Am 3. August 1944 starb Aurelia Wyleżyńska durch eine Kugel auf dem Heimweg von ihrem freiwilligen Dienst im Krankenhaus nach Hause. Es war der zweite Tag des Warschauer Aufstands. Über den die Journalistin dann nicht mehr schrieb in ihrem Tagebuch, das erst 2022 in Warschau im Druck erschien, nicht mehr schreiben konnte. Dabei war sie am 3. September 1939 extra zurückgekehrt nach Warschau, um vor Ort darüber zu schreiben, wie der Krieg Polen veränderte.
In zwei Versionen überdauerte ihr Tagebuch in den Archiven. Dafür hatte ihre Schwester Fela gesorgt, die ihr auch zuvor schon geholfen hatte, die Tagebuchnotizen auf der Schreibmaschine abzutippen. Dass es so lange dauerte, bis ihr Tagebuch dann 2022 endlich in einer ansprechenden Ausgabe erschien, hat natürlich auch mit den Wunden der Vergangenheit zu tun.
Die erfahrene Journalistin wollte nichts verschweigen und beschrieb den Alltag im besetzten Warschau mit nüchternem Blick – einem Blick auch auf die Schwächen der Menschen, ihre Verführbarkeit, ihren Opportunismus, auch ihren Verrat. Das kratzt am heldenhaften Bild, das man so gern von der eigenen Vergangenheit zeichnen möchte. Das ist nur zu verständlich.
Auch weil sich gerade mit dem Warschauer Aufstand eins der großen polnischen Traumata verbindet. Mit völlig unzureichenden Mitteln versuchte die polnische Heimatarmee in diesem Aufstand, die deutschen Besatzer zu vertreiben – und unterlag nach sechs Wochen Kampf. Was dem folgte, war eine der grausamsten Aktionen der deutschen Besetzer: Sie töteten über 100.000 wehrlose Warschauer als Rache für den Aufstand.
Was eben nicht bedeutet, dass nicht auch Aurelia Wyleżyńska schon von einem Grauen berichtet, das es so in einer zivilisierten Welt eigentlich nicht geben dürfte. Denn sie erlebte ja mit, wie die Deutschen sofort nach Besetzung der Stadt (die zuvor schon heftig bombardiert worden war und in großen Teilen in Schutt lag) begannen, die jüdischen Bewohner zu entrechten und ab 1940 in ein Ghetto zu zwingen. Jenes Ghetto, das 1943 ebenfalls mit einem Aufstand in die Geschichtsbücher einging, in dem die Eingesperrten den deutschen Bewachern von April bis Mai 1943 bewaffneten Widerstand leisteten. Auch sie völlig unzureichend bewaffnet.
Razzien, Propaganda, Erschießungen
Aurelia Wyleżyńska erlebte es fast hautnah – auch weil unter den Eingesperrten Freunde und Bekannte waren, denen sie zuvor noch helfen konnte, so weit das in ihren Kräften stand. Auch dadurch zeichnet sich ihr Tagebuch aus, dass es versucht, all die Veränderungen zu beschreiben, die auch in der eigenen Sicht auf die Vorgänge eintraten. Deswegen wurden die Einträge im Lauf der Zeit auch immer persönlicher, beschäftigen sich mit all den Schwierigkeiten des Alltags, die mit der zunehmend schlechteren Versorgungslage eintreten. Sie erzählt von ihren Wegen durch die Stadt, immer öfter zu Fuß, weil Straßenbahnfahren sogar gefährlich geworden ist.
Sie erzählt von den ersten Anschlägen auf polnische Kollaborateure, die von den deutschen Besatzern mit einer Vielzahl von Erschießungen beantwortet werden. Sie erzählt von Untergetauchten, denen auch sie immer wieder hilft, ein kurzfristiges Dach über dem Kopf zu bekommen. Sie selbst schreibt Beiträge für die Untergrundzeitung „Nowy Dzien“.
Aber sie weiß auch und beobachtet, wie das Misstrauen die ganze Stadt durchdrungen hat. Jeder ist gefährdet. Wem kann man noch trauen? Immer wieder kommt es zu Razzien, werden die Bewohner ganzer Häuser verhaftet.
Sie beobachtet auch, wie die deutsche Propaganda wirkt. Wirklich aktuelle Nachrichten aus dem Ausland sind kaum noch zu bekommen. Ausländische Zeitungen sind verboten. So werden die deutschen Zeitungen aufmerksam nach Nachrichten von der Front durchsucht. Die erhellend genug sind, wenn von siegreichen Rückzugsgefechten berichtet wird und heldenhaften Kämpfen längst wieder auf polnischem Gebiet.
Trost in einer trostlosen Zeit
Die Hoffnung schwingt mit, dass der Krieg bald endet. Doch man merkt auch, dass der Wille, alles tapfer zu beschreiben, was ihr geschieht, zunehmend einer Mutlosigkeit weicht. Aurelia Wyleżyńska ist auch nicht mehr die Jüngste, Krankheiten machen ihr zu schaffen, während das Gesundheitswesen in Warschau praktisch nicht mehr existiert.
