit jeder Wahl von neuem beginnt. Was vorher war, interessiert nicht.
Und so verschwinden aus der medialen Kritik die großen Linien, sieht man nicht mehr, dass die heutigen Zustände das Ergebnis jahrzehntelange Fehlentwicklungen sind. Von politischer Ignoranz, falschen Zielsetzungen, irrem Glauben an die Wunderwirkung deregulierter Märkte oder einfach Feigheit vor wirklich gut überlegten Lösungen für tief liegende Probleme.
Das Denken, das unter Kohl in den Alltag der Deutschen kam, war ein zutiefst spalterisches Denken. Das bekamen all jene zu spüren, die nicht vom entfesselte Wettbewerb profitierten, die in den Billigjobs landeten, geheuert und gefeuert wurden, die die ganze gnadenlose Kälte eines Wirtschaftsdenkens kennenlernten, in dem den Geprellten und Geschassten nicht nur nachgerufen wurde, sie seien ja selbst schuld an ihrem Schicksal, sie wurden regelrecht ausgeblendet aus dem neuen „Wir“, das in dieser Zeit längst begonnen hatte, seine hässliche Kehrseite zu zeigen. Denn es war (und ist) ein ausgrenzendes Wir.
Wir schaffen das oder so
Dass dieses Wort dann sogar noch Furore machte, lag an Angela Merkel, die im Jahr 2015, in der Flüchtlingskrise, einfach mal so behauptete „Wir schaffen das“. Ein Satz, bei dem damals schon nicht klar war, wen sie mit diesem Wir eigentlich meinte. Sich selbst und ihre bräsige Partei, die schon seit Jahren alle brennenden Probleme des Landes einfach aussaß? Die Regierung? Den Staat? Das „Volk“?
Das blieb nachher genauso wenig greifbar wie im Moment des Behauptens. Eher machte es, wie Hilger sehr deutlich herausarbeitet, sichtbar, dass es überhaupt kein solches Wir gab, auf das sich Angela Merkel berufen konnte.
Tatsächlich war das Land schon damals zutiefst gespalten. Die „Plombe Wohlstand“, welche die Bundesrepublik über Jahrzehnte beruhigt und das demokratische Gefüge leidlich stabilisiert hatte, zerbröselte vor aller Augen. Und zwar genau so, wie es da steht: Brücken, Straßen, Schienen, Schulen, Krankenhäuser …
Der jahrzehntelange neoliberale Sparkurs zeigte Folgen. Der Wunderglaube an die einstmals mächtige Exportnation hatte sich für Millionen Deutsche in eine Erfahrung des permanenten Rückbaus staatlicher Versorgungsleistungen, der Verachtung, Ignoranz und Verleugnung verwandelt. Erstaunlich, dass weite Teile der Politik tatsächlich noch glaubten, man könnte den Leuten einreden, dem Land ginge es gut.
Hilger lässt auch Gerhard Schröder nicht aus, den Kanzler, der damit angetreten war, alles besser zu machen als sein Vorgänger Kohl. Doch in Erinnerung bleiben wird der SPD-Kanzler als Umsetzer neuer neoliberaler Zumutungen. Allen voran die gnadenlosen Hartz-Gesetze, die Millionen Deutschen (und darunter sehr, sehr vielen Ostdeutschen) klarmachten, dass es in der Bundesrepublik Bürger 1., 2. und auch 3. Klasse gab.
Dass sich eine Mehrheit der Ostdeutschen heute als Bürger 2. Klasse fühlen, spricht Bände. Das hat mit doppelten Abwertungserfahrungen zu tun, die so gern ignoriert werden. Das hat mit fehlender Mitsprache zu tun, mit fehlendem Eigentum und der Erfahrung von nun drei Jahrzehnten schönen Versprechungen, die dann, wenn es ums harte Geld ging, nie eingelöst wurden.
Wer profitiert von der Spaltung?
Und es erstaunt auch nicht, dass Hilger seit der langen Regierungszeit Helmut Kohls eine zunehmende Spaltung der Gesellschaft attestiert und registriert. Eine Spaltung, die politisch gewollt und forciert wurde, weil eine kleine, aber sehr einflussreiche Gruppe von Reichen und Superreichen davon profitiert. Auch von der politisch instrumentalisierten Verachtung für die „ganz unten“, über die die gnadenlosesten Politiker der Gegenwart ebenso noch und wieder ihre ganze Häme auskübeln und sie geradezu zu Schmarotzern der Gesellschaft erklären.
