Befindet sich Deutschland im Krieg mit Russland? Darüber reden und reden Talkshow-Gäste und Kommentatoren immer wieder – zutiefst verunsichert, weil das ja aus deutscher Sicht nicht der Fall ist. Aus russischer aber schon. Und das schon seit langem. Schon weit vor dem Ukraine-Krieg nahmen russische Trollfabriken, Geheimdienste und Staatsmedien Deutschland und die EU ins Visier und begannen den propagandistischen Teil dessen, was Militärexperten einen hybriden Krieg nennen.

Ein Krieg, der auf russischer Seite mit Milliarden Euro finanziert wird, während gerade die deutsche Regierung noch nicht so richtig zu begreifen gewillt scheint, wie massiv die digitalen Angriffe auf Deutschland schon lange sind. Und gerade weil diese Naivität so langsam erschreckt, haben der ehemalige Diplomat Arndt Freytag von Loringhoven und Leon Erlenhorst, der sich beruflich mit den Funktionsbedingungen von Propaganda beschäftigt, entschlossen, dieses Buch zu schreiben. Als Mahnung. Es ist höchste Zeit, zu handeln.

Vielleicht auch erst einmal höchste Zeit zu verstehen, was da abgeht. Und wie Moskau in den vergangenen Jahren aufgerüstet hat, um die westlichen Demokratien dort anzugreifen, wo sie besonders verwundbar sind – bei der Meinungsfreiheit. Denn das wussten auch schon die roten Generalsekretäre, wie man mit Propaganda Menschen manipulieren kann. Nach innen, sodass das Staatsvolk gehorcht und mitmacht. Und nach außen, um den auserkorenen Feind zu schwächen.

Denn was bei all den Aufrufen zum schnellen Frieden, die in Ostdeutschland sogar Wahlen entscheiden, immer wieder ausgeblendet wird, ist der nüchterne Blick auf den heutigen Zustand des russischen Imperiums, das nicht erst 2014 in der Ukraine begann, aggressiv gegen seine Nachbarn vorzugehen. Nur hat Europa die militärischen Einmärsche in Tschetschenien und Georgien zuvor lieber ausgeblendet – alles zu weit weg.

Aggressive Großmacht-Träume

Aber mit der Ukraine berührte die russische Aggression Europa direkt. Der Überfall war kein plötzlicher Einfall, sondern ist Teil der Putinschen Strategie, Russland wieder zu einer Großmacht zu machen, wie es das bis 1989 war. Und dazu gehört – mindestens seit 2012, wie die beiden Autoren feststellen, eben auch die systematische Schwächung „des Westens“. Exemplarisch schon 2016 vorgeführt im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf und im gleichen Jahr in der britischen Brexit-Kampagne.

Systematisch beleuchten die Autoren noch einmal all die Skandale, bei denen direkte und indirekte russische Einflussnahme in die Politik und die Wahlkämpfe westlicher Staaten zum medialen Thema wurden. Die massive Einflussnahme auf die Unabhängigkeitsbestrebungen Schottlands und Katalonien gehören genauso dazu wie die massive Beeinflussung der französischen Wahlkämpfe. Fast vergessen – aber trotzdem noch immer aktuell – sind die Hackerangriffe auf Bundestagsrechner und die IT-Systeme deutscher Parteien.

Mehrfach können von Loringhoven und Erlenhorst betonen, dass all diese publik gewordenen Vorfälle nur die Spitze des Eisbergs sind. Im Kapitel 15 ziehen sie eine Bilanz ihrer Untersuchungen, in denen sie auch auf den Punkt bringen, worum es Russland geht, wenn es inzwischen Deutschland digital so massiv angreift wie kein anderes Land der EU, denn im Kreml weiß man ganz genau, dass Deutschland aufgrund seiner Wirtschaftsmacht das Herz der EU ist.

