Es ist ein Trumm von Buch geworden, 100 Seiten dicker als die beiden Vorgänger-Bände von #nichtgesellschaftsfähig. Was auch daran liegt, dass die Musik keine heile Welt ist. Und das Leben vieler Musikerinnen und Musiker erst recht nicht. Obwohl man sie liebt, manchmal anbetet, ihre Musik immer wieder auflegt. Aber gute Musik gibt es nicht, wenn sie nicht von genau dem handelt, was Menschen im Leben umtreibt, jubeln und trauern lässt.
Fast zwei Jahre Arbeit stecken in diesem Band, für den Sandra Strauß und Schwarwel dutzende Musikerinnen und Musiker, Comic-Zeichner/-innen, Autoren, Journalisten angefragt haben. Die Resonanz war groß. Denn wenn man die Menschen erst einmal fragt, merkt man schnell, welch eine enorme Rolle die Musik in unserem Leben, für unsere Emotionen, unsere Gesundheit, unser Verhältnis zur Welt spielt. Erst recht, wenn man auch noch selbst Musiker ist und auf den Bühnen steht und merkt, welch ein Hexenkessel an Emotionen da aufkocht.
Und Hexenkessel beschreibt nun einmal nicht nur, was die Zuschauer/-innen unten im Saal erleben – oft eine Höllenfahrt der Begeisterung, eine Entfesselung von den Banden des Alltags, die endlich auch einmal jenen Teil unseres Innenlebens erlebbar macht, den wir sonst meistens unterdrücken. Sondern erst recht oben auf der Bühne. Und da geht es nicht nur um die Texte der Lieder, die oft genug ans Eingemachte gehen. Denn auf die Bühne geht man eigentlich, wenn man wirklich etwas Elementares übers eigene Menschsein zu sagen hat.
Die unsichtbaren Härten des Musikgeschäfts
Und das haben die viele interviewten Künstler/-innen in diesem Band. Meist aufs engste verwoben mit den eigenen Erfahrungen mit Krankheiten, Überforderungen, Ausgebranntsein. Aber nicht nur darum geht es in den Fragen, die die Interviewten sehr ausführlich beantwortet haben – eben weil augenscheinlich überhaupt jemand zum ersten Mal nach so etwas fragte.
Denn auch der Musikbetrieb geht an die Substanz. Der Erfolgsdruck ist immens, erst recht, wenn man tatsächlich einen dauerhaften Platz auf den Spielplänen der Arenen haben will. Tourneen sind regelrechte Logistikunternehmungen, die dem Backstage-Personal ebenso viel abverlangen wie den Künstlern.
Und schon ist man mittendrin in den Heldenlegenden des Musikbusiness, wie sie noch vor wenigen Jahren unhinterfragt kolportiert wurden. Da gehörten Sex, Drugs und Leben im Exzess gerade zum Bild angehimmelter und gefeierte Künstler. Wer wirklich was drauf hatte, starb früh. Aber warum die Berühmten so früh starben und warum sie in Sucht und psychischem Knockout landeten, das hinterfragten die großen Musikmagazine jahrelang nicht.
Dazu brauchte es erst einige wirklich erschreckende Todesfälle und die folgenden Diskussionen, die deutlich machten, unter welchem enormem Leistungsdruck die Sängerinnen und Sänger und ihre Kolleg/-innen an den Instrumenten stehen. Und es brauchte Musiker/-innen, die diese Selbstzerstörung für sich beendeten und lieber ausstiegen. Und auch darüber redeten.
Wobei im Buch eben auch die Geschichten stecken von jenen Musiker/-innen, die sich zwar dem Erwartungsdruck der großen Verwertungsmaschine widersetzten – aber trotzdem litten und unter dem psychischen Druck zusammenbrachen, weil die vom Ruhm besessene Öffentlichkeit ihr Leiden nicht wahrnehmen und nicht akzeptieren wollte.