Dass sie damit im Gegenzug die Angst der Millionen schüren, selbst in diese Gruppe der Verachteten und Drangsalierten abzurutschen, scheint in den Köpfen dieser Politiker überhaupt kein Nachdenken zu bewirken. Und so bilanziert Hilger am Ende eben auch trocken, dass die AfD nun einmal nicht die Ursache der heute erlebbaren Spaltung der Nation ist, sondern schlichtweg ihr Ergebnis.
Entstanden in dem Moment, in dem ausgerechnet Angela Merkel den Malochern im Land zeigte, wen ihre Regierung eigentlich vertrat und bediente – das waren nämlich die zockenden Aktionäre und spekulierenden Banken, die damals in der Bankenkrise mit Milliardensummen gerettet werden mussten – Summen, die heute noch immer in der Verschuldung der Bundesrepublik Deutschland stecken und niemals abgebaut wurden.
Wobei Hilger der 16 Jahre lang regierenden Bundeskanzlerin vor allem ihre Unlust anrechnet, auch nur eines der längst offenkundigen Probleme im Land anzupacken und zu lösen. Sie gab einer wählenden Mehrheit das trügerische Gefühl, dass man auch regieren konnte, ohne irgendjemanden zu verärgern, etwas zu fordern oder gar mit Veränderungen zu überraschen. Das hat als Beruhigungspille 16 Jahre lang prima funktioniert – hat aber eben auch dazu beigetragen, dass alle überfälligen Reformen ausblieben und sich der Sanierungsstau im Land an allen Ecken und Enden auftürmte.
Notdürftig verwaltet
Und dann dieses hingesagte „Wir schaffen das“,, dem dann keine Taten folgen. Als hätte „die Mutti“, erwartet, dass ihre braven Kinder das nun auch noch irgendwie hinkriegen, wo sie doch schon alle vorherigen Zumutungen hingenommen hatten.
Dass dieses „Mutti“-Label aber nie wirklich zu der Frau passte, die Deutschland 16 Jahre notdürftigst verwaltete, das seziert Hilger genauso ausführlich, wie er Kohls „Wende“ analysiert und die Eitelkeit des Genossen Schröder, der knallharte neoliberale Politik betrieb und damit das Erbe Kohls ohne Gewissensbisse fortsetzte.
Und all die Jahre fand nicht ein einziges Mal eine gesellschaftliche Vergewisserung darüber statt, wer wir denn nun sind, wir Deutschen. Eine Diskussion, die schon 1990 überfällig war und damals mit kurzen Kohlschen Machtsprüchen einfach abgebügelt wurde (samt der Diskussion um eine gemeinsame neue Verfassung). Sodass es nicht einmal die Chance gab, das große Gemeinsame überhaupt zu definieren, das jetzt „zusammenwachsen“ sollte.
Aber tatsächlich nie zusammengewachsen ist. Nicht zusammenwachsen konnte, weil auch die Ostdeutschen mehr oder weniger hineingeworfen wurden in eine sowieso schon überdrehte Gesellschaft, die selbst gerade erst verinnerlicht hatte, dass es härter, rücksichtsloser, „wettbewerbsorientierter“ zuging und jeder selber zusehen musste, wie er irgendwie zurande kam.
Und da kamen auch noch die Ostdeutschen und wollten etwas abhaben vom (scheinbar) eh zu kleinen Kuchen. Ein Unding. Diese Vorwurfshaltung ist bis heute manifest. Auch weil es die alte Bundesrepublik genauso unterlassen hatte, für sich überhaupt ein Ideal des Gemeinsamen zu schaffen. Von den einst in der DDR Sozialisierten ganz zu schweigen, denen ein künstliches sozialistisches Wir übergeholfen worden war, in dem jeder nur funktionieren sollte, es aber ja nicht hinterfragen durfte.
