Auf den ersten Blick erscheint es seltsam: Wie kann das sein, dass wir auch heute noch unter den Traumata unserer Eltern und Großeltern leiden können? Ist das nicht ein bisschen esoterisch? Aber wenn man mit Sven Rohde Stück für Stück eintaucht in diese „Gefühlserbschaften“, merkt man: Klar, es ist nur allzu folgerichtig. Gerade dann, wenn die Elterngeneration schweigt, gibt sie die seelischen Belastungen weiter an die Kinder.

Und mittlerweile auch an die Enkel. Und alle wissen es, dass die Deutschen im 20. Jahrhundert etwas erlebt haben, was Millionen von ihnen zutiefst traumatisiert hat: das Nazireich mit all seinen Verbrechen und dem mörderischen Krieg, der auch eigentlich friedliebende Menschen zu Mördern gemacht hat. Jeder Krieg erzeugt Traumata, die die seelischen Grenzen der Betroffenen weit überschreiten, Erlebnisse, die so schlimm sind, dass man sie tief im Inneren verschließt.

Aber mit dem Krieg endete es ja nicht. Millionen erlebten auch noch Flucht und Vertreibung, verloren ihre sicher geglaubte Heimat. Andere erlebten die Bombardements und Zerstörung ihrer Städte mit. Hunderttausende Frauen auch noch Vergewaltigungen durch die Alliierten. Wer das ganze Panorama dieser seelischen Kriegsfolgen aufmacht, merkt, dass es eigentlich keine Familie in Deutschland gibt, die nicht von der einen oder anderen Form der Traumatisierung betroffen war. Und vom Schweigen.

Von den Überfallenen und den Opfern des Nazi-Regimes muss man da gar nicht erst reden. Sie werden aber in Rhodes Buch nur am Rande gestreift, denn ihm geht es ganz speziell um die Deutschen, die auch deshalb jahrzehntelang lieber schwiegen und eine gründliche Aufarbeitung des Nazireiches verhinderten, weil Millionen von ihnen sich eben auch schuldig gemacht haben, viele wurden zu Mördern, hatten Funktionen in der Nazi-Hierarchie und der Vernichtungsmaschinerie.

Oder waren bei Erschießungen, Brandschatzungen, „Racheaktionen“ dabei. Lauter Dinge, auf denen nach dem Krieg ein großes Tabu lag – oft genug bis heute liegt.

Verdrängen und Vergessen

Denn nichts wollten die meisten Deutschen nach dem Krieg so sehr, wie den Anschein von Normalität und die neue Erzählung, mit der verbrecherischen Nazi-Clique nichts zu tun gehabt zu haben. Man habe ja nur gehorcht, Befehle ausgeführt und sich ansonsten nicht schuldig gemacht. Aber das, was nicht ausgesprochen wurde, das war ja trotzdem da. Davon erzählen nicht nur alte Koffer mit Erinnerungsstücken auf dem Boden. Davon erzählten auch die Traumatisierten, gerade dann, wenn sie den Mantel des Schweigens darüber legten.

Nur weiß die moderne Psychologie längst, dass Nicht-Kommunizieren nicht funktioniert. Menschen kommunizieren immer, auch wenn sie nicht darüber reden. Die Erfahrungen des Schlimmsten, was Menschen erleben können, prägte das Verhalten der Betroffenen.

Mit ihrem Verhalten gaben sie die Botschaft weiter. Ganz zu schweigen von den Erziehungsprinzipien eines brutalen Regimes, das Kinder allein als Verfügungsmasse für künftige Kriege betrachtete und Erziehung dementsprechend als Verhärtung, Gefühllosigkeit, Disziplin und Selbstverzicht vermittelte.

Das von faschistischer Moral geprägte Erziehungsbuch „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ von Johanna Haarer prägte die Erziehung gerade in Westdeutschland noch über Jahrzehnte nach dem Krieg. Stichwort: Schwarze Erziehung. Oder, um mit Alice Miller zu sprechen: „Du sollst nicht fühlen.”

