Heimatmuseen entstehen nicht von allein. Auch wenn es manchmal so aussieht. Sie sind nur scheinbar einfach da. Freundliche Damen und Herren stehen an der Kasse, zeigen, wo der Rundgang beginnt. Und dann spaziert man durch die meist nach Epochen gegliederten Räume, sieht etliche erstaunliche Sammelstücke aus fernen Zeiten, fragt sich aber selten, wer das eigentlich alles gesammelt hat. Und wieviel Arbeit und Mühe darin steckt.
Denn Lokalgeschichte ist – anders als in den großen Landesmuseen – in der Regel eine ganz und gar von örtlichem Engagement getragene Sache. Nicht erst heute. Auch in Torgau hat das eine rund 200 Jahre alte Tradition, begonnen in Zeiten, als sich erstmals zwei Dutzend Torgauer Bürger zusammentaten, die verstanden hatten, dass eine Stadt eben nicht nur eine Geschichte hat, sondern dass diese Geschichte auch erzählt werden muss. Das war der Beginn des ersten Altertumsvereins, der sich in Torgau gründete – und irgendwann doch wieder einschlief, weil den Beteiligten der lange Atem fehlte.
Weshalb es ein halbes Jahrhundert später einen zweiten Anlauf gab, der diesmal mehr Erfolg hatte. Wahrscheinlich auch im Rahmen der damals endlich entstehenden Nation, die auch das Bewusstsein für die eigene Geschichte im ganzen deutschen Reich erweckte. Überall gründeten sich Altertumsvereine und begannen zu sammeln, was es vor Ort, in Kellern und auf Dachböden noch an Erinnerungstücken zur eigenen Ortsgeschichte gibt. So auch in Torgau 1884.
Anfänge und Verluste
Dieses Buch versammelt diese Geschichte der Anfänge, zumeist in Originalbeiträgen der Männer und Frauen, die seinerzeit schon die Entstehung von Altertumsverein und Museum schilderten, die Schwierigkeiten, die erstaunlichen Sammelerfolge, die Suche nach einem Unterschlupf für die gesammelten Schätze – und die Rückschläge natürlich auch. Denn von der beeindruckenden Sammlung, die 1932 im Torgauer Stadtmuseum existierten und die im Schloss Hartenfels im Krieg eingelagert worden waren, ist fast nichts mehr erhalten. Die wertvolle Sammlung wurde geplündert. Nur wenige Sammelstücke – wie zwei Bildtafeln von Lucas Cranach – tauchten später bei einer Auktion wieder auf.
Und so stand auch den Aktiven in der Zeit nach dem Krieg die Aufgabe ins Haus, die Lücken irgendwie zu schließen und mit dem Sammeln erneut zu beginnen. Diesmal freilich unter den Bedingungen eines Staates, der vor allem die glorreiche Geschichte der Arbeiterbewegung erzählt haben wollte. Ein Spagat, der den Torgauer Heimatforschern nicht wirklich gefiel. Denn über diese tolle Arbeiterbewegungsgeschichte gab es nicht allzu viel zu erforschen. Und es interessierte auch die Besucher des Stadtmuseums nicht sonderlich. Dafür waren sie von den vielen Modellen und Tafeln begeistert, die den Reichtum Torgauer Geschichte eben ersatzweise auch ohne all die verschwundenen Ausstellungsstücke sichtbar machten.
Mehr als nur ein Haus
Der Band versammelt aber eben nicht nur die Beiträge all der Vereinsmitglieder und Museumsmacher, die seinerzeit über ihr Wirkungsfeld berichteten. Er stellt auch einige der prägenden Köpfe vor. Denn so ein lokales Engagement für die eigene Geschichte funktioniert nicht ohne Leute, die sich ein halbes Leben lang mit all ihrer Kraft dafür einsetzen – für die Sammlung, ihre historische Einordnung und Erforschung, aber auch die Suche nach dauerhaften und geeigneten Ausstellungsräumen.
