Oświęcim ist eine kleine Stadt in Südpolen. Eine Stadt, die man auch einfach als Freund und Künstler immer wieder besuchen kann, ohne das Lager vor den Toren der Stadt zu besuchen. Auch wenn es Dieter Kalka dann doch irgendwann tut, mit entsprechend bedrückenden Gefühlen. Denn das, was autoritäre Regime anrichten mit Menschen, das hat ihn schon in DDR- und NVA-Zeiten in die Depression getrieben. Entsprechend fürchtete er sich auch vor dem Besuch im einst berüchtigtsten Vernichtungslager.

Aber es geht in diesem Büchlein mit sehr persönlichen Annäherungen nicht nur um Auschwitz. Denn die bedrückende Wirkung dieser Lager kannte Kalka auch schon – etwa von einem Besuch in Buchenwald. Dass nun immer drängender auch Auschwitz in den Vordergrund rückte, hat auch mit Agnieszka zu tun und ihrer Großmutter, die das Lager überlebt hat. Jetzt aber – Jahrzehnte später – liegt sie im Sterben. Und Agnieszka will Gewissheit haben. Die es nur im Lager geben kann als Eintrag im Häftlingsbuch.

Und Oświęcim war für Dieter Kalka schon Jahre zuvor ein Ort, den er immer wieder besuchte. Denn dort hat er Freunde – etwa den Bildhauer Remigiusz, der ihm – wie auch andere Bekannte – immer wieder deutlich macht: Oświęcim ist eine polnische Stadt. Sie ist mit dem Todeslager der Nazis nicht identisch. Hier leben Menschen, hier findet auch Kalka immer wieder offene Türen.

Hier lernt er auch Halina Koziol kennen, deren Bilder den kleinen Band bereichern. Mit Polen verbindet ihn sowieso eine intensive Beziehung. Worin er sich von so vielen Deutschen unterscheidet, für die das Land jenseits der Oder irgendwie Niemandsland ist, nicht wahrnehmenswert.

Vielleicht auch, weil das schlechte Gewissen tief sitzt. Denn hier begegnen sich – wenn sie sich begegnen – die Nachfahren von Tätern und Opfern. Man könnte zueinander finden. Man könnte sich auch der alten Vorurteile bewusst werden, die nie ausgeräumt wurden. Und nicht ausgeräumt werden, wenn immer wieder die Feiglinge und Großmäuler daherkommen und einen Strich unter die Geschichte ziehen wollen. Was letztlich nur heißt: Sich nicht verantwortlich fühlen zu wollen, feige der eigenen Betroffenheit davonzulaufen.

Städtchen, in denen Menschen leben

So deutlich wird Kalka in der Formulierung natürlich nicht. Er schreibt aus persönlicher Betroffenheit. Auch in den kleinen Kapiteln zu den Besuchen Nr. 6 und zu Nr. 11, in denen er dann tatsächlich das Lager Auschwitz besucht. Es liegt ja – so wie Buchenwald bei Weimar – nur einen Spaziergang entfernt von der Stadt. „Es gehört zu meiner Biografie, schon immer, ob ich nun will oder nicht. Buchenwald. Meuselwitz. Majdanek. Auschwitz. Birkenau. Schöne Ortsnamen. Einer wie der andere. Die Orte sind besudelt, müsste man meinen.“

Doch in den kleinen Städten bei den Lagern geht das Leben weiter. Wird geliebt, getanzt, getrunken. Wobei die Entdeckung, dass in Meuselwitz einst eines der berüchtigten Außenlager von Buchenwald stand, den jungen Kalka einst erschüttert hat, als er es entdeckte. Noch bis vor kurzem standen die Baracken, in denen sich nach dem Ende des Nazireiches die Bewohner ein provisorisches Zuhause geschaffen haben – das dann über 60 Jahre stehen blieb. Während die Geschichte der Zwangsarbeiter/-innen, die bei der HASAG Granaten drehen mussten, fast vergessen war. Bis sie in letzter Zeit endlich aufgearbeitet wurde.

Die Bewohner in den schönen Orten hatten es immer vor Augen, was in den Lagern geschah. Nichts gewusst zu haben, war immer nur eine Ausrede.

Aber Kalka will nicht mahnen. Er will etwas anderes zeigen: Dass man die Vergangenheit nämlich nicht ungeschehen macht, wenn man sie verdrängt. Dass man aber deren Brüche überwinden kann. Was gerade den rebellischen Bewohnern der einstigen DDR, zu denen er ja gehörte, sogar ein wesentliches Anliegen war. Das Stichwort kommt in diesem Büchlein auch vor: Solidarność.

Die Bürgerrechtsbewegung der DDR hatte viele Kontakte zur Solidarność in Polen. Manche dieser Freundschaften sind bis heute lebendig. Und zeigen: Auch hier haben die beiden Völker eine gemeinsame Geschichte, die man leben kann.

Die fremden Nachbarn

Am besten, man lernt auch noch die Sprache: Polnisch. So wie es Dieter Kalka getan hat, auch wenn er in der Arbeit an seinen Texten dann doch lieber auf den Rat von Agnieszka Haupe hörte, die korrigierend eingriff und die Texte dann auch ins Polnische übersetze. Sodass es ein zweisprachiges Büchlein geworden ist, grenzüberschreitend, wie Leben eigentlich sein kann, wenn man sich wirklich auf die anderen einlässt, die scheinbar so fremden Nachbarn, die immer vertrauter werden, je öfter man sie besucht und herzlich empfangen wird.

Erst recht, wenn einen die Kunst und die Musik verbinden. So wie ein altes Bandoneon, das sich auf einem polnischen Dachboden fand. Vielleicht das Instrument eines der deutschen Wächter, die im KZ Auschwitz beschäftigt waren. Geschichte hinterlässt oft Spuren, die sich nicht mehr enträtseln lassen. Aber eigentlich animiert sie gerade deshalb dazu, dass wir uns mit unserem Herkommen beschäftigen. Und mit Menschen wie Agnieszkas Großmutter Maria, die beide aber nicht mehr besuchen können, denn sie liegt im Sterben.

Immer wieder kreuzen sich die Spuren der beiden Reisenden mit dem Leben von Marias Großmutter. „Maria. Ich habe sie nie kennengelernt. Sie geisterte als unsichtbares Familienoberhaupt durch die Gespräche der Familie meiner polnischen Frau, und niemand wagte es, ein kritisches Wort über sie zu verlieren, weder die Schwiegergmutter noch der Schwiegervater, noch ihre Enkelin – meine Frau.“

Eine beeindruckende Großmutter. Die den Autor am Ende noch einmal überraschen wird. Denn zwei ihrer Kinder sind gar nicht von ihr. Und das war trotzdem nie ein Thema.

Manchmal streift uns das, was geschehen ist, nur zufällig, taucht als Beleg in den Hinterlassenschaften der Großmütter auf, die auch deshalb groß sind, weil sie den Familien eine Herkunft gegeben haben. Eine Wurzel in der Vergangenheit. Auch davon ist die Rede in diesen kleinen Annäherungen an Oświęcim, in denen Dieter Kalka auch ein Stück seiner Herkunft sucht.

Agnieszka Haupe/Dieter Kalka „Dreizehn Reisen nach Oświęcim/Auschwitz“ Edition Beulenspiegel, Lengenfeld/Vogtl. 2024, 10 Euro.

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