Für Deutschland oder andere europäische Länder ist mir so eine Geschichte noch nicht untergekommen. Was nicht nur erschreckend ist, sondern auch verblüffend. Denn die Entdeckung, dass Frauen vollwertige Mitglieder unserer Gesellschaft sind,  ist ja so jung nicht mehr, auch wenn sich eine Menge Männer sträuben, diese Tatsache zur Kenntnis zu nehmen. Aber die alte Misogynie hat auch eine Seite, die man gar nicht bemerkt, wenn man nicht – wie die britische Historikerin Emma Southon – die Geschichte eines ganzen Reiches einmal konsequent gegen den männerdominierten Strich bürstet.

Denn dazu braucht man eigentlich nicht allzu viel Grips, um zu sehen, dass die gesamte Weltgeschichte zur Hälfte nun einmal weiblich ist. Ohne Frauen hätte es gar keine Geschichte gegeben, auch wenn die dicken Folianten der Geschichtsschreibung fast nur aus Männer zu bestehen scheinen: Königen und Kaisern, Generälen und Präsidenten, Entdeckern und Erfindern, Staatsmännern und Halunken.

All die Historienschreiber seit 2.500 Jahren hatten diesen geradezu langweiligen männlichen Blick auf Geschichte, der sich in Büchern und Kapiteln fast nur auf Heldentaten fokussierte – Schlachten und Putsche, Meuchelmördereien, Intrigen. Thronkämpfe, Eroberungen, Gemetzel und wieder Gemetzel. So etwas prägt nicht nur den Blick auf Geschichte, es verstellt ihn geradezu.

Und das Beklemmende daran ist: Das macht noch immer den größten Teil von Geschichtsschreibung aus. Kein Wunder, dass Emma Southon da lieber die akademische Welt verließ, um die Bücher zu schreiben, die ihr wirklich am Herzen lagen – gern auch gespickt mit wirklich schönen, herzhaften Kommentaren zur Kriegsbegeisterung und Schlachtenmalerei ihrer männlichen Historikerkollegen.

Wie sich Männer Geschichte erfinden

So auch wie dieses Buch, in dem sie eigentlich mit herrlich spitz und lebendig erzählten Biographien von Frauen (und nur Frauen) die komplette (offizielle) Geschichte des römischen Reiches auseinandernimmt – und auch nicht wieder zusammensetzt. Im Gegenteil. So manche berühmte Historien- und Redenschreiber, deren Sätze die armen Gymnasiasten der Kaiserzeit noch auswendig lernen mussten, steht hinterher bekleckert und entlarvt in der Weltgeschichte herum – von Cicero bis Tacitus. Die ganze Riege der Autoren, die 2.000 Jahre lang als das Maß aller Dinge galten und als Zeugen für das, was im Römische Reich tatsächlich geschah. Oder eben geschehen sein soll.

Denn da sich Emma Southon auch mit der ganzen original erhaltenen Literatur dieser Zeit – den berühmten Historien und Annalen genauso wie archäologisch ausgegrabenen Briefen, Mauer- und Grabinschriften – tatsächlich beschäftigt hat, kann sie auch mit fröhlicher Erzähllust zeigen, dass das Meiste, was diese Herren da erzählten, letztlich entweder Propaganda, Anbiederung an irgendeinen Kaiser, Verdrehung der Tatsachen oder einfach nur Gehörtes aus zweiter, dritter Hand war.

Selten waren die heute so Berühmten selbst dabei. Und wenn sie erzählten, hatten sie meistens eine Absicht – nämlich römische Geschichte so zu schreiben, dass sie den gerade regierenden Kaisern vielleicht gefallen könnte, auf jeden Fall so, dass sie die gerade gültige Selbsterzählung der (männlichen) römischen Elite bediente.

Worauf Emma Southon auch nicht müde wird zu verweisen: Dass die meisten Geschichten über die Römer, die bis heute überdauert haben, Geschichten von Mitgliedern der römischen Elite für eben diese Elite waren. Das gemeine Volk – nebst den vielen Sklaven – kam darin gar nicht oder bestenfalls am Rande vor, wenn man es für dramatische Effekte mal brauchte. Und von Frauen erst recht zu schweigen.

Und das geht gleich ganz am Anfang los, als Romolus Remus erschlug und dann mit einem Haufen von mehr oder weniger Landlosen und Outlaws die Stadt Rom gründete. Aber da das nun einmal alles Schlagetots und Haudraufs waren, hatten sie ein Problem: Sie hatten keine Frauen. Und jeder, der eine Stadt gründet , weiß, dass eine Stadt ohne Frauen keine Zukunft hat.

Also inszenierten sie den bis heute wie eine Anekdote erzählten Raub der Sabinerinnen, mit dem sie dann jenen Kern der Stadtgesellschaft begründeten, aus dem dann die über Jahrhunderte dominierende kleine und stinkreiche römische Elite hervorging. Und die Raubtierphilosophie des Römischen Reiches.