Doch Menschen fühlen immer, auch wenn sie glauben, nur zu gehorchen. Je schlimmer all das ist, was sie erleben, umso tiefer verschließen sie es in sich. Erst recht, wenn es schuld- und schambelastet ist. Wenn damit ihr eigenes Selbstbild infrage gestellt wird. Und das betraf nicht nur die Täter und Opfer des Nazireiches und des Krieges. Das betraf eben auch ihre Kinder, die Flucht und Bombenterror ja auch erlebten.

Oder dann ihre zurückkehrenden Väter erlebten, die über das Grauen ihrer Kriegserlebnisse nicht sprechen konnten, bestenfalls ein paar Kriegsanekdoten erzählten, aber über die Stunden ihrer Verzweiflung und ihres Entsetzens nicht sprechen konnten. Gar über die Momente der Schuld.

Die Schatten der Vergangenheit

Aber wenn Eltern so mit dem Belasteten umgehen, dann prägt das eben doch ihren Umgang mit den Kindern, dann ist das Entsetzen eben doch präsent – im Schweigen, in unverstandenen Verhaltensweise, in Abwehr, Härte, Gefühlskälte. Denn um Liebe zeigen zu können, muss man sich selbst lieben können. Und das war Millionen Deutschen nach diesem Krieg nicht gegeben.

äUnd wenn dann auch noch das Schweigen der Täter hinzukam, bekamen die Kinder eine zusätzliche Last aufgebürdet. In unterschiedlichster Form. Viele leiden ein Leben lang unter Symptomen, die sie nicht einordnen können, haben gewaltige Schwierigkeiten, stabile Verbindungen einzugehen, bekommen Depressionen und wissen nicht, warum. Oder flüchten sich – wie ihre Eltern – in Leistungsstress und Disziplin, damit das Unausgesprochene ihnen nicht den Boden unter den Füßen wegzieht.

Und so ging es auch Sven Rohde, der lange Zeit als Journalist auch über psychologische Themen schrieb, der aber mitten in der Arbeit als erfolgreicher Journalist selbst erlebte, wie ihn die unausgesprochene Geschichte seiner Familie einholte und in tiefste seelische Nöte stürzte. Ohne dass er wusste, woher das kam. Das war der Beginn seiner Suche nach der Kriegsgeschichte seiner Familie – und der Beginn einer neuen Laufbahn als Coach.

Die Suche nach den Wurzeln des familiären Traumas führte ihn bis zum Grab seines Onkels – des Zwillingsbruders seines Vaters, der an der Blockade von Leningrad beteiligt war und dort starb, während sein Vater, de ebenfalls diese Aushungerblockade mitmachte, nur seinen Unterarm verlor.

Doch was hat der Verlust seines Zwillingsbruders in ihm angerichtet? Was diese grausame Belagerung, mit der Leningrad ausgehungert werden sollte? Eines der größten Kriegsverbrechen der Wehrmacht, bei dem über 1 Million Leningrader verhungerten.

Das verschwiegene Entsetzen

Die Beschäftigung mit der eigenen Familiengeschichte machte Rohde klar, dass es in vielen anderen Familien ganz genauso gewesen sein muss. Man redete nicht übe das Entsetzliche, was man erlebt hatte – oft auch, um die Kinder zu schonen. Und gab gerade deshalb das Trauma weiter. Was anhand der Kriegskindergeneration mittlerweile gut erforscht ist. Dass auch die Enkel das Trauma vererbt bekommen, wenn es in der Familie nicht aufgearbeitet wurde, das ist mittlerweile auch Forschungsgegenstand.