Der Soundtrack des Lebens
Auf einmal merkt man: Es geht in all diesen Schicksalen immer um Menschen, die eigentlich kein bisschen anders sind als wir hienieden, die wir uns ihre Songs auf die Kopfhörer knallen und mit ihnen träumen, jubeln, rasen, brüllen oder uns einfach wegtragen lassen, weil die Musik in uns alle Schleusen öffnet. Gern mit Heulen und Zähneklappern, Gänsehaut und dem Gefühl, jetzt einfach explodieren zu müssen. Was nicht nur an den hier vertretenen Musikstilen von Metal über Rock bis Punk liegt. Denn nicht nur bei Schwarwel tauchen auch die großen Klassiker wie Beethoven im „Soundtrack of my Life“ auf.
So einen Soundtrack hat jeder: eine ganze Liste mit Songs, die ein Leben geprägt haben und die das eigene Lebensgefühl auf den Punkt gebracht haben. Man identifiziert sich ja mit den Sängern und Sängerinnen. Nicht immer zu jeder Zeit gleichermaßen.
Gerade Schwarwel hat dem Buch eine richtig ausführliche Playlist beigegeben, in der er auch erklärt, in welchen Momenten welche Musik ihm am besten hilft, wann er sich geborgen fühlt darin und wann er davon mal eine größere Dosis braucht. Musik spiegelt letztlich die unendliche Vielfalt unseres Lebens. Auch wenn wir oft von Liedern hin und weg gerissen sind, die eigentlich eine völlig andere Geschichte erzählen. Da ist es dann oft einfach der Sound oder die Stimme der Sängerin, die uns umhauen und spüren lassen, dass es sich wirklich lohnt, das ganze wilde Leben anzunehmen.
Aber die Diskussionen um den Drogenmissbrauch hinter der Bühne, die Depressionen, die seelische Not, die auch viele weltberühmte Künstler belasten, haben eben auch andere Seiten des Musikbusiness überhaupt erst einmal öffentlich gemacht. Und dazu gehören natürlich auch die Missbrauchsgeschichten, die Bilder falscher, toxischer Männlichkeit, die sich in einigen Stilrichtungen regelrecht austobt, aber auch der Umgang mit den Frauen. Auf einmal hat auch diese Branche eine nur zu berechtigte #metoo-Debatte und erweist sich auch auf dieser Ebene als Spiegel der Gesellschaft.
Was treibt uns an?
Wobei die bewunderten Musiker/-innen ja auch eine Rolle für uns übernehmen: Sie singen von dem, was uns bewegt. Sie lassen stellvertretend für uns die Gefühle raus. Und oft genug haben sie auch ganz ähnliche Leidensgeschichten hinter sich und nehmen das gar nicht wahr, bis auch sie auf der Bühne an ihre Grenzen kommen. Denn die Frage wird ja hier zum Sound: Was treibt uns an? Was muss gesagt und gesungen werden, weil wir sonst daran ersticken?
Auf einmal merkt man, dass Musiker und Comic-Zeichner ganz ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Denn wenn es nichts gibt, was wir endlich, endlich ausdrücken müssen, dann haben wir auch keinen Stoff für unsere Kunst. Oder es wird langweiliger Schlagerbrei draus.
Man versteht schon, warum die härteren Musikstile auch in diesem Band dominieren – die ja alle im20. Jahrhundert aus Aufschrei und Protest gegen eine verkniffene, oberflächliche und vertuschende Wirklichkeit entstanden sind. Und jedes Mal härter und heftiger wurden, je mehr die konsumierende Musikwelt die neuen Stile aufsaugte und vermarktete. Was dann eben auch all jene Musiker zu „Marken“ machte, die ausgerechnet gegen das Vermarktetwerden ansangen.
Was dann besonders schräg wird, wenn die rebellischen Songs von politischen Clowns wie Donald Trump für ihre Wahlkampfauftritte missbraucht werden. Ein Phänomen, das viele Künstler richtig wütend macht – denn ihre Songs sind ja nicht nur nächtens hingeträllerte Lieder, es sind auch sehr persönliche Botschaften. Oft sehr persönliche Erfahrungen, die die Anhänger oft gar nicht kennen.