Ein Nährboden für den Nationalismus
Und auf einmal landete der so tapfer sich selbst befreiende Osten in einer Gesellschaft, in der alles schrie: Ihr gehört nicht dazu. Es war nicht einmal die Mühe spürbar, das neue Gemeinsame irgendwie zu formulieren. Stattdessen wurde abgewickelt und verhökert. Und es steckte schon das fette „alternativlos“ drin, mit dem später Angela Merkel die Medien sedieren würde.
Obwohl nur ein bisschen Nachdenken genügt, um zu sehen, dass es auch damals Alternativen gab – nur nicht im knallharten marktgerechten Denken der Kohl-Regierung, die alles dafür tat, die Einheit als ihr Verdienst zu verkaufen und das Problem Ostdeutschland auf ihre Weise schnellstmöglich zu erledigen.
Nur dumm, dass man auf diese Weise zwar eine Wirtschaft platt machen kann, aber keine Gesellschaft befrieden.
Und so kann man Hilger durchaus folgen, wenn er Kohl, Schröder und Merkel sehr zentral verantwortlich macht für die zunehmende Spaltung des Landes und seiner verschiedenen Bevölkerungsteile. Eine Spaltung, die immer auch schon mit einem Bedienen uralten nationalistischer Ressentiments einherging und damit letztlich genau die Suppe ergab, in der die AfD als zentrifugale Kraft regelrecht wachsen und gedeihen konnte. Bis sie schon in den letzten Jahren der Merkel-Regierung sichtlich zur Gefahr für eine notdürftig ausbalancierte Demokratie heranwuchs, die sich ihrer eigentlichen Grundlagen niemals versichert hatte.
Jenes diffusen Wirs nämlich, aus dem nun einmal erst eine Arbeit am Gemeinsamen entstehen kann. Was mit den von der Union immer wieder propagierten „Werten“ überhaupt nichts zu tun hat. Dafür mit einer Gemeinschaft, die für alle funktioniert. In der sich die Politik darum bemüht, die für alle sichtbaren Probleme tatsächlich zu lösen (und Hilger kann mehr als eine Seite füllen, diese Probleme alle aufzuzählen – die mit der Deutsche Bahn beginnen und mit der Bildungspolitik nicht aufhören).
Probleme, die sich zu einem wahnwitzigen Berg aufgetürmt haben, weil drei Kanzlerschaften hintereinander keine Lust hatten, sie in Ordnung zu bringen, sondern – siehe Kohl – sie erst noch verschlimmert haben, weil sie das Land führten, als wäre es ein Großkonzern, in dem man nur den Aktionären ordentliche Boni geben muss. Die Belegschaft kann man ja rausschmeißen, wenn sie murrt.
Zeit für einen neuen Gesellschaftsvertrag
Im Grunde ist das der Knackpunkt, auf den Hilger gerade in Bezug auf Angela Merkel hinweist: Dass diese drei Kanzlerschaften das Land geführt haben wie einen Konzern und damit die Bürger gezwungen, wie Betriebswirte zu denken, während die gemeinsame Basis, auf der eine lebendige Demokratie hätte gedeihen können, mutwillig zerstört wurde.
Was dann bei Millionen Deutschen nachvollziehbar das Gefühl bestärkte, dass politische Teilhabe überhaupt nichts bringt, gar nicht gewollt ist und Politik immer nur für andere gemacht wird.
Logisch, dass es da kein wirkliches Wir zu finden gibt, egal, wie oft es Politiker beschwören. Und dass eine rechtsextreme Partei da einen herrlichen Nährboden vorfindet, auf dem sie wieder altes völkisches Denken als Ersatz anbieten kann für Menschen, die sich ausgegrenzt und verachtet fühlen und jedes Angebot nur zu gern annehmen, wieder irgendwas zu sein. Egal, ob dieses Etwas mit Inhalt gefüllt ist oder nur mit Lärm und Wut.
Und so steht Hilgers Mahnung am Ende des Buches berechtigterweise im Raum: „Diese in sich so haltlose und in Abermillionen unverbundene Teile zerrissene Nation muss sich vollkommen neu verorten und braucht einen komplett neuen Gesellschaftsvertrag – bevor sie endgültig kollabiert.“
Thomas Hilger„Wir? Kennzeichen einer deutschen Krise” Edition_, Köln 2024, 22 Euro.
Keine Kommentare bisher