Denn das Grauen bleibt ja auch deshalb unter der Decke, weil es gesellschaftlich als nicht opportun galt und gilt, darüber zu sprechen. Das galt ganz besonders für die ersten Nachkriegsjahre. Erst die 1968er sorgten wirklich dafür, dass das Thema der Schuld öffentlich wurde. Der 1979 ausgestrahlte Film „Holocaust” war wie eine Erlösung für Millionen Bundesbürger, weil er das schlimmste Verbrechen der NS-Zeit erzählbar machte und viele Menschen endlich dazu brachte, ihr Schweigen zu brechen, die Scham, die Schuld und die Trauer zuzulassen.

Und damit fühlen zu dürfen, was die Eltern und Großeltern nicht zulassen durften – auch um des Überlebens willen.

Aber das ist nun einmal vor allem der westdeutsche Teil der Geschichte. Den ostdeutschen Teil streift Rohde nur ein paar Mal, denn hier hat es bis 1989 eine Aufarbeitung des NS-Reiches in der Form überhaupt nicht gegeben. Man hatte die NS-Zeit einfach abgespalten, sich zum antifaschistischen Staat erklärt und die Schuld am Hitlerregime einfach dem Westen überlassen. Und so war in der DDR „der Schmerz über die verlorenen Wurzeln öffentlich verboten“, schreibt Rohde in Bezug auf die Millionen Vertriebenen, die in der DDR Zuflucht gefunden hatten und dort nur „Umsiedler“ heißen durften.

Mitleid verboten

Was nicht ganz zufällig den heutigen Umgang mit Flüchtlingen berührt. Gerade weil Rohde dieses Thema nicht groß ausführt, merkt man eben doch, dass es fatal ist, wenn ein ganzer Landesteil über Jahrzehnte nicht den Mut und die Kraft findet, sich mit einem derartigen Trauma durch all die Erfahrungen im NS-Reich und im Krieg zu beschäftigen.

Wenn die eigene Fluchtgeschichte nicht thematisiert werden darf – wie geht man dann mit den Menschen um, die heute aus Krieg und Bürgerkrieg nach Deutschland fliehen? Wie soll man das Leid der Anderen wahrnehmen können, wenn die Großeltern und Eltern über das eigene Leid nicht sprechen durften?

Und wie will man sich den neuen Rattenfängern verweigern, wenn die eigene familiäre Tätergeschichte nie erzählt und begriffen werden durfte? Bis hin zur Frage: Wie leicht sind die Grenzen niederzureißen, die aus einem friedliebenden Menschen einen Mörder machen? Wie viel Schuld und Scham steckt da unter der Decke, weil auch nach 1990 nicht darüber geredet werden sollte? Im Gegenteil: Es musste ja wieder weitergehen – im Galopp bitte, ohne Tränen und Jammern. Zähne zusammenbeißen und durch. Hier wird nicht geklagt.

Mal ganz abgesehen davon, dass der wilde Galopp, in dem über die eigenen Verletzungen und Beschämungen nicht gesprochen werden sollte, wieder neue Traumata erzeugt. Die nächste Generation also, die schweigt. Und im Schweigen und Abwehren die einzige Chance sieht, das Bedrohliche von sich fernz halten. Man muss ja funktionieren und kann sich nicht erlauben, die kleinste Schwäche zu zeigen.

Die deutsche Leistungsgesellschaft ist nun einmal auch eine Verweigerungsgesellschaft. Trauerarbeit hat da keinen Platz. Also funktionieren alle, so gut es geht. Und wehren die belastenden Gefühle, die sich mit einer Beschäftigung mit der eigenen familiären Vergangenheit einstellen könnten, lieber ab. Teils mit Aggressivität und Unerbittlichkeit. Was dann der Nährboden für eine Partei ist, die aus Verleugnung und Verklärung wieder Politik macht. Opa war ja kein Nazi, wie so eine platte Formel lautet.

Die geerbten Gefühle

Rohde erläutert in seinem Buch, wie im Coaching und in der Therapie mit diesen familiären Traumata umgegangen wird, wie Menschen dabei oft erst eine Erklärung finden für eigene gesundheitliche Probleme, unverstandene Verletzungen und Prägungen im eigenen Leben. Kinder können gar nicht anders, als das Leid der eigenen Eltern zu spüren und sich selbst gemeint zu fühlen, wenn die Eltern lieblos oder irrational handeln.