Die Krankenhäuser sind von den Besatzern in Beschlag genommen, die polnischen Ärzte und Pfleger müssen immer wieder umziehen. Auch ihre Bekannten verlieren nach und nach den Mut: „Sie bitten ständig um Trost, und sei er gelogen“, schreibt sie am 22. April 1944. „Dass der Krieg bald endet, dass sie gesund und heil davonkommen, dass ihre Nächsten aus dem Gefängnis oder dem Lager zurückkehren. Ich habe diesen Zug – das Bedürfnis nach derartigem Rückhalt – beim Doktor bemerkt, bei Zuza, bei Maria. Früher bei Józef Mirski und Luna.“
Doch sie sieht auch, dass die Besatzer Angst bekommen: „Warschau wird zur Frontstadt. Auf vielen Häusern sitzen MG-Nester. Spanische Reiter schützen die deutschen Gebäude.“ Die Besatzer sitzen wie Aliens in der Stadt. Nur selten schildert sie Begegnungen mit ihnen. Doch im April 1944 deutet sich schon an, dass die Deutschen auch vor den Polen wieder Angst haben. Auch deshalb verstärken sie ihre Strafaktionen. „Eigentlich müsste man immer noch fragen, wer jetzt an der Reihe ist“, schreibt sie am 28. April.
„Jeden Tag hören wir nämlich von neuen Katastrophen. (…) Wenn ich die Mauern der Stadt sehe, die mit dem Anker aus dem Buchstaben ‚W‘ und dem daraus hervorwachsenden ‚P‘ übersät sind, denke ich: Immer weniger Hoffnung, für die Polen kämpft.“
P und W stehen für „Poska walczy“ – „Polen kämpft“. Oder auch, wenn man die Zeichenfolge umdreht, für „Wojsko Polskie“ – „Polnische Streitkräfte“, so wie sich die Aufständischen dann kenntlich machten beim Kampf gegen die Deutschen. Am 30. April berichtet sie von einem weiteren Vorboten des Aufstands: „Ein Panzerwagen war gestohlen worden und spurlos verschwunden.“
Leichen, Leichen …
Die Dinge einzuordnen, braucht es oft den Blick in die Geschichtsbücher. Und gerade deshalb sind die Tagebücher von Aurelia Wyleżyńska auch so erhellend: Sie zeigen, was man – abgeschnitten von der Welt und regulären Nachrichten – tatsächlich mitbekommt von dem, was in der eigenen Stadt passiert. Gerüchte machen die Runde. Manche stimmen, andere entpuppen sich erst später als falsch.
Dann und wann dringen Nachrichten aus dem europäischen Kriegsgeschehen auch in die Warschauer Stille. In der Stadt entstehen eigenständige Informationsdienste. Man vergisst es zwischenzeitlich beinah, dass die Polen ganz und gar nicht aufgegeben haben. Auch für Aurelia Wyleżyńska sind sie ein rebellisches Volk. Anders als die Deutschen, die das Gehorchen verinnerlicht haben.
Fast scheint es, als unterdrücke die Tagebuchschreiberin ihre Hoffnung, dass das Grauen bald endet. Sie bleibt bei ihrer zurückhalten Art zu berichten. „Entsetzliche Kämpfe in Frankreich, Appelle an die Stadtbevölkerung, sich auf dem Land in Sicherheit zu bringen. Ich hätte keine Kraft mehr zu fliehen. Leichen, Leichen … Die Mauer, die die Lipowa vom Universitätsgarten trennt, hat seit gestern eine Aufschrift, so groß, dass Fela sie vom Balkon lesen kann: ‚Zu den Waffen. An Die Front.‘“ Noch so ein Vorbote des Warschauer Aufstands.
Dass vieles scheinbar nur gestreift scheint in den Tagebucheinträgen, hat auch damit zu tun, dass das Tagebuch, fiele es den Deutschen in die Hände, gefährlich werden würde. Sie will niemanden gefährden. Selbst eine Schreibmaschine darf sie eigentlich nicht besitzen. Doch sie ermutigt sich selbst immer wieder. Sie will berichten, so wie sie es Tag für Tag erlebt. Augenzeugin und Journalistin bis zuletzt. Ohne dass sie weiß, ob sie das Ende noch erlebt. Doch von ihrem Tagebuch hofft sie, dass es unbedingt veröffentlicht werden soll nach dem Krieg, nicht ahnend, wie lange es dauern würde.