Männermoral und Sitte

Das heißt: Die Geschichte des Römischen Reiches verschwindet bei Emma Southon gar nicht. Aber sie bekommt endlich Farbe, Fleisch und Leben. Denn endlich sieht man den ganzen Aufruhr aus der Perspektive von Frauen. Und bekommt dazu noch die herrlich schnippischen Kommentare einer emanzipierten Frau von heute, die auch den männlichen Lesern unter die Nase reibt, was all die männlichen „Heldentaten“  eigentlich für die Frauen bedeuteten. Die auch im damaligen Rom keine Heimchen am Herd waren, auch wenn einem das heutige Konservative nur zu gern wieder mal als neuestes Vorbild für die „richtige Familie“ zu verkaufen versuchen.

Es ist ja nicht so, dass ein Jahrtausend römischer Frauenmissachtung in der folgenden (zumeist christlichen) Geschichte keine Folgen gehabt hätte und den Sittenpredigern des alten Rom nicht ganze Wagenladungen von moralpredigenden Päpsten, Bischöfen, „Heiligen“, Professoren, Kanzlern und Sauertöpfen gefolgt wären, die dem Volke ein Sittenbild anpriesen, dem man schon bei den berühmten Sittlichkeitsphilosophen des alten Rom begegnet.

Es steckt eine Frauenverachtung drin, die man für gewöhnlich überliest, weil man den alten Herren ja ein gewisses Alter zugesteht. Aber wenn Emma Southon diese Positionen dann etwas deutlicher herausarbeitet, merkt man: Diese Art „sittlicher“ Haltung war auch damals schon misogyn, dumm und einfältig. Was eigentlich ein Beweis dafür wäre, wie lange Männer brauchen, um etwas so Offensichtliches zu begreifen.

Wozu man eben auch konsequent mit Emma Southon in die Lebenswelt jener Frauen eintauchen sollte, kann und mit diesen Buch auch wirklich darf, die damals eben nicht nur römische Geschichte erlitten, sondern – wie Tanaquil, Clodia, Cartimandua und Boudicca, Zenobia oder Galla Placida, um nur einige zu nennen – auch selbst gestalteten. Mal als Königin, mal als Kaisermacherin.

So nebenbei erfährt man (was so in gewöhnlichen Geschichtsbüchern eben nicht steht), was dieses Römische Reich eigentlich über all die Zeit im Inneren tatsächlich zusammenhielt – abgesehen von den Herren Generälen, die fortwährend irgendwelche Kriege führten und irgendwelche Völker unterjochten. Und das hat nun einmal mit den Vorstellungen von  Sitte und Moral zu tun. Die uns so fremd gar nicht sind, denn das hat auch alle späteren Reiche geprägt, nachdem Goten und Hunnen das Alte Rom erst einmal filetiert hatten.

Die Unsichtbaren

Aber Emma Southon belässt es nicht bei den Frauen aus den reichen und privilegierten Familien, auch wenn ihr sehr bewusst ist, dass über die Millionen Frauen, die tatsächlich in diesem riesigen Reich lebten, Familien gründeten, Kinder bekamen und in der Regel hart arbeiten mussten, so gut wie nichts in den alte Annalen zu finden ist. Das interessierte die Herren Historienschreiber einfach nicht, allesamt in der Regel reiche Männer, die sich von versklavten Menschen bedienen ließen.

Aber es gab sie, all die Millionen Menschen, die nie zur reichen und mächtigen Elite Roms gehörten, das ganze Reich aber am Laufen hielten. Und jeder zweite Mensch aus dieser Gruppe war weiblich. Und zumindest bei Emma Southon schlägt das Historikerinnenherz höher, wenn archäologische Funde diese Frauen überhaupt erst einmal sichtbar machen. Und damit einen winzigen Ausschnitt des ganz gewöhnlichen (und trotzdem aufregenden) Alltags jener Frauen zeigen, die – oft genug weitab von der Metropole Rom – ihr Leben führten.

Beispielhaft Iulia Felix, die „Geschäftsfrau aus Pompeji“, deren Lebenswerk erst sichtbar wurde, als ihr großes Haus in Pompeji ausgegraben wurde – eine Art Freizeitoase für alle Pompejer, die es sich leisten konnten, bei Iulia Felix einzukehren.

Oder man nehme Sulpuicia Lepidina, die „First Lady des Stützpunkts“, mit der gleich reihenweise die Legenden zum Platzen gebracht werden, das Söldnerdasein im römische Heer wäre ein allein Männern vorbehaltenes gewesen. Anhand eines kleinen Kastells im britischen Norden zeigt Emma Southon, dass selbst der normale Lageralltag der römische Armee ohne Frauen und Kinder gar nicht denkbar war.