Denn man hört ja seine eigene Story in die Lieder hinein. Und das heißt eben auch oft: das eigene Verlorensein in einer Welt, in der man irgendwie nicht passt, nicht dazu gehört, nicht gesellschaftsfähig sein soll. Einer von Normen und Erwartungen erstarrten Welt, die Anpassung und Leistung verlangt, aber für die Schwächen und Verletzungen des Einzelnen keinen Nerv hat. Funktionieren ist alles.
Lebensbegleiterin Musik
Auch darin begegnen sich Musiker und ihr Publikum. Und das Rollenspiel hört auch nicht auf, wenn wirklich ambitionierte Künstler/-innen auf die Bühne gehen und mit ihrer Band auch Erfolge feiern. Denn auch sie erleben immer wieder, wie starr die alten Rollenbilder sind, wie die Erwartungen anderer Leute auf einmal ihr Leben bestimmen und wie sie sich diesem Druck unbewusst anpassen – bis es kracht, die Psyche in die Knie geht und sie, wenn sie munter genug sind, gerade noch den Absprung schaffen und sich der Erwartungshölle entziehen.
Und so steht beim Thema Musik die ganze Bandbreite all der Leiden und Belastungen ebenso im Raum, denen man schon in den beiden vorhergehenden Bänden #nichtgesellschaftsfähig begegnet ist. Angereichert um Exkurse in einzelne Musikrichtungen und die jüngere Musikgeschichte, um Porträts berühmter Musiker, die die rasende Fahrt nicht abbremsen konnten.
Aber es gibt auch Exkurse in Comic und Film, zu den Themen Tod und Trauer, die ja bekanntlich einige Musikrichtungen dominieren, aber eben auch zum Thema Musik und Drogen – oder ob man die überhaupt braucht, um endlich mal Zugang zu seinen verschlossenen Gefühlen zu finden. Oder ob die nicht eher den Absturz beschleunigen.
Denn die Frage steht ja: Warum ausgerechnet im Musikbusiness das Verbrennen derart gefeiert wird und Musikerinnen lieber auf ihre mentale Gesundheit verzichten, als auf den möglicherweise gar nicht so hilfreichen Ruhm auf der Bühne.
Ein weites Thema, das dann gerade in den „Soundtracks of my Life“ zeigt, wie Musik für die Interviewten selbst zum Lebensbegleiter wurde. Bei manchen mehr, bei anderen weniger. Denn wenn man sich wirklich auf Musik einlässt, kann einen das völlig aus der Situation kippen. Da hört man eben seine Lieblingssongs eben doch nicht beim Arbeiten, sondern lieber danach im Sessel, wen man wirklich mal mit allen Sinnen wegtauchen kann und gern auch fliegen.
Oder richtig sauer werden, wenn man in den Songs dieselbe Wut entdeckt, die einen auch schon am Tag beschäftigt – etwa über die dumme, hirnrissige Zerstörung unserer Welt, die erstaunlicherweise auch schon dutzende Bands und starke Songs thematisiert haben.
Also darf auch über Trauer, Wut und Einsamkeit gesungen und gesprochen werden. Über Identität und Gesellschaft sowieso, denn das kommt in der Musik ja immer zusammen. Sie spiegelt uns und unser Leben in dieser Welt, mit allen Schrammen, Abgründen und gescheiterten Hoffnungen. Und am Ende hat man einen Schrank voller Schallplatten und CDs oder eine fette Playlist auf dem Handy und hat bei den wichtigsten Songs immer das umwerfende Gefühl, dass es da noch andere Leute gibt, die es genauso heftig erwischt hat wie einen selbst.
Denn letztlich ähneln sich unsere Leben – nur dass die einen das hinter bunten Schlagerblasen verstecken und die anderen ihre Betroffenheit über Tod, Trauer und Verlust rauslassen in Liedern, die das ganze wilde Leben in ein paar genauen Zeilen und mitreißenden Riffs auf den Punkt bringen.
Sandra Strauß und Schwarwel (Hrsg.) „#nichtgesellschaftsfähig. Musik, Psyche, Identität und Gesellschaft“, Glücklicher Montag, Leipzig 2024, 34,90 Euro.
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