Gefühle werden weitergegeben, auch wenn die Eltern darüber schweigen. Und auf einmal sitzen dann die Kriegsenkel in der Therapie und beschäftigen sich mit lebenslangen Gefühlen des Ungenügens, des Schuldigseins, der Angst vor Nähe und Vertrauen und bekommen so zumindest einen Zugang zu den Ursachen ihrer Gefühle. Was für viele Erleichterung bringt.

Das alles passiert nicht im luftleeren Raum. Es funktioniert nur, wenn man sich tatsächlich auf die Suche nach den familiären Erinnerungen macht. Was schwer genug ist, wenn sich die Familie aufs Schweigen geeinigt hat oder gar jedes Fragen unterbindet. Es könnte ja am guten Selbstbild kratzen, Schande über die Familie bringen, den lieben Großvater in ein falsches Licht stellen.

Obwohl es darum bei solchen Therapien nicht gehen sollte, sondern um Heilung. Heilung, die nur möglich ist, wenn man weiß, woher die eigenen Nöte und Ängste kommen, warum man auf einmal Panik hat in Situationen, die gar nicht bedrohlich sind. Oder warum man es einfach nicht schafft, liebevolle Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen. Was verdrängt man da, wenn des keine eigenen traumatischen Erfahrungen sind?

Die Last ungelöster Fragen

Und richtigerweise weist Rohde darauf hin, dass dieselben Erfahrungen eben auch alle anderen Menschen machen, die aus Kriegen nach Deutschland geflüchtet sind. Auch sie müssen sich mit den Gespenstern ihrer Vergangenheit und ihrer Familie herumschlagen und leiden genauso, wie die Millionen Deutschen, die das NS-Reich und den Krieg überlebt hatten.

Solche Katastrophen graben sich tief nicht nur ins gesellschaftliche Gedächtnis ein, sondern eben auch ins Familiäre. Und wenn die betroffene Kriegsgeneration darüber nie reden und trauern durfte, dann bleibt die Last bestehen und wird Generation um Generation weitergegeben – nonverbal oft, in abwehrenden Erziehungsmethoden, in Projektionen, in denen die Kinder dann auf einmal Rollen übernehmen (müssen), die gar nicht ihre eigenen sind.

Ein Buch, das seine Leser ganz bestimmt berühren wird. Denn das liest man ja nicht, wenn einem das Thema egal ist. Aber es dürfte manchen eine Tür zu den eigenen Erfahrungen öffnen und vielleicht sogar erste Antworten geben auf die Fragen, die viele ungelöst mit sich herumschleppen. Unsicher, warum sie im Leben das Gefühl haben, am falschen Platz zu sein, falsche Erwartungen zu erfüllen und immerzu nicht zu genügen, weil ihnen das genau so mitgegeben wurde.

Was auch der Gesellschaft nicht guttut. Denn dann steckt auch diese ja nach wie vor in Abwehr und Verleugnung fest, statt die nur zu berechtigte Trauer zuzulassen. Auch darüber, wie leicht ein Mensch zum Täter werden kann, wenn ein autoritäres Regime die Selbstverleugnung zur Norm für alle macht. Wer konnte da widerständig bleiben, sich verweigern, sich seine Menschlichkeit bewahren?

Da war es leichter, sich nach dem verlorenen Krieg selbst zum Opfer zu stilisieren und die Vergangenheit völlig abzuspalten, wegzusperren, als hätte es sie nie gegeben. Aber was nicht erzählt und nicht betrauert werden kann, das schwelt weiter. Das vererbt sich fort als unausgesprochenes Trauma. An dem auch die Enkel noch leiden.

Sven Rohde „Gefühlserben“ Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2024, 28 Euro.

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