Hier entscheidet sich, ob und wie sehr die EU-Länder weiterhin die Ukraine in ihrem Kampf gegen den russischen Aggressor unterstützen. Wer Deutschland schwächt, schwächt die EU. Aber es geht nicht nur um die Ukraine. Es geht um die langfristige Schwächung der EU.

Penetrante Untergangserzählungen

Wer sich noch immer darüber wundert, woher die Flut von Niedergangs- und Untergangserzählungen in Deutschland stammt, der darf sicher sein, dass das Meiste direkt aus russischen Trollfabriken stammt. Oder von RT Russia, das zwar aufgrund seiner russischen Kriegspropaganda in Deutschland nicht mehr senden darf.

Aber russische Propaganda profitiert davon, dass das Internet die ganze Welt umspannt und RT alle Länder der Erde bespielen kann – jedes einzelne mit gezielten Narrativen, die russische Politik als Medizin gegen die Übermacht des Westens verkaufen. Von „russlandfreundlichen“ Kanälen und Influencern in Deutschland, de diese Geschichten duplizieren und weiterverbreiten, ganz zu schweigen.

Aber einfach mal zur direkten Einflussnahme in die inneren Angelegenheiten Deutschlands zitiert: „Die russischen Manipulationen stehen den Bemühungen der Beeinflussung der US-Präsidentschaftswahl 2016 weder im Umfang noch im Grad der Einmischung nach. Russland fördert die AfD, manipuliert im großen Stil unsere gesellschaftlichen Debatten – von der Pandemie bis zum Ukraine-Krieg – und fördert systematisch das Misstrauen in Staat und Medien.“

Und das kann es auch deshalb ungehemmt tun, weil sich keine staatliche Instanz bemüßigt fühlt, die großen IT-Plattformen, auf denen zehntausende aus Russlands gesteuerter Bots die russischen Narrative verbreiten, zu regulieren und ihnen auch nur ein Mindestmaß an Moderation aufzunötigen. Wie diese Bot-Armeen funktionieren, erläutern von Loringhoven und Erlenhorst genauso wie die Wirkungsweisen russischer Propaganda, die schon lange nicht mehr so hölzern daher kommt wie zu Stalins Zeiten.

Denn auch Geheimdienste (zu deren Kriegsführung Desinformation und Diversion schon von Natur aus gehören) und staatliche Propagandaabteilungen lernen dazu. Das 20. Jahrhundert war ein einziger Lernprozess, wie man Gesellschaften manipulieren, verunsichern und spalten kann. Und so findet man kein einheitliches Bild russischer Narrative im Westen.

Aber darum geht es auch nicht. Es geht vor allem um das Schüren von Misstrauen, um Spaltung und Schwächung. Und parallel um die Stärkung radikaler Parteien, die – wie die AfD – nur zu gern russische Propaganda-Narrative übernehmen. Im Kapitel „Moskaus langer Arm: Ein Manifest für die AfD“ schildern die Autoren auch, dass es wohl nicht nur um zufällige Übernahmen geht.

Denn reihenweise sind Formulierungen aus diesem in Moskau fabrizierten Manifest längst in Reden und Wortmeldungen von AfD-Funktionären aufgetaucht.

Auch die NZZ hat sich mit dem Thema eingehend beschäftigt. Hier ein Video dazu:

In den Blasen der Propaganda

Manch einer, der in den sogenannten „sozialen Medien“ diesen Behauptungen begegnet, dürfte vielleicht erschrocken sein, woher sie stammen. Dass sie mit der deutschen Realität kaum etwas zu tun haben, sehen ja viele nicht, die längst in den Blasen der Algorithmen gefangen sind, die ihnen russische Propaganda rund um die Uhr frei Haus liefern.

„Das Dreiseiten-Papier, das uns vorliegt, malt den Zustand Deutschlands in dunklen Farben. Es spricht von einer Deindustrialisierung und der Abwanderung großer Unternehmen aus Deutschland. Die deutsche Bevölkerung liege im Sterben. Mehr als 30 Prozent der Menschen lebten unterhalb der Armutsgrenze. Die innere Spaltung des Landes nehme zu.“ Usw.