Das gilt auch für den nach der „Wende“ neu gegründeten Geschichtsverein, der sich in direkter Tradition des einstigen Altertumsvereins sah. Und der das Wirkungsfeld noch deutlich über das seit 2005 an der Wintergrüne 5 zu findende Stadt- und Kulturgeschichtliche Museum hinaus ausgeweitet hat. Denn Torgau selbst ist ja gebaute Geschichte. Das beginnt schon mit der einstigen Kurfürstlichen Kanzlei, in der das Museum nach dem Auszug aus dem Schloss Hartenfels seine neue Heimstatt fand. Aber inzwischen sind auch weitere prägende Gebäude der Torgauer Geschichte liebevoll saniert worden und können auf einem großen Rundgang durch die Museen des Torgauer Geschichtsvereins besichtigt werden.
Diesen Rundgang schildert Kathrin Niese-Donix in diesem Band sehr ausführlich – eigentlich auch als eine geballte Einladung an alle geschichtsinteressierten Menschen, die Torgau besuchen. Denn nach der inzwischen wieder eindrucksvoll gestalteten Ausstellung im Stadtmuseum bietet sich ein Besuch in den anderen Häusern geradezu an – in der Katharina-Luther-Stube, dem Lapidarium im Schloss Hartenfels (wo man dann „nebenbei“ auch immer mal eine sächsische Landesausstellung besichtigen kann), im Braumuseum in der Fischerstraße 11, das an die einst berühmte Torgauer Bierbrauerei erinnert, im Bürgermeister-Ringenhain-Haus, im Handwerkerhaus (das auch die einstigen Wohnverhältnisse der ärmeren Torgauer erlebbar macht) oder im Priesterhaus, das die Lebenswelten von Johann Walther und Georg Spalatin thematisiert.
Torgauer Geschichte in Büchern
All diese Gebäude wurden in den vergangenen Jahren mit großem Aufwand möglichst authentisch restauriert. Und über jedes – siehe oben – hat der Geschichtsverein auch ein umfangreiches Buch veröffentlicht, das die Baugeschichte und die Geschichte der einstigen Bewohner erzählt. Alle diese Bücher sind Teil der anspruchsvollen Reihe der Schriften zur Torgauer Geschichte, die praktisch in jedem Band zeigt, wie profund lokale Geschichtsschreibung sein kann.
Darum dürfte so manch andere Stadt in Sachsen die Torgauer beneiden – und natürlich ihren Geschichtsverein, der mit diesem Band ja auch das eigene Bemühen würdigt, 1050 Jahre Torgauer Geschichte für Einwohner und Auswärtige erlebbar und damit auch begreifbar zu machen. Ein Festvortag von Jürgen Herzog zum 1050jährigen Jubiläum der Ersterwähnung ist im Band ebenfalls abgedruckt. Genauso wie die Beschreibungen früherer Rundgänge durch das Stadtmuseum, die im Kontrast zum heutigen Rundgang zeigen, wieviel sich seitdem auch in der Forschung getan hat – und wie sehr sich die Schwerpunkte in der Darstellung der Stadtgeschichte verschoben haben.
Was eben auch bedeutet: Der Rundgang ist spannender geworden und zeigt den Besuchern heute viel mehr von dem, was sie auch wirklich interessiert – bis in den Alltag der Torgauer in schwierigen und oft genug auch kriegerischen Zeiten hinein. Sodass dieses Buch im Grunde eine Summe all dessen ist, was die ambitionierten Mitglieder des Geschichtsvereins, private Bauherren, denen die gebaute Geschichte am Herzen lag, und auch die Beihilfe wichtiger staatlicher Subventionen in den vergangenen Jahren geschafft haben.
Es kann sich nicht nur sehen lassen – es verlockt geradezu zu einer Fahrt nach Torgau. Denn was die Torgauer selbst an der eigenen Geschichte fasziniert, beeindruckt auch die Gäste. Es ist anschaulich geworden, wovon die Mitglieder des Altertumsvereins vor 140 Jahren nur erst träumen konnten. Und das darf gezeigt werden – mit einem nur zu berechtigen Stolz.
Jürgen Herzog (Hrsg.) „Der Torgauer Geschichtsverein, seine Vorgänger und die Museen“, Sax-Verlag, Beucha und Markkleeberg 2024, 15 Euro
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