Die Schuld des Tagebuchs
Noch am 21. Juni 1944 schreibt sie, sich der Grenzen ihrer Möglichkeiten nur zu sehr bewusst: „Die Schuld des Tagebuchs, dieser Gedanke kam mir gerade in den Sinn, liegt darin, dass es mangels stilistischer Schönheit keine literarischen Würden beanspruchen kann, aber auch keine ausreichend gesicherten Informationen enthält. Man hätte jede einzelne vor der Niederschrift auf ihren Wahrheitsgehalt prüfen müssen. Dann hätte es das Gewicht einer kritisch gefilterten Stimme des Augenblicks.“
Tatsächlich hat es dieses Gewicht gerade deshalb. Auch wenn Fußnoten dann erklären müssen, was sie wahrgenommen und aufgeschrieben hat. „Der Mensch ist kein Held“ hat Karolina Kuszyk ihr Vorwort betitelt, in dem sie Aurelia Wyleżyńska vorstellt, die vor dem Krieg nicht nur als Journalistin arbeitete, sondern auch enge Kontakte zur literarischen Welt pflegte.
Auch das muss man mitdenken beim Lesen ihrer Tagebucheinträge: Wie so viele andere erlebte sie ja, wie Polen nach einer jahrhundertelangen Fremdbestimmung nach dem Ersten Weltkrieg endlich eine eigenständige Nation wurde. Viele Jahre hatte sie in Paris gelebt. Doch im September 1939, als die Deutsche Wehrmacht Polen überfiel, flüchtete sie nicht, sondern reiste extra nach Warschau, um die Geschehnisse mit eigenen Augen zu sehen und festzuhalten.
Und so entstand ein natürlich zutiefst individueller Bericht mitten aus dem Herzen des besetzten Polen. „In weiten Teilen sind die ‚Kroniki wojenne‘ ein historisches Dokument der deutschen Besatzung und ihrer lebenspraktischen Auswirkungen an den Orten, an denen Wyleżyńska lebte, das heißt vor allem in Warschau und in Wielgolas, wo Besetzte und Besatzer zeitweise unter einem Dach zusammenlebten“, schreibt Herausgeber und Übersetzer Bernhard Hartmann in seiner Einleitung.
Der auch schildert, warum eine Drucklegung dieser Tagebücher in Polen so lange brauchte, denn sie schilderte eben auch die Lebenswirklichkeit im besetzten Warschau, „die psychologischen Auswirkungen der Besatzung auf den Einzelnen und die Gesellschaft“, „das Aufweichen moralischer Normen des Zusammenlebens“. Das sind Themen, die die Überlebenden, die das Trauma von Krieg und Vernichtung überstanden haben, nicht unbedingt als Erstes thematisieren wollen. Obgleich es wichtig ist. Denn es zeigt, was ein brutales Besatzungsregime auch in den Köpfen und Verhaltensweisen der Menschen anrichtet.
Das stille Grauen
Und da wir als Leser das so aus der Perspektive einer zutiefst betroffenen Warschauerin erfahren, wird es eigentlich noch bedrückender. Am 5. Mai 1944 zitiert sie ihren Gesprächspartner Stanislaw Koczorowski: „Koczorowski sagt, er hasse die Deutschen am meisten dafür, dass sie derartigen Hass gegen sich in ihm erzeugten. Ich hasse sie am meisten dafür, dass sie nicht nur in Bezug auf sich, sondern insgesamt so viele niedere Gefühle in den Menschenseelen weckten. Diese Saat wird bleiben.“
Sätze, die noch schwerer wiegen, wenn Aurelia Wyleżyńska immer häufiger darauf verweist, dass der Umgang der Deutschen mit den Juden nur der Anfang gewesen sein dürfte. Denn dasselbe würde mit den Polen passieren, wenn die Deutschen den Krieg gewinnen würden. Feststellungen, die mit unerbittlicher Schärfe in unsere Gegenwart verweisen. Aus Worten werden Taten, wenn man die Menschenfeinde an die Macht kommen lässt. Eigentlich sollten wir das doch gelernt haben aus dieser Geschichte.
Die Erschütterung über das, was Aurelia Wyleżyńska schreibt, tritt fast leise ein, man spürt sie nicht beim direkten Lesen, auch wenn Aurelia Wyleżyńska ihre Notizen oft in hektischer Eile geschrieben haben muss. Doch wenn dann aus den scheinbar so nüchternen Worten das langsam begreifbar wird, was sie tatsächlich beschrieben hat, dann wird das Grauen spürbar, das die Autorin in ihren fünf Jahren im besetzten Warschau erlebt hat.
Was hier jetzt hier auf Deutsch vorliegt, ist eine Auswahl, die vor allem den Alltag von Aurelia Wyleżyńska in den Mittelpunkt rückt, all das, was sie erlebte in der besetzten und geschundenen Stadt Warschau. Die so notwendige Innensicht also, die erst deutlich macht, wie die deutsche Besatzung auf jene wirkte, die sie erleiden mussten.
Aurelia Wyleżyńska „Über nichts schreiben, als was meine Augen sehen. Tagebuch aus dem besetzten Warschau 1939 – 1944“ Ch. Links Verlag, Berlin 2024, 24 Euro.
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