Desinformation lebt davon, dass immer auch ein Körnchen Wahrheit darin steckt. Moskau beobachtet sehr genau, was in den Ländern des Wertens passiert. Wenn man das Körnchen Wahrheit dann mit Übertreibungen und Lügen vermischt, kommt ein Cocktail heraus, der all die Menschen, die sowieso schon von der Informationsflut überfordert sind, geradezu hilflos macht.

Was stimmt denn nun? Erst recht, wenn die gleichen Kanäle jeden Tag mit immer neuen Vorwürfen an die „Mainstream“-Medien geflutet werden, denen dann Einseitigkeit oder gar staatliche Steuerung vorgeworfen werden.

Und wenn nicht einmal erkennbar ist, woher das kommt. Denn die Trolle des Kremls arbeiten ja nicht unter Klarnamen, sondern mit zehntausenden gefälschten Profilen, mit Bots, die permanent damit beschäftigt sind, Meldungen, Kommentare und Verweise zu multiplizieren und in die Diskurse zu drücken. Und längst hat man auch in Russland die KI entdeckt, die die Einflussnahme auf westliche Diskussionen geradezu beschleunigt hat.

In Sekundenschnelle kann so auf aufflammende Diskussionen Einfluss genommen werden, werden Positionen verstärkt, die Kreml-Narrative bestärken, Emotionen geschürt und sachliche Beiträge übertönt und aus den Aufmerksamkeitsmustern der Algorithmen verdrängt.

Manipulation in fragmentierten Informationswelten

Wie stark dies Einflussnahme wirkt, kann mittlerweile auch statistisch nachgewiesen werden – etwa bei den Zustimmungswerten deutscher Bürger zu russischen Narrativen zum Ukraine-Krieg (Stichworte: „Putin konnte gar nicht anders“, „die NATO ist schuld“, „die Ukraine war nie ein eigenständiges Land“, „in Kiew regieren Faschisten“ usw.)

Propaganda wirkt, wenn sie den Informationsraum dominiert und die Empfänger gar nicht mehr merken, dass sie eigentlich nur noch in einer Informationsblase unterwegs sind, in der sich alles gegenseitig bestätigt. Vergessen, dass funktionierende Medien ihre Nutzer auch mit kontroversen Meinungen konfrontieren und der demokratische Diskurs erst dadurch lebt, dass Menschen unterschiedlicher Haltung miteinander in den Diskurs kommen. Wozu es verifizierbare Fakten braucht.

Vorbei sind die Zeiten, dass plumpe Propaganda mit einzelnen Parolen regierte. Das Internet und vor allem die unregulierten IT-Plattformen haben eine völlig neue Informationswelt geschaffen, in der klassische, seriöse Medien keine Gatekeeper-Funktion mehr haben, sondern jene die großen Reichweiten erzielen, die mit Emotionen spielen, Aufregung, Skandale, Wut und Hass erzeugen.

Ideale Spielwiesen für die Desinformations-Kampagnen autoritärer Regime, die damit direkt in die inneren Angelegenheiten westlicher Staaten eingreifen.

„Der öffentliche Diskurs in Deutschland kann nicht durch die Verbreitung von einzelnen propagandistischen oder desinformativen Mitteilungen manipuliert werden – gefährlich wird es, wenn diese Mitteilungen tausendfach pro Tag verbreitet werden“, schreiben die beiden Autoren. „Bei der vom Auswärtigen Amt aufgedeckten Kampagne waren es 50.000 KI-gesteuerte Bots, die täglich hunderttausendfach Propagandamitteilungen verbreiteten.“

Wirksame Narrative

Und wer sich darüber wundert, warum in deutschen sozialen Netzwerken vor allem die grüne Außenministerin Annalena Baerbock verunglimpft und für unfähig erklärt wird, der darf sich sicher sein: Auch das kommt aus der russischen Propagangskiste. Denn anders als ihre männlichen Vorgänger im Außenministerium ist Baerbock Moskau gegenüber zutiefst kritisch eingestellt. Welche Vorgeschichte das hat, haben ja Reinhard Bingener und Markus Wehner in „Die Moskau-Connection“ beschrieben.