Aufmüpfige Frauen

Aber Emma Southon hat auch einen aufmerksamen Blick für jene Strategien, mit denen Frauen in den diversen Phasen der römischen Geschichte ihr Selbstbewusstsein und ihren Eigensinn deutlich machten – nicht nur als widerspenstige Kaisertöchter, denen das Schalten und Walten ihrer jeweiligen männlichen Vormünder zutiefst zuwider war. Muss man es extra betonen, dass Emma Southon in Bezug auf all die mehr oder weniger berühmten Kraftprotze auf römischen Thronen kein Blatt vor den Mund nimmt und deutlich sagt, was sie von diesen Knallchargen, Machos und Brutalisten hält?

Allein das schon macht tonnenweise heroisches Geschwafel aus vielen von Männern geschriebenen Beweihräucherungen wett: Widerlinge auf dem Thron bleiben Widerlinge, auch wenn ihre Hofpoeten lauter Weihrauch über ihre blutigen „Heldentaten“ auskippen.

Und so lernt man mit Iulia Balbilla auch eine Frau kennen, die eigentlich alles zugleich war: eine Königstochter im Ausland, Mitglied der römische Herrscherfamilie und Dichterin. Was wir niemals erfahren hätten, wenn sie nicht vier Gedichte in die Reste der „Memnonstatue“ in Theben hätte meißeln lassen – mit einem für kluge Archäologi/-innen unübersehbaren Hinweis auf ihre königliche Herkunft.

Und da ab dem dritten und vierten Jahrhundert das Christentum zusehends das ganze Reich erfasste und fortan vorwiegend Texte christlicher Autoren vom Lauf der Ereignisse erzählten, bekommen auch Frauen wie die Märtyrerin Perpetua oder die „heilige“ Melania ihren Platz unter den 21 Porträts, mit denen Emma Southon römische Frauen sichtbar macht. Frauen, die alles andere waren als „Heimchen am Herd“. Und auch diese von der jungen monotheistischen Religion bewegten Frauen lassen immer wieder ein Stück ihre Alltags, ihrer ganz normalen römischen Lebenswelt sichtbar werden.

Und – viel klarer als in den Arbeiten vieler männlicher Historiker – wird hier auch sichtbar, warum das frühe Christentum für die römische Elite derart gefährlich schien, dass sie die bekennenden Christen und Christinnen in Scharen in die Arenen brachten und einen der wirklich fürchterlichen römischen Märtyrertode sterben ließen. Auch junge Frauen und Mütter, was selbst den Männern, die abgeordnet waren, die Tötung zu vollziehen, manchmal völlig zuwider war. Und so merkt man ganz nebenbei, wie auch schon die Römer die heute von etlichen finsteren Herren geübte Sportart der Ausgrenzung, Erniedrigung und Entmenschlichung beherrschten.

Der andere Teil der Geschichte

Wahrscheinlich muss man gerade deshalb Geschichte so konsequent mit dem weiblichen Blick betrachten, wie es Emma Southon hier tut. Denn die weibliche Sicht ist bis heute fast immer nicht nur die Sicht der Schwächeren, die zu allen Zeiten unter der Gewalttätigkeit und Herrschsucht gefühlloser Männer gelitten haben. Es ist auch die Sicht derjenigen, die sich um die ganzen so unwichtigen Kleinigkeiten kümmerten wie das Kinderkriegen, die saubere Toga für den Herrn, das Putzen der schönen Mosaikböden, das besorgen der Zutaten für das Festessen, sauberes Geschirr, frische Wäsche usw.

Wenn dann Frauen wütend auf die Straße gingen und gegen einen neuen männlichen Einfall demonstrierten – und das taten sie auch schon im alten Rom -, dann wusste man auch damals, dass die Herren an der Spitze mal wieder gröbsten Blödsinn zustande gebracht hatten. Und wieder einmal nur die schrägen Launen ihrer eigenen kleinen privilegierten Welt gesehen haben – und nicht die Nöte all der Millionen mehr oder weniger Rechtlosen, die das Riesenreich am Laufen hielten – aber in den fetten Historien-Schinken nicht mal am Rande erwähnt wurden, auch nicht die Frauen, obwohl jeder Einzelne dieser bis heute berühmten Autoren garantiert von mindestens einer Frau umsorgt wurde. Eher von mehreren, die meisten davon versklavt.

Höchste Zeit also, diese ganze römische Geschichte endlich komplett gegen den Strich zu bürsten. Und diese 21 Schicksale sind nicht die einzigen, die erzählt werden könnten, versichert Emma Southon. Es gebe da noch dutzende mehr, die man finden kann, wenn man sucht und den Herren Historikern nicht alles glaubt, was sie mit gelernter Unaufmerksamkeit bis heute erzählen.

Emma Southon „Eine Geschichte des Römischen Reiches in 21 Frauen“, Aufbau Verlag, Berlin 2024, 28 Euro

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