Das müssen von Loringhoven und Erlenhorst also nicht noch einmal ausführlich darstellen, auch wenn es ebenso schon zur massiven Einflussnahme Russlands auf die deutsche Politik – und die Schaffung schwerer wirtschaftlicher Abhängigkeiten – gehörte. Auch da spielt Moskauer Propaganda schon eine zentrale Rolle. Propaganda, die mehrere deutsche Regierungen geradezu blind gemacht hat für die zunehmende Aggressionsbereitschaft des Kremls. Entsprechend zahm fielen ja dann die deutschen Reaktionen 2014 auf die Annexion der Krim und der Gebiete um Donezk und Luhansk aus.

Ein Trauma, von dem sich insbesondere die SPD bis heute nicht erholt hat. Während gleichzeitig die Beeinflussung der deutschen Wähler weiter geht. Denn natürlich sind sie für einige Narrative besonders empfänglich – etwa das Friedens-Narrativ, das die Schuld an der Eskalation bei der NATO verortet und den Nutzern der völlig enthemmten Netzwerke tagtäglich neue Ängste bereitet, der (heiße) Krieg könne sich auch auf Deutschland ausbreiten oder gar in die atomare Eskalation führen.

Alles Drohungen, die direkt aus dem Kreml stammen und die Deutschen vor allem entmutigen sollen, der Ukraine in ihrem Verteidigungskampf weiter beizustehen.

Eine Frage der nationalen Sicherheit

Und während andere Länder – wie Frankreich und Schweden – längst schlagkräftige Institute gegründet haben, die vor allem die Aufklärung russischer Aktivitäten im Internet vorantreiben (zu denen längst auch geballte Angriffe auf lebenswichtige Infrastrukturen gehören), scheint Deutschland diese digitale Kriegsführung gegen die Demokratie bis jetzt immer noch nicht ernst zu nehmen.

Im Fazit werden die beiden Autoren dann sehr deutlich: „Deutschland tut viel zu wenig. Es fehlt die Einsicht und der politische Wille, das Problem der Propaganda und Desinformation endlich ernst zu nehmen und entschiedene Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Informationsmanipulation muss endlich als eine vorrangige Frage nationaler Sicherheit behandelt werden.“

Und das hat auch mit einer notwendigen Regulation der IT-Giganten zu tun, die westliche Gesellschaften regelrecht fragmentiert haben. Während sie die Arbeit seriöser Medien geradezu unterminierten. Aber ohne eine sachorientierte öffentliche Berichterstattung, an der alle Teil haben, funktioniert keine Demokratie. Stattdessen verschwinden die Menschen in abgeschotteten Meinungswelten und die dringend notwendige Fähigkeit, sich über die Wirklichkeit miteinander zu verständigen, verschwindet.

Und wen die großen Zahlen von Bots und Propaganda-Kampagnen irritieren, für den skizzieren die beiden Autoren im Kapitel „Die Akteure – eine Krake, viele Tentakel“ das riesige Netzwerk, das der Kreml geschaffen hat, um die westlichen Staaten permanent mit Desinformation zu fluten.

Oft völlig widersprüchliche Geschichten, die aber alle ein Ziel haben: Das Misstrauen in die Demokratie und das Funktionieren ihrer Staaten tief in den Köpfen der Bürger zu verankern. Menschen, die derart verunsichert sind, sind leichte Opfer, für jede Art von Manipulation.

Arndt Freytag von Loringhoven, Leon Erlenhorst „Putins Angriff auf Deutschland“ Econ Verlag, Berlin 2024, 24,99 